Das Karussell der Verwechslungen: Commissario Montalbano lässt sich nicht beirren.
von Andrea Camilleri
Lauter Merkwürdigkeiten verstören Montalbano: Da entführt jemand eine Bankangestellte, lässt sie kurz darauf wieder laufen – und wiederholt das Spiel mit einer weiteren jungen Frau aus der Bank. Dann wird ein frisch verliebter Unternehmer vermisst. Aber einen Montalbano kann niemand täuschen, so raffiniert er seinen Plan auch einfädelt.
Nichts ist so, wie es scheint
Allzu leicht übersieht man hierzulande als Fan des commissario Salvo Montalbano, dass Andrea Camilleri, sein Schöpfer, ihn erst ins Leben rief, als er schon fast siebzig Jahre alt war. Bis 2019, als der sizilianische Autor mit 94 Jahren starb, hatte er 28 Kriminalromane und über siebzig Erzählungen mit diesem Protagonisten veröffentlicht, und weitere hält sein Hausverlag Sellerio sicher noch in petto. (Auf meiner Seite finden Sie übrigens stets aktualisierte Übersichten sämtlicher Montalbano-Romane, Erzählungen und Filme.) Dabei umfasst das Werk dieses hochproduktiven Mannes, der die meiste Zeit seines Lebens als Schriftsteller, Journalist, Regisseur und Hochschullehrer unermüdlich gearbeitet und geforscht hat, weit mehr als diese internationalen Bestseller. Seine breite literarische, geschichtliche und mediale Bildung schlägt sich in seinen kaum zählbaren Büchern nieder, zumindest in Anspielungen, und eine ganze Reihe stellen historische Ereignisse, uralte Traditionen und Motive in den Mittelpunkt ihrer Handlung, etwa die Roman-Trilogie, die griechische Naturmythen in der Gegenwart aufleben lässt, oder die amüsanten historischen Romane, die einen ironischen Blick auf unscheinbare Begebenheiten aus der sizilianischen Vergangenheit werfen und Tiefgründiges darin offenlegen (etwa »Die Münze von Akragas«, »Die Revolution des Mondes«, »Die Sekte der Engel«). Selbst die Montalbano-Figur ist eine literarische Reverenz an den spanischen Schriftsteller Manuel Vázquez Montalbán und dessen Detektiv Pepe Carvalho.
Verglichen mit der gewaltigen Bandbreite an Sujets, die Camilleri in seinen ›freien‹ Romanen bearbeitet (neben den genannten auch Soziologie, Psychologie, Biografien, Erotik), erscheint die Krimiserie um Montalbano thematisch eng. Sie lebt gleichermaßen von der Persönlichkeitsentwicklung des allseits vertrauten Protagonisten, von der Konstanz seines verlässlichen Teams, vom unterhaltsamen Spiel mit sizilianischen Charakteren und Schauplätzen wie von den Kriminalfällen, die ihrerseits die ganze Spannweite zwischen Kleinkriminalität, aus unterschiedlichsten Nöten geboren, und Abgründen von Immoralität, Menschenverachtung, Gier und Grausamkeit abdecken. Sensationelle Novitäten waren in den letzten Jahren wohl nicht mehr zu erwarten. Stattdessen begegnen uns immer wieder aufs Neue die Grundphänomene italienischer und spezifisch sizilianischer Beschäftigungen abseits der Gesetze: die Mafia, Korruption, Drogenhandel, Bauskandale, Prostitution … Zeugt es nicht von Weisheit, dass Camilleri sich darauf beschränkt, nur diesen regional definierten Rahmen auszuloten?
»Das Karussell der Verwechslungen«, die neueste Variation über die Montalbano-Themen (im Original 2015 erschienen und jetzt von Rita Seuss und Walter Kögler übersetzt), ist in diesem Umfeld ein konventioneller Krimi. Hier geht es um Männer und Frauen, um Liebe, Eifersucht, Besitzstreben, um einen Mord aus rein persönlichen Gründen und die raffinierten Versuche des Täters, sein Verbrechen zu verschleiern. Nach dem gesellschaftskritischen Rundumschlag von »Das Bild der Pyramide« empfand ich diesen Krimi als wohltuend entspannend, zumal er auch unterhaltsam und abwechslungsreich erzählt ist.
Das titelgebende Motiv der Vortäuschungen und Vertauschungen, der Verwechslungen und Wechselspiele wird am Anfang witzig und weidlich ausgereizt, verflacht aber im weiteren Verlauf zur schlichten Erkenntnis »Das Problem ist, dass Wahrheit nicht gleich Wahrheit ist«. Jedenfalls reicht die banale Tatsache, dass der Mörder die Öffentlichkeit und die Polizei abzulenken, in die Irre zu führen sucht, nicht aus, um eine solch evokative Metapher als Leitmotiv des gesamten Romans tragen zu können.
Montalbano wird diesmal weder von einem Anruf Catarellas noch von einem Albtraum geweckt, sondern von einer lästigen Fliege. Der commissario urteilt hier gleich zum ersten Mal falsch, denn es stellt sich heraus, dass es zwei waren, die ihm auf der Nase herum getanzt waren. Am Strand erwartet ihn die nächste Täuschung: Da prügeln sich zwei Männer, er greift ein, um das vermeintliche Opfer zu schützen – und gerät selbst mitten hinein in den chaotischen Wirbel aus Beißen, Schlagen, Treten, Schuld und Unschuld. Am Ende nimmt – Schande über Schande für einen italienischen Polizisten – eine Streife der stolzen Carabinieri-Konkurrenz alle Beteiligten fest. Derweil wird selbst Angelina, Salvos brave Haushälterin und Köchin, Opfer einer Täuschung: Im Haus am Strand von Marinella brät sie mit ihrer Pfanne einem vermeintlichen Einbrecher derart eins über, dass sich ihm noch lange der Kopf dreht. Dabei wollte der brave Mann doch nur den commissario sprechen, und die Tür stand offen. Das alles wirkt ein bisschen konstruiert, aber Montalbano ist vorgewarnt für das, was folgt: »Der Schein trügt.«
Dann wird es sozusagen ernst. Da entführt einer binnen weniger Tage drei junge Frauen – alle bei Banken angestellt –, aber nicht so richtig: Er tut ihnen nichts Schlimmes an und lässt sie gleich wieder frei. Was in aller Welt soll das? Als ein feiner Elektronikladen ausbrennt, spitzt sich die Lage zu, und die Polizisten von Vigàta stehen vor einer Menge Rätsel. Wo steckt der Inhaber, Marcello Di Carlo? Hat ihn die Mafia aus dem Verkehr gezogen, weil er ostentativ sein Schutzgeld nicht bezahlen will? Oder hat er sich in ein Liebesnest zurückgezogen, nachdem er sich soeben im Urlaub unsterblich verliebt hat? Oder ist er einfach nur vor seinen nicht wenigen Gläubigern abgehauen? Schließlich geht auch sein teures Auto in Flammen auf, und man entdeckt ein blutbesudeltes »Zimmer des Todes«, wo sich eine schauderhafte Mordtat abgespielt haben muss.
Die Aufdeckung der komplizierten Abläufe, denen ein schlichtes Motiv zugrunde liegt, vollzieht sich wie üblich im Verlauf zahlreicher scharfsinniger Gesprächsrunden zwischen dem Chef Montalbano und seinen Mitarbeitern Fazio und Mimì Augello, aber wir dürfen mit den Polizisten auch reizvoll erzählte Ausflüge in die Umgebung unternehmen, so dass sich dieser Roman wieder wesentlich abwechslungsreicher liest als »Das Bild der Pyramide«. Dazu trägt wie üblich der Schlagabtausch witziger Bemerkungen bei, beispielsweise vom notorisch grantigen Rechtsmediziner dottor Pasquano: »Der Commissario wollte Platz nehmen, aber Pasquano schüttelte den Kopf. ›Nein, bleiben Sie stehen, dann sind wir schneller fertig und Sie gehen mir nicht so lange auf die Eier.‹«