Rezension zu »Das Gewicht von Schnee« von Christian Guay-Poliquin

Das Gewicht von Schnee

von


Zwei Fremde verschlägt es binnen einiger Monate in ein abgelegenes, isoliertes Dorf, wo nach einer Katastrophe und wegen permanenten Schneefalls große Not herrscht. Sie müssen sich mit den Bewohnern arrangieren, aber auch miteinander auszukommen lernen.
Belletristik · Hoffmann und Campe · · 288 S. · ISBN 9783455009323
Sprache: de · Herkunft: ca

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Rezension vom 06.03.2021 · 2 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Im Sommer muss sich irgendeine nicht näher erläuterte Katastrophe ereignet haben. Nach und nach fiel im Land der Strom aus, Benzin und Lebens­mittel wurden knapp. In den Städten brach die Zivili­sation zusammen, Chaos griff um sich. In dem abge­legenen Dorf, wo sich die erzählte Handlung zuträgt, setzt nun Schnee­fall ein und lässt nicht mehr nach. Auch hierher kommt nichts mehr, was man zum Leben braucht. Manche Bewohner haben den Ort verlassen, die Verblie­benen suchen in den leer­stehenden Häusern nach Verwert­barem, verbren­nen, um nicht zu erfrieren, was sie entbehren können, und die knappen Nahrungs­vorräte werden gehortet und zugeteilt.

Im Frühsommer ist ein alter Mann namens Matthias angereist. Wegen eines Schadens an seinem Auto saß er nun fest, denn ohne Strom konnte ihm niemand helfen. Es werde aber nicht lange dauern, sagte er, dann werde seine Nachbarin kommen und ihn abholen. So lange durfte er ein leeres Haus oben am Waldrand beziehen. Doch die Dame kam niemals an.

Als schon der Schnee fällt, ereignet sich ein folgen­reiches Auto­unglück. Nach dem Unfall zieht man den Fahrer mit zer­quetschten Beinen unter dem Wrack hervor. Niemand gibt ihm eine Über­lebens­chance, und der Apotheker rät ange­sichts seiner Qualen, dem Schicksal seinen Lauf zu lassen und »die Sache zu beenden«. Doch die Tier­ärztin und der »Patrouillen­mann« (eine Art Wachmann oder Polizist?) sind hoffnungs­voller, dass der Verun­glückte gerettet werden könne. Überdies war sein Vater der geschätzte Auto­mecha­niker des Dorfes. Der junge Mann war auf dem Weg, ihn nach mehr als zehn Jahren einmal wieder zu besuchen, hatte aber nicht erfahren, dass der Vater zwischen­zeitlich verstor­ben ist.

Hätte man angesichts der eigenen Notlage für einen Wild­fremden, und sei es ein Lei­dender, keinen Gedanken verschwen­det, geschweige denn ihn aufge­nommen, wird dieser Schwer­verletzte nun ins Dorf gebracht, wo er freilich nicht der Allge­meinheit zur Last fallen soll. Jetzt wäre vielmehr die Gelegen­heit, dass der alte Matthias sich bei der Dorf­gemein­schaft revan­chiert. Sie hat ihm schließ­lich auch Unter­kunft gewährt, teilt ihm Lebens­mittel zu, und er ist vital und rüstig genug, um ihr die Aufgabe abzu­nehmen, sich um den Verletz­ten zu kümmern. Bewährt er sich, kann man ihm in Aussicht stellen, bei einer ins Auge gefassten Expe­dition mitfahren zu dürfen. Man will dann erfor­schen, wie die Lage im Lande ist, und Matthias könnte nach seiner kranken Ehefrau suchen.

Damit beginnt ein schmerzvoller Prozess des Aus­kommens zwischen den beiden Außen­seitern, dem namen­losen Ich-Erzähler und dem Alten, die der Zufall in der Fremde anein­ander gefesselt und in einer Schnee­wüste einge­sperrt hat. Die äußere Handlung ist karg, der Infor­mations­fluss, den uns der Autor zukommen lässt, spärlich und diffus wie die Nach­richten aus der Welt, die die beiden Männer, die Dörfler und uns Leser erreichen, und wie die Konturen der Welt, die sich im Weiß des immer­währen­den Schnee­treibens verlieren. . Erstaun­licher­weise ist dieser Roman, dessen Kapitel gemäß der täglich gemes­senen Schnee­höhe in Zenti­metern voran­schreiten (»achtund­dreißig« bis »zweihundert­dreiund­siebzig«), dennoch so spannend zu lesen wie ein Krimi.

Wir folgen dem Tagesablauf der beiden unterschied­lichen Männer, dessen Monotonie nur gele­gentlich unter­brochen wird, wenn jemand mühselig auf Schnee­schuhen aus dem Dorf herauf­gestapft kommt. Mit dem Wenigen, das er im Rucksack mitbringt, müssen die beiden für lange Zeit auskommen. Matthias, von seinem Erschei­nungs­bild her »ein verrück­ter Wissen­schaftler«, ist der »Herr über Zeit und Raum«. Am frühen Morgen beginnt er mit einem Gymnastik­programm, heizt den Ofen, verlän­gert den öligen Kaffee, backt aus Buch­weizen und Melasse haltbares Schwarz­brot, kocht aus den knappen Vorräten die immer­gleiche »Endlos­suppe«, spricht das Tisch­gebet, wäscht, näht die Kleidung. Mit dem Einzug des jungen Mitbe­wohners, dessen Beine mit Holz­stecken geschient sind, kommt die Versor­gung seiner Wunden hinzu.

Faszinierender ist, wie sich das Verhältnis zwischen den beiden entwickelt. Lange Zeit spricht der trauma­tisierte neu Einquar­tierte kein Wort, siecht in seinen Schmerzen dahin, starrt von seiner Lager­statt, zu Passi­vität und Abwarten verur­teilt, mit einem Fernrohr auf die Messlatte vor dem Fenster. Wie sie den Naturge­walten ausge­liefert sind, so sind sie auch auf Gedeih und Verderb aufein­ander ange­wiesen, »zwei Häftlinge derselben Straf­kolonie«, und »jeder von uns ist der Gefangene des anderen«. Der nutzlose und pflege­bedürf­tige Gast kommt Matthias, der ganz andere Pläne hat, äußerst ungelegen. Beide haben ihre Geheim­nisse, ihre Gefühle schwanken zwischen Anteil­nahme und Argwohn, Hass und Zuneigung, Überdruss und Freund­lichkeit. Doch sie haben ein gemein­sames Ziel: überleben. So sind sie gezwungen, mitein­ander zu koope­rieren, gehen sie achtsam, gele­gentlich fast liebevoll mitein­ander um, beäugen sich aber auch immer wieder mit Miss­trauen und halten ihr unfrei­williges Zusam­mensein manchmal kaum aus.

Der franko-kanadische Autor Christian Guay-Poliquin, 1982 in Saint-Armand (Québec) geboren, hat mit »Le poids de la neige« (übersetzt von Sonja Finck und Andreas Jandl) ein atmos­phärisch dichtes Werk erschaf­fen, das seit seinem Erschei­nen 2016 mit etlichen Literatur­preisen ausge­zeichnet wurde. In einem zeitlosen, apokalyp­tischen Setting trägt sich ein höchst spannungs­geladenes Kammer­spiel zu, das wie ein psycho­logisch-philoso­phisches Experi­ment wirkt. Den Menschen werden plötzlich ihre Lebens­basis und alle Gewiss­heiten entzogen, sie werden von Res­sourcen­verknap­pung, Krankheit und Tod bedroht. Wie reagieren sie in dieser konstru­ierten Situation auf Erfah­rungen von Klaustro­phobie, des Nicht-Ent­kommen­könnens, des Aufeinander­angewiesen­seins, der Ungewiss­heit und Hoff­nungs­losig­keit?

Die sprachlich karg anmutende Gestaltung passt vorzüglich zum Konzept. Kurze, prägnante Aussage­sätze versinn­bildli­chen die Stimmung des Unab­wend­baren (»Alle müssen sich mit der Lage abfinden.«). Dialoge sind ohne Satz­zeichen in die Erzählung inte­griert. Dann wieder über­raschen einige Stellen mit unge­wöhn­licher Poesie: »Die Menschen in ihren Häusern sind von der eisigen Lieb­kosung des Winters aufge­wacht.« – »Die Stille des Winters ist ohren­betäu­bend.« – »Der Schnee ist ein Bett aus spitzen Kris­tallen […]. Die Nacht ist hungrig. Die Flocken gieren nach frischem Menschen­fleisch.«

Geschickt erweitert der Autor bisweilen über Seiten die Perspek­tive. Der Ich-Erzähler beob­achtet den Alten, wie er vor sich hin­brummelt, und er­schließt seine mäan­dernde Gedan­kenrede: »Als spräche er im Schlaf zu mir […] Du hast meine Pläne durch­kreuzt, du bist mir ein Klotz am Bein […] du hast Angst vor dem, was kommt […] ich erzähle dir was […] von dem Buch, das ich gerade lese […] du bist mir ausge­liefert, du Jammer­lappen […] du miss­traust mir […] du benei­dest mich. Weil ich stehen und laufen kann […] Alles wird gut.«

Mysteriös bleiben Anspielungen auf Bibel und Mytho­logie. Die meisten Dörfler tragen Namen bibli­scher Herkunft, die mit dem Buch­staben »J« beginnen (Joseph, Jacob, Jonas, Jannick, Judith, Jean, Joëlle). Aus dem Raster fallen nur Matthias und Maria, die Tier­ärztin. Mit den zentralen Begriffen und Protago­nisten der Ikarus-Sage und kurzen Texten dazu sind die sieben Haupt­teile des Romans über­schrieben (»Das Laby­rinth«, »Dädalus«, »Ikarus«, »Die Flügel«, »Die Sonne«). Offen­sichtlich sind die Themen, die der Roman mit dem Mythos teilt – wie Gefangen­schaft, Mut, Tatkraft, Entkommen, Scheitern –, aber eine überzeu­gende Parallele zu Ikarus’ waghal­sigem Übermut und den durch ihn ausge­lösten Unter­gang kann ich nicht finden.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2021 aufgenommen.


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