Entfesselter Hass: Opfer und Täter
Die Inselgruppe der Palm Islands liegt vor der Ostküste Australiens im Great Barrier Reef. Das weltgrößte Korallenriff, Weltnaturerbe und eines der ›sieben Weltwunder der Natur‹, ist ein Paradies für Taucher, Touristen und die Tiere, die es bewohnen, aber sein ökologisches Gleichgewicht ist fragil und stets bedroht.
Palm Island, die Hauptinsel der Gruppe, ist ein Vorort der Hölle. Dort scheint das Ungleichgewicht wie in Beton gegossen, die Ungerechtigkeit verewigt. Die weitaus meisten der etwa zweitausend Inselbewohner sind Aborigines, eine winzige Minderheit (Ordnungskräfte, Seelsorger, Mediziner ...) ist weißhäutig. Im frühen zwanzigsten Jahrhundert richtete die (weiße) Regierung des Bundesstaates Queensland hier ein Reservat ein, das bis in die Sechzigerjahre als eine Art Straflager diente. Begleitet von christlicher Zwangsmissionierung, gewaltsamer Entwurzelung und grotesken Euphemismen (»Chief Protector of Aborigines« – »oberster Beschützer« – hieß der Chef der Vollzugsbehörde) fristeten hier missliebige Gruppen der australischen Urbevölkerung ein bejammernswertes, hoffnungsloses Dasein. Wer in seiner Heimat auf dem Festland als renitent aufgefallen, von einem weißen Mann schwanger geworden oder mit »gemischtem Blut« geboren war, wurde mitleidlos auf die öde »Palmeninsel« verschleppt. Bei der Ankunft wurden Kinder ihren Eltern weggenommen und nach Geschlecht getrennt untergebracht. Den Aborigines wurde untersagt, in ihrer Sprache zu sprechen. Der Alltag im Lager war streng reglementiert und überwacht, Regelverstöße wurden mit aller Härte geahndet. Mit Gewalt sollten aus den dunkelhäutigen Ureinwohnern ›richtige‹ Menschen nach dem Vorbild tüchtiger britischer Puritaner gezüchtet werden.
Ende der Sechzigerjahre wurde das Lager aufgelöst und die Insel nach und nach in die Eigenverantwortung ihrer Bewohner übergeben. Doch jahrzehntelange Entmündigung, unzureichende Unterstützung, Missbrauch und Inkompetenz verhinderten jede Verbesserung der tiefgreifenden Missstände und ihrer erschütternden Konsequenzen, die die Inselgemeinde bis heute belasten. Im Jahr 1999 gelangte sie zu trauriger Berühmheit. Ein Eintrag im »Guinness-Buch der Rekorde« bezeichnete Palm Island als den »gewalttätigsten Ort der Welt« (ausgenommen Kriegsschauplätze). Noch immer erreichen Mord- und Selbstmordrate Schwindel erregende Höhen, gehören Vergewaltigungen (insbesondere an Kindern und Jugendlichen), häusliche Gewalt und Prügeleien, Alkoholismus und Drogenmissbrauch (schon Kinder schnüffeln Benzin) zum Alltag. Sozialwissenschaftler nennen als Ursachen die ganze Palette möglicher Mängel: Es fehlt an Arbeit, Orientierung, Perspektiven, Vorbildern, Selbstwert, Geld. Zuviel gibt es dagegen an Sorgen, Langeweile, Krankheiten – und an Unterdrückung durch die (von Weißen dominierten) Behörden.
Einen Zwischenfall, der sich im November 2004 tatsächlich auf Palm Island ereignete und der in ganz Australien Aufsehen erregte, hat die australische Autorin Chloe Hooper (1973 in Melbourne geboren) als Grundlage für ihren Roman »The Tall Man« verwendet. Der erschien 2010 und wurde nun von Michael Kleeberg für den Liebeskind-Verlag übersetzt. Auf Initiative eines Anwalts, der sich für die Rechte der Aborigines einsetzt, hat Chloe Hooper die Vorgänge intensiv recherchiert, war bei zentralen Ereignissen persönlich anwesend und hat aus ihren Erkenntnissen die mitreißende, bestürzende Chronik eines kaum zu fassenden Sozialdramas und komplexen, umstrittenen Justizfalls erstellt. Sie wählte dafür eine halb dokumentarische, halb szenische, reportageähnliche, mit Originalquellen angereicherte und viele Perspektiven berücksichtigende Form, die es ihr erlaubte, die Tatsachen mit emotionalen Kommentierungen und polemischen Zuspitzungen zu begleiten.
Aus welchen Gründen mag sich ein junger australischer Polizist ausgerechnet auf den Chefposten der berüchtigten Polizeistation von Palm Island bewerben? Selbst wenn es wohlmeinende, ganz uneigennützige sind, muss man nicht fürchten, dass auch der beste Charakter in jenem »Herz der Dunkelheit« korrumpiert, jedes Engagement erstickt wird? Christopher James Hurley, 34, plagen solche Überlegungen kaum. Er sieht in dem Ort des Grauens und der Outcasts schlicht ein Sprungbrett in seiner Karriere. Er wird Vorgesetzter von sechs weißen Polizisten und einem schwarzen Kontaktmann.
Zwei Jahre später hat sich Senior Sergeant Hurley auf seinem neuen Posten keinen schlechten Namen gemacht. Er nimmt seine Aufgaben ernst, ist hart im Amt (was die, gegen die er vorgeht, natürlich verfluchen), engagiert sich in mehrfacher Weise ehrenamtlich, um die sozialen Zustände zu bessern. Seinen Vertrag hat er gerade um ein weiteres Jahr verlängert.
Am 19. November 2004, einem Freitag, verhaftet Hurley um 10.20 Uhr den gleichaltrigen, berauschten Aborigine Cameron Doomadgee, nachdem der ihn beleidigt hat. Nur vierzig Minuten, nachdem er in eine Zelle gebracht wurde, liegt Doomadgee mit schweren Verletzungen tot auf dem Fußboden. In den nachfolgenden Vernehmungen geben die Polizisten an, er sei auf einer Stufe ausgeglitten. Der einbestellte Pathologe kann – trotz Leberriss, gebrochenen Rippen, Kopfverletzungen – keine Gewalttat feststellen; Cameron Doomadgee sei innerlich verblutet. Als diese Ergebnisse eine Woche später veröffentlicht werden, bricht in der Gemeinde ein Aufruhr los. Die empörten Aborigines glauben an ein erneutes Komplott der weißen Unterdrücker, stecken die Polizeiwache in Brand und fackeln Hurleys Wohnhaus ab. Der bringt sich in Sicherheit aufs Festland.
Zum ersten Mal in der Geschichte Australiens wird daraufhin ein weißer Polizist angeklagt und muss sich in einem Ermittlungsprozess dem Vorwurf der Gewaltanwendung an einem Aborigine mit tödlichen Folgen stellen. Das Urteil fällt fast drei Jahre später, im Juni 2007, und löst mit seinen Folgen erneut größtes Aufsehen und heftige Unruhen aus. »Nicht schuldig.« Christopher Hurley verlässt den Gerichtssaal als freier Mann, wird vom Polizeipräsidenten beglückwünscht, von der Gewerkschaft der Polizeibeamten als Volksheld gefeiert. Er erhält einen neuen Arbeitsplatz an der Gold Coast und Entschädigungszahlungen.
Für viele ist der Fall ein Paradebeispiel dafür, wie die Weißen in Australien seit jeher ihre Übermacht dazu missbrauchen, um die Aborigines brutal und mitleidlos zu unterjochen: abgeschoben in trostlose Reservate, abgeschottet von der weißen Gesellschaft, alleingelassen in menschenunwürdigen Verhältnissen, die die europäischen Einwanderer ihnen eingebrockt haben, verachtet und misshandelt, während die Verantwortlichen einander grundsätzlich protegieren und selbst nach grobem Fehlverhalten ungeschoren davonkommen. Der gegenseitige Hass, seit Jahrzehnten des Misstrauens verfestigt, entlädt sich tagtäglich in Provokationen und Konfrontationen wie den hier beschriebenen.
Chloe Hoopers beeindruckend detailreicher Roman »Der Große Mann« – der Titel spielt sowohl auf eine Figur der Aborigines-Mythologie als auch auf Hurley an – gibt tiefe Einblicke in die Lebensbedingungen, die Mentalität, die Geschichte und die tristen Perspektiven der australischen Ureinwohner. Keine vierundzwanzig Stunden nach Hurleys Freispruch verkündete Premierminister John Howard einen Maßnahmenkatalog für das Aborigine-Territorium. Er sah vor, die Sozialhilfe einzufrieren, die Schulpflicht strenger zu überwachen, Alkohol- und Pornografieverbote durchzusetzen, vor allem aber mehr Polizisten zu stationieren und sie durch Militäreinheiten zu verstärken. Ein Programm wie für einen Bürgerkriegseinsatz.