Rezension zu »Vergossene Milch« von Chico Buarque

Vergossene Milch

von


Belletristik · Fischer · · Gebunden · 208 S. · ISBN 9783100463319
Sprache: de · Herkunft: br

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Adel vernichtet

Rezension vom 27.10.2014 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Eulálio hat das biblische Alter von einhundert Jahren erreicht. Er ist der älteste noch lebende Spross der d'Assumpção, einer uralten Adelsfamilie, die maß­geb­lich an der Gestaltung Brasiliens durch die Jahrhun­derte beteiligt war. Von Generation zu Generation wurde der Vorname Eulálio weitervererbt, bis die Ge­burt einer Tochter diese Tradition unterbrach.

Unstandesgemäß in vielerlei Hinsicht liegt Eulálio in einem Krankenhaus in Rio de Janeiro. Das Hospital: verdreckt. Die Station: nicht einmal fähig, seinen Familiennamen richtig in seine Krankenakte einzutragen (er heißt doch nicht »Assunção«!). Der Raum: ein gewöhnliches Mehrbettzimmer. Seine Mitbewohner: un­gebildetes Volk, alle hinfällig, halbtaub, der eine querschnittsgelähmt, der andere verwirrt. Er selbst: in Win­deln gepackt, seinen Schmerzen überlassen, obwohl man sie doch mit Opiaten lindern könnte. Ver­mutlich hat ihn seine Tochter Dona Maria Eulália (auch schon achtzig Jahre alt) hier untergebracht. Wie gern würde er in ein traditionelles, von Nonnen geführtes Krankenhaus verlegt werden. Aber er ist arm wie eine Kir­chen­maus.

Dabei wuchs Eulálio in besten Verhältnissen auf. In seiner Kindheit trugen Straßen und Plätze die Namen der d'Assumpçãos. Der Vater, »ein bedeutender Politiker, Senator und Republikaner der ersten Stunde«, hat ein einnehmendes Händchen im Kaffee- und Waffenhandel und lässt in Botafogo eine großzügige Villa mit Marmorbädern, draußen am Fuß der Berge eine Fazenda mit reichem Acker- und Weideland und schließlich noch ein Chalet in Copacabana erbauen. Überall erledigt Hauspersonal die Arbeit, um die An­nehmlichkeiten der privilegierten Familie zu sichern. Bei den berühmt-berüchtigten Banketts in der Villa des Lebemannes begegnen sich die Politiker aller Couleur, die Haute-Volée und die attraktivsten Frauen der Stadt. Bei ausgiebigen Reisen nach Übersee bringt der Vater dem Sohn das wahre Leben nahe. Bei den Schiffspassagen nach Europa, den Unterkünften und den Vergnügungen wird an nichts gespart. Man wohnt in Paris im Ritz, fährt Ski im schweizerischen Crans-Montana, gönnt sich Kokain ...

Heute ist all das perdu. Die Villa: für einen Spottpreis als Botschaftsgebäude an die Dänen verkauft, bis sie nach Brasília umzogen. Die Fazenda: 1947 für den Bau einer Landstraße enteignet. Das Chalet: abgeris­sen; da steht heute ein Wolkenkratzer. Nach dem Tod des Vaters (war es ein politisch motiviertes Attentat oder eher die Rache eines gehörnten Ehemannes?), ging es mit den d'Assumpçãos abwärts.

Beim Begräbnis des Vaters lernt Eulálio seine Zukünftige kennen. Matilde singt im Chor das Requiem. Da­nach ist er kaum Herr seines heißen Begehrens zu dieser Frau mit »fast brauner Haut«. In einer Gesell­schaft, die arm und reich, schwarz und weiß streng separiert, verspricht das Schwierigkeiten. Keines der beiden Elternhäuser stimmt der Mesalliance zu.

Bis heute macht Eulálio sich und seiner Tochter etwas vor, warum Matilde nach ihrer Geburt kommentar­los aus dem Familienleben verschwand (im Kindbett gestorben? Ins Wasser gegangen? ...) Ihr Andenken hält er bis heute hoch, mystifiziert die über alles geliebte Frau wie eine Legende. Die Wahrheit ist aller­dings er­nüch­ternd und profan.

In letzter Zeit ist Eulálio unruhig. Gewiss hat man seine Medikamente durcheinandergebracht, Arsen in sein Essen gemischt. Warum muss der Fernseher mit den öden Telenovelas ständig laufen und der Ton immer lauter gestellt werden? Das Sprechen fällt ihm auch so schon schwer genug.

Und was er alles zu berichten weiß! Sein Ururgroßvater ist mit dem portugiesischen Königshof nach Bra­silien gekommen, er war der Vertraute von Königin Dona Maria, der Verrückten. Sein Großvater hat »am Tisch vom Kaiser Dom Pedro II. gegessen [und] mit Königin Victoria korrespondiert«.

Aber keiner der Anwesenden hat die mindeste Ahnung, wer jene Leute waren, und keiner interessiert sich für einen abgetakelten Prominenten von einst, zumal wenn er so zusammenhanglos daherbrabbelt wie Eulálio, der zwischen den Fragmenten seiner Vita und der seiner Ahnen hin und her springt und Fantasie und Realität vermischt, dass mancher glatt denkt, der Alte spinnt.

Solange der nörgelnde, kranke Greis wach ist, kreisen wirre Gedanken in seinem Kopf. In einem Dauer­monolog erzählt er mal von Matilde, mal von der glorreichen Vergangenheit seiner Ahnen, mal von deren Niedergang in der Generation der Enkel, Ur- und Ururenkel. Wobei man seine Angaben zur Generationen­folge nicht auf die Goldwaage legen darf. Auf den Gesamteindruck kommt es an, und der passt schon ir­gendwie. Sein »Gedächtnis ist ein wahres Chaos, aber es ist alles da ... Nur darf kein Außenstehender sich einmischen, wie ein Hausmädchen, das die Papiere wegräumt, um im Arbeitszimmer Staub zu wischen«.

Es lässt sich nicht verleugnen: Wir Leser sind die einzigen Zuhörer dieses bedauernswerten Erzählers. Der arme Mann mit dem reichen, aber unübersichtlichen Schatz an Erinnerungen wird in seiner letzten Lebens­phase allein gelassen. Vergebens wünscht er sich einen standesgemäßen Gesprächspartner, auch wenn ihm sein poröses Gehirn manches Schnippchen schlägt. Wenn er aktiv leben will, bleibt ihm nichts anderes, als in seiner eigenen, inneren Welt zu agieren, und nur auf dieser Ebene lesen wir.

Der schönen Krankenschwester von der Morgenschicht diktiert er seine Lebenserinnerungen, ganz distin­guierter Herr und Arbeitgeber, weist sie zu Sorgfalt an, damit ihm keine Rechtschreibfehler angelastet wer­den. An diese junge Frau mit den sanften Händen hat er sich immerhin gewöhnt, wenngleich ihre Aus­drucks­wei­se, Kleidung und Manieren schlicht sind (sie pfeift gern bei ihrer Arbeit). Er heckt gar euphori­sche Zu­kunfts­plä­ne mit ihr aus: »Wenn ich hier rauskomme, heiraten wir auf der Fazenda, dem Ort meiner glück­li­chen Kindheit.« Aber dann rücken wieder andere Pflegerinnen an, schusselige, die Medikamente um­kip­pen und ihm nicht zuhören, wie alle anderen auch ...

Manchmal besucht ihn Dona Maria Eulália an seiner Bettstatt. Die Tochter ist komisch und absonderlich geworden im Alter und unter dem Einfluss ihres Sohnes ... oder Enkels oder Urenkels – so genau kann Eulálios Gehirn die Vergangenheit nicht ordnen. Während »sich die jüngeren Leute irgendwie in meinem Kopf in einem Eckchen zusammendrängen« müssen, wird der Salon für die Alten immer größer.

»Leite Derramado« Chico Buarque: »Leite Derramado« bei Amazon von Chico Buarque und übersetzt von Karin von Schweder-Schreiner ist nicht die Krankengeschichte eines Dementen. Eulálio d'Assumpçãos Lebensgeschichte und seine Erzählungen spie­geln zwei Jahrhunderte der außerordentlich bewegten Geschichte Brasiliens wider, angefangen mit der Kolonialzeit um 1800, während der der Großvater zum Sklavenbaron aufstieg, über die Zeit der alten Re­pub­lik (1889-1930), als der dekadente Vater seine Leinenhemden zum Stärken und Bü­geln nach Europa schicken konnte, über die Diktatur des Getúlio Vargas (1930-1945) und die Militärdik­tatur (1964-1985) bis zur endlich demokratischen Gegenwart. Da ist die Familienreliquie, eine Peitsche, längst irgendwo in der Versenkung verschwunden. Ururururgroßvater Dom Eulálio erwarb »den aus Anti­lopenleder geflochtenen Riemen, die Lilie auf dem Griff«, in Florenz, »um damit Jesuiten zu züchtigen«, und noch Eulálios Vater hat sie auf seinem Sohn tanzen lassen; doch die heutige Brut ist damit nicht mehr zu formen. Da tummeln sich Mulatten, Drogendealer, Kriminelle und Revoluzzer ...

Ich-Erzähler Eulálio weiß selbst, dass seine Erinnerungen durcheinandergewirbelt sind wie Blätter im Herbst, und nimmt sich daher selber nicht ganz ernst. Damit bekommt der Roman einen ironischen, amü­santen Grundton, ohne den Hundertjährigen je der Lächerlichkeit auszusetzen.

Am Ende bleibt ein zwiespältiger Eindruck. Wie die Dinge, die Eulálio ausbreitet, konkret die Entwick­lung Brasiliens reflektieren, erschließt sich zumindest dem Nicht-Brasilianer nicht ohne Sekundärliteratur. Über­dies ist die mehrfach gebrochene Figur des Protagonisten kaum geeignet, eine ge­samt­ge­sell­schaft­li­che Botschaft zu vermitteln. Die Ironie im Erzählton und die Unsicherheit bzw. Wi­der­sprüch­lich­keit im Fakti­schen schwächen die Relevanz ihrer Aussagen weiter. Was bleibt, ist die unterhaltsame Geschichte des Niedergangs einer Dynastie, eines individuellen Familienschicksals, deren Wendepunkt der grotesk-komi­sche Anti-Held Eulálio darstellt.


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