Rezension zu »Schmales Land« von Christine Dwyer Hickey

Schmales Land

von


Ein zehnjähriger deutscher Waisenjunge soll im Jahr 1950 eine neue Heimat in den USA bekommen, doch seine Vergangenheit hält ihn gefangen. Im malerischen Cape Cod begegnet er der Ehefrau des berühmten Malers Edward Hopper und lernt durch sie Vertrauen und eine neue Welt der Farben kennen. Im Umgang mit dem Jungen entdeckt die Frau verschüttete Emotionen, und selbst die Verhärtungen in ihrer Ehe lösen sich.
Belletristik · Unionsverlag · · 416 S. · ISBN 9783293005945
Sprache: de · Herkunft: us

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In mildem Licht

Rezension vom 31.10.2023 · 4 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Zehn Jahre ist Michael alt, aber es waren schwere Jahre. In Deutsch­land hat er den Zweiten Weltkrieg durchlebt, danach wurde er in das »Displaced Persons«-Programm von Präsident Truman aufge­nommen, mit dem man vertrie­benen aus­ländi­schen Waisen­kindern eine neue Heimat bei amerika­nischen Pflege­eltern bieten wollte. Mrs Kaplan, enga­gierte Mitar­beiterin der »DP«-Initia­tive, vermit­telte Michael an das New Yorker Ehepaar Novak, doch die beiden waren der Aufgabe nicht gewachsen, und das über­forderte Kind rebel­lierte auf seine Weise.

Mrs Novak braucht dringend eine Auszeit, und so verab­redet man, dass der trauma­tisierte Junge einen unbe­kümmer­ten Ferien­aufent­halt bei Mrs Kaplan in Massa­chusetts verbrin­gen darf. Die gut situierte Familie wohnt auf der Halbinsel Cape Cod, einer Idylle mit unbe­rührten Stränden und maleri­schen Häuschen, wo Michael »das reinste Paradies« vorfinden werde. Sogar ein Spiel­kamerad erwarte ihn schon, schreibt Mrs Kaplan, und legt ein Foto ihres Enkels Richie bei.

Trotz des freundlichen Will­kommens­briefs sind die Vor­zeichen denkbar schlecht. Michael findet Richie auf dem Foto alles andere als sympa­thisch. Im New Yorker Grand-Central-Bahnhof, wo der Junge den Zug besteigen soll, übermannt ihn eine Panik­attacke, als er einen Trupp Soldaten auf dem Weg zum Kriegs­einsatz in Korea erspäht. Wie immer spricht er nicht aus, was ihn bewegt, sondern klammert sich an »Frau Aunt«, wie er Mrs Novak nennt, und zählt manisch die Knöpfe an ihrem Mantel rauf und runter. »Sprich unsere Sprache«, ermahnt sie ihn, und diese Forderung erzürnt ihn besonders, wo er doch langsam seine Mutter­sprache vergisst.

Im zweiten Kapitel setzt ein neuer Hand­lungs­strang ein. Josephine, seine Protago­nistin, ist die Ehefrau von Edward Hopper (1882-1967), dem bedeu­tendsten Maler des Amerika­nischen Realismus. Auch »Mrs Aitch« (»Aitch« wird das »H« im engli­schen Alphabet ausge­sprochen) ist eine begabte Malerin, steht jedoch ganz im Schatten ihres Mannes, wodurch sie und ihre Ehe im Laufe der Jahre massiv Schaden genommen haben. Die beiden verbrin­gen den Spät­sommer in Cape Cod, wo sie ein Haus mit direktem Zugang zum Meer gemietet haben. Jetzt geht Josephine gedank­lich ein Gespräch durch, das sie kürzlich mit jungen Frauen am Strand geführt hat. Da erklärte sie den Badenixen entschul­digend, dass ihr »sehr bedeu­tender« Mann sich gestört fühle, wenn »Fremde sich an seinem Strand tummeln [und] ihm sein Licht nehmen, wenn er malen will«. Ihr fällt ein, was eine Freundin ihr geraten hat: »Es ist nicht an Ihnen, Ihren Mann vor der Welt zu schützen … Sie dürfen nicht nur durch ihn leben.« Die brüske Reaktion ihres Mannes ist ein weiterer Tief­schlag: »Ich will nicht, dass meine Frau sich in meinem Namen etwas verbittet.«

Die beiden Künstler hatten fünfund­zwanzig Jahre zuvor gehei­ratet. Da war Josephine 41 Jahre alt und hatte auf Edwards Anordnung alle eigenen Ambi­tionen aufge­geben. Statt zu malen führt sie nun den Haushalt und übernimmt Tätig­keiten, die sie hasst, die sie zur »Furie« werden lassen. Bald fühlt sie sich von Edward im Stich gelassen. Wie sehr hatte sie gehofft, er werde seine Bezie­hungen zu New Yorker Galerien spielen lassen. Wie glücklich hätte es sie gemacht, wenn eine von ihnen einmal ihre Werke ausge­stellt hätte. Doch der Kunst­markt ist eine reine Männer­gesell­schaft, und da ist niemand an ihrer Kunst interes­siert.

Das Zusammenleben der beiden starken Charaktere ent­wickelt sich zu einem Schlacht­feld. Im Hand­lungs­jahr 1950 ist Edward Hoppers Schaf­fens­kraft von Depres­sionen und Lethargie ausge­bremst. Wenn er das Strand­haus überhaupt verlässt, fährt er mit dem Auto zur Post oder einfach durch die Gegend, auf der Suche nach einem Motiv, bei dem Licht­einfall und Schatten­spiel zusam­menpas­sen. Von seiner Frau fühlt er sich ständig beob­achtet und verfolgt, denn sie weiß um seine Krise. Sobald er zurück im Haus ist, bedrängt sie ihn mit Fragen, ob er ein Motiv, eine anzie­hende Frau, viel­leicht eine der Strand­läufe­rinnen gefunden habe – und dann folgen erneut Vorwürfe, Eifer­sucht, Neid, Missgunst. Doch trotz aller Ent­täuschun­gen, täglicher Demüti­gungen und Streite­reien liebt sie ihn und blendet phasen­weise ihre kaum zu zähmende Wut aus.

Per Zufall verbindet sich der Handlungs­strang des frustrie­renden Ehe­daseins von Mr und Mrs »Aitch« mit dem um Michaels Sommer­ferien im Frauen­haus­halt der Kaplans. Auch dort fällt es Michael schwer, sich einzu­leben. Mrs Kaplan, die Groß­mutter, gibt den Ton an. Ihre Tochter ist bild­hübsch, aber schwer krank. Die verwit­wete Schwieger­tochter kann ihre Abneigung gegen den deutschen Gast schwer verhehlen, und ihr Sohn Richie, der asthma­tische Enkel, wird mit dem Tod seines Vaters emotio­nal nicht fertig. Was bleibt Michael, dem Fremdling, als all dem aus dem Weg zu gehen? Er streunt in der Gegend herum und trifft dabei irgend­wann auf eine Dame, die allein im Auto sitzt und auf ihren Mann wartet.

Der Junge plaudert ohne Hemmungen mit der Unbe­kann­ten, gewinnt Zutrauen zu ihr, sie schließen Freund­schaft und wandern gemeinsam durch die Dünen. Für kurze Zeit ist Josephine dann abgelenkt und kann ihrer schwer erträg­lichen Ehe ent­fliehen. Ohne es zu wollen, gleitet sie in eine Art Mutter­rolle und erlebt auf neue Weise Gefühle wie »Glück« und »Kummer«: »Was entfernt wurde, ist Einsam­keit, hinzu­gefügt, Liebe.«

Auch auf ihren berühmten Ehemann, dessen Skizzen sie dem Jungen gezeigt und der den großen Künstler unbe­fangen ange­sprochen hatte, wirkt sich die neue Konstel­lation positiv aus. Alle Ver­krampft­heit fällt von ihm ab. In seinem Buick unter­nimmt er mit beiden eine Spritz­tour nach Prince­town und holt dazu sogar Richie ab, obwohl ihn die Nachbar­schaft bislang überhaupt nicht interes­siert hatte. Ganz entgegen seiner eigent­lich verschlos­senen, eigen­brötleri­schen Natur nimmt er nicht nur die Einladung zum gesell­schaft­lichen Höhepunkt der Gegend, Mrs Kaplans Fest zum Labor Day an, sondern erklärt sich sogar bereit, die Vor­berei­tungen tat­kräftig zu unter­stützen.

Der Schriftstellerin Christine Dwyer Hickey gelingt in ihrem Roman »The Narrow Land« (2020, aus­gezeich­net mit dem Walter Scott Prize for histo­rical fiction und von Uda Strät­ling ins Deutsche über­setzt) eine erstaun­liche Synthese gegen­sätz­licher Flieh­kräfte. Sie gestaltet eine inten­sive, langsam voran­schrei­tende Handlung, die dennoch die Heftig­keit der Konflikte zwischen den sehr unter­schied­lichen Hand­lungs­figuren verdeut­licht. Gleich­zeitig leuchtet sie die Hand­lungs­orte, die Land­schaft, das Meer, den Strand, die Menschen darin sprach­lich so aus, dass in unserer Vor­stel­lung un­weiger­lich Elemente und Atmos­phäre von Edward Hoppers Bildern auf­scheinen. Der Zauber des fiktiven Plot-Kon­strukts (die Verbin­dung eines zerrüt­teten Ehelebens und eines un­glückli­chen Sommer­aufent­halts) liegt darin, dass die unge­wöhn­lichen Protago­nisten (einer­seits Erwach­sene und bedeu­tende Künstler, anderer­seits ein trauma­tisierter Flücht­lings­junge) mit ihren verhär­teten Charak­teren einander aus der Ausweg­losig­keit ihres einsamen, tristen und hoff­nungs­losen Daseins zu erlösen vermögen.

Die irische Autorin dringt tief in die Innenwelt ihrer Figuren ein, legt ihre ge­heims­ten Befind­lich­keiten, Gedanken und Empfin­dungen offen. Obgleich derlei in der gelackten Welt der Erwach­senen gekonnt über­spielt wird, bekommen wir ihre Qualen, ihr Leid, ihre bro­delnden Emotionen zu spüren. Hinter den elegant und treff­sicher formu­lierten Sätzen gepfleg­ter, aal­glatter Kon­versa­tionen laufen parallel dazu im Erzähl­text aufge­wühlte innere Monologe und teils schockie­rende Gedan­ken­bänder durch die Hirn­windun­gen, die inhalt­lich das Gegenteil zur äußeren Fassade verraten.

Während Josephine im Nachruhm ihres weltbe­rühmten Gatten selten Beachtung findet, rückt Christine Dwyer Hickey sie in den Vorder­grund der Roman­handlung. Im Schatten des »Giganten« – hier eher eine Randfigur – ver­schwin­det sie, fühlt sich unbe­deutend und zurück­gesetzt. Egal wie erfolg­reich sie sich in Haus und Garten engagiert, sie sieht sich als »nützliche Idiotin«, als »Küchen­sklavin«, für die niemand Interesse aufbringt, und gebärdet sich in ihrer Hilf­losig­keit bisweilen als uner­träg­liche Xanthippe. Es fällt schwer, sich vorzu­stellen, dass es Zeiten gab, in denen das Ehepaar Hopper so etwas wie Liebe fürein­ander empfunden hat. Immerhin glimmt dieses Lichtlein in Jose­phines Erinne­rungen und Träumen noch leise vor sich hin.

Dagegen sind Michael und Richie Gleich­gesinnte. Beide haben den Auftrag, einen Sommer lang Freunde zu sein, ohne dieser Aufgabe gewachsen zu sein. Jeder ist durch den Verlust des Vaters trauma­tisiert. Niemand erkennt ihr Bedürfnis nach wärmender Liebe. So beäugen sie einander und lehnen einander ab. Richie fühlt sich gegenüber dem ver­meint­lich umsorgten Eindring­ling in seine Familie zurück­gesetzt. Beider Hilf­losig­keit und ihr Abdriften in seltsame Ver­haltens­weisen wird von den Erwach­senen mit Skepsis und Unver­ständnis regis­triert. Die Folgen sind schwer­wiegend.


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