Rezension zu »In fondo al tuo cuore« von Maurizio de Giovanni

In fondo al tuo cuore

von


Kriminalroman · Einaudi · · 456 S. · ISBN 9788806203443
Sprache: it · Herkunft: it · Region: Neapel und Golf

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Ein Professor fällt

Rezension vom 04.11.2014 · 3 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Tullio Iovine del Castello denkt an Sisinella und lächelt, bis er auf dem Pflaster auf­schlägt. In der Dunkel­heit einer unbarmherzig heißen Nacht stürzt der Lehr­stuhl­in­ha­ber für Gy­nä­ko­lo­gie an der Regia Università di Napoli aus dem Fens­ter seines Büros im vierten Stock des Policlinico.

Hat sich der anerkannte Spezialist auf dem Gipfel seiner Karriere selbst getötet, oder wurde er hinabgesto­ßen? Sein Fall beschäftigt am nächsten Morgen die ganze Stadt, denn er hatte auch den Frauen aus den ärmsten Vierteln geholfen. Er hinterlässt eine Frau und einen achtjährigen Sohn. Sisinella aber gehörte sein Herz; mit ihr hatte er sich insgeheim ein Liebesnest eingerichtet.

Nach dem grandios gestalteten Fenstersturz – einem Meisterstück poetischer Zeitdehnung – nimmt ein klassischer Whodunit-Plot seinen Lauf. Die Ermittler befragen nach und nach alle, die mit dem Verstorbe­nen zu tun hatten, und sammeln Informationen, bis sie am Ende verstehen, wie sich der tödliche Vorgang abgespielt hat und welche Umstände dahin führten. Die Indizien sind übersichtlich, und wer gut mitdenkt, kann sich irgendwann selbst zusammenreimen, was geschah. Also ein einfacher Krimi? Vielleicht, aber das ist nur die Rückseite der Medaille. Die Aufklärung des Kriminalfalles, in deren Zusammenhang später ein weiterer Tod zu beklagen ist und die durchaus komplexe Hintergründe zu Tage fördert, steht für den Autor nicht im Mittelpunkt. Wichtiger sind ihm die eindringliche Atmosphäre (Neapel im Juli 1932, dem hei­ßesten Sommer des Jahrhunderts) sowie die sorgfältige, differenzierte Gestaltung seiner Protagonisten und die Ent­wicklung des Geflechts ihrer Beziehungen. Die haben vor allem mit sehr unterschiedlichen Aus­prä­gun­gen von Liebe zu tun und spielen mit der titelgebenden Phrase »In fondo al tuo cuore«. (Leider hat man für die deutsche Ausgabe – »Die Klagen der Toten« Maurizio de Giovanni: »Die Klagen der Toten« bei Amazon, übersetzt von Judith Schwaab – auf diesen Effekt verzichtet.)

Die komplexeste Figur ist der commissario Luigi Alfredo Ricciardi. Er stammt aus adliger Familie (barone di Malomonte) und genoss eine wohlbehütete Kindheit, die jedoch von einem traumatischen Erlebnis über­schattet war. Seither verfügt er über eine merkwürdige Gabe, Segen und Fluch zugleich, die ihn fürchten lässt, er sei »pazzo. Sì, pazzo come la mia povera madre. Pensate, ho l'impressione di vedere i morti che mi raccontano il loro ultimo pensiero.« Unter diesem seelischen Damoklesschwert hat sich der Mann zu ei­nem melancholischen Einzelgänger entwickelt (»il principe delle tenebre, il nostro Ricciardi«), der, gequält von Selbstzweifeln, davor zurückschreckt, eine eigene Familie zu gründen.

Interessierte Frauen gäbe es schon, die dem gut aussehenden Junggesellen mit widerspenstigem Schopf, kultivierten Manieren und aristokratisch-ruhigem Wesen zur Seite stehen möchten. Dicht auf seinen Fersen ist zurzeit Lucia, die lustige Witwe des gefeierten Baritons Arnaldo Vezzi, für den sie ihre eigene künstle­ri­sche Laufbahn aufgegeben hatte. Zwei Jahre Trauer um ihn zu tragen fällt ihr gar nicht ein. Sie ist aus Rom nach Neapel gezogen, führt hier ein mondänes Haus und erfreut sich des Aufsehens, das sie bei offi­ziel­len Anlässen mit Ricciardi an ihrer Seite erregt. Jetzt ist sie vollauf damit beschäftigt, den rauschenden Mas­ken­ball vorzubereiten, mit dem sie am 16. Juli, dem Festtag der Madonna del Carmine (»la Signora Bru­na«), ihrem Ruf als Königin der neapolitanischen Society die Krone aufsetzen wird. Als Knüller wird sie die prominenten Gäste aus den höchsten Kreisen des ganzen Landes mit einem Liedvortrag überra­schen: Als Initialzündung für ihr Comeback als Sängerin ist die Uraufführung eines leidenschaftlichen Opus der Star-Komponisten der Stadt gerade gut genug. Ricciardi muss dabei sein, komme was wolle – nur ihm will sie singend in die Augen schauen.

Der commissario will sich freilich nicht festlegen lassen. Die Ereignisse rund um den Fall Iovine spitzen sich zu, je näher das Fest rückt, und selbstverständlich würde er der Pflicht immer den Vorrang vor dem Pri­va­ten einräumen. Er spürt auch, dass Zuneigung und Ansprüche der Dame ihn zu sehr einzuengen dro­hen, ohne ihn wirklich zu erfüllen. Vor allem aber ist er verliebt in Enrica, die zurückhaltende Tochter des Hut­ma­chers, die in der Wohnung gegenüber der seinen wohnt. Wirklich kennen gelernt haben sich die bei­den noch nicht, aber ihre Emotionen sind tief und ernsthaft. Nur haben sie sie einander noch nicht eröffnet (woraus ein umfangreicher, eigenständiger Handlungsstrang abzweigt, der das Potenzial für eine Fortset­zung birgt).

Die wichtigste Frau in Ricciardis Leben ist seine Amme Rosa. Sie hat ihn großgezogen wie eine Mutter und führt ihm jetzt den Haushalt in einer aufopfernd-fürsorglichen Weise, dass er sich weder um die Ver­waltung seiner ererbten Güter noch um irgendwelche anderen Belange des Alltags zu kümmern braucht. Doch sie ist alt geworden. Weil sie ihr Ende nahen sieht und weiß, dass der signorino ohne sie verloren wäre, hat sie vor kurzem ihre älteste Nichte in die Stadt und ins Haus geholt, um sie nach gründlicher Prü­fung ihrer Eig­nung als Nachfolgerin aufzubauen. Während sie mit der derben, zähen, pflichtbewussten und treuen Nelide eine gute Wahl getroffen hat, hat sie die ihr verbleibende Kraft und Zeit überschätzt. Dass sie jetzt be­wusst­los im Hospital liegt, ist einer der Kreise von Ricciardis Inferno: Er fürchtet den Verlust von Rosas be­din­gungs­lo­ser Liebe, und er spürt seine Macht- und Hilflosigkeit.

An Ricciardis Seite arbeitet der ihm treu ergebene brigadiere Raffaele Maione. Der Autor widmet diesem Kind des Volkes die gleiche Aufmerksamkeit wie seinem Vorgesetzten und gestaltet sein Wesen und seine Nöte ebenso sorgfältig. Maione führt die Recherchen plumper, aber volksnäher, und er nimmt kein Blatt vor den Mund. Leider quälen ihn private Sorgen. Das spärliche Gehalt reicht kaum aus, seiner hübschen blon­den Frau und den fünf Kindern ein Auskommen zu sichern, und nun gibt es auch noch Anzeichen, dass der bislang glückliche Familienvater um seine Ehe fürchten muss. (Auch hieraus entsteht ein ei­gen­stän­di­ger Handlungsstrang.)

Im Verlauf von über 450 Seiten nimmt eine Fülle weiterer Figuren mehrdimensionale Gestalt an. Tullio, seine Frau und sein Rivale erweisen sich ebenso als lebensnahe, differenzierte Charaktere wie seine Ge­liebte Sisinella, die aus den Tiefen der Armut durch Abgründe der Prostitution zur Geliebten eines reichen alten Mannes aufgestiegen ist und nun die einmalige Chance vor Augen hat, ein gutbürgerliches Leben zu sichern.

Ihre Recherchen führen die Polizisten in alle Gesellschaftsschichten der Stadt: Wir treffen ambitionierte Ärzte, faschistische Politiker, den femminiello Bambinella (eine Art drag queen), einen begnadeten Gold­schmiedemeister, einen jungen kriminellen Aufsteiger, der, zu allem entschlossen, sich nimmt, was er braucht, und viele einfache Bewohner der palazzi und bassi, deren Klatsch und Tratsch sämtliche Neuig­keiten, geheime Polizeiaktivitäten inklusive, in Windeseile durch sämtliche Viertel trägt und Maione schier zur Verzweiflung treibt.

Auch der Stadt Neapel selbst mit ihren Schätzen und ihrem Elend, dem geschäftigen Getriebe in den Stra­ßen und palazzi, den hektischen Vorbereitungen für das Fest der Madonna del Carmine verleiht de Gio­vanni Leben. Nur das politische Klima des Faschismus (der ja in Italien schon 1922 das Regiment über­nahm) bleibt vergleichsweise farblos.

De Giovannis literarischer Kriminalroman ist einfach schön zu lesen. Er ist erfüllt von prallem Leben. Die Perspektiven wechseln von Kapitel zu Kapitel, immer wieder auch der Stil: Es gibt innere Monologe, die wichtige Anhaltspunkte für den Fall und den Seelenzustand der Personen bereitstellen, auch wenn nicht auf Anhieb klar ist, durch wessen Kopf sie strömen. Ästhetische Höhepunkte sind de Giovannis stilistische ›Pirouetten‹, deren erste Tullios Todessturz schildert: Im Mittelpunkt steht eine Formel von zentraler Be­deutung (»cade ...«; »il caldo, il vero caldo«; »me l'hai giurato«; »in fondo al tuo cuore«), die sich, mehr­fach wiederholt, durch das betreffende Kurzkapitel zieht wie die Achse einer Wendeltreppe. Die Erzählung schraubt sich höher und höher, der Erzähler enthüllt Ebene um Ebene das Geschehene, die Formel ist die Leitschiene, bis am Ende offenliegt, was aufgedeckt werden muss. Dabei kann ein etwas pathetischer Ton entstehen. Das fantastischste Kapitel ist das, welches die infernalische Hitze in all ihren Ausprägungen und Auswirkungen erstehen lässt – man liest atemlos.

»In fondo al tuo cuore« ist der siebte Teil einer thematisch untergliederten Serie um den commissario aus den Dreißiger Jahren. Den Anfang machten vier Krimis über die Jahreszeiten (»La condanna del sangue. La primavera del commissario Ricciardi« Maurizio de Giovanni: »La condanna del sangue. La primavera del commissario Ricciardi« bei Amazon , »Il posto di ognuno. L’estate …« Maurizio de Giovanni: »Il posto di ognuno. L’estate del commissario Ricciardi« bei Amazon , »Il giorno dei morti. L’autunno …« Maurizio de Giovanni: »Il giorno dei morti. L’autunno del commissario Ricciardi« bei Amazon , »Il senso del dolore. L’inverno …« Maurizio de Giovanni: »Il senso del dolore. L’inverno del commissario Ricciardi« bei Amazon ), dann folgte eine Trilogie über neapolitanische Feste (»Per mano mia. Il Natale del commissario Ricciardi« Maurizio de Giovanni: »Per mano mia. Il Natale del commissario Ricciardi« bei Amazon , »Vipera. Nessuna resurrezione per il commissario Ricciardi« Maurizio de Giovanni: »Vipera. Nessuna resurrezione per il commissario Ricciardi« bei Amazon über Pasqua und »In fondo al tuo cuore« über la Madonna del Carmine). Was wird Maurizio de Giovanni als nächstes Leitthema einfallen?

Siehe auch de Cataldo, de Giovanni, de Silva, Lucarelli: »Giochi criminali«


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