Schmales Land
von Christine Dwyer Hickey
Ein zehnjähriger deutscher Waisenjunge soll im Jahr 1950 eine neue Heimat in den USA bekommen, doch seine Vergangenheit hält ihn gefangen. Im malerischen Cape Cod begegnet er der Ehefrau des berühmten Malers Edward Hopper und lernt durch sie Vertrauen und eine neue Welt der Farben kennen. Im Umgang mit dem Jungen entdeckt die Frau verschüttete Emotionen, und selbst die Verhärtungen in ihrer Ehe lösen sich.
In mildem Licht
Zehn Jahre ist Michael alt, aber es waren schwere Jahre. In Deutschland hat er den Zweiten Weltkrieg durchlebt, danach wurde er in das »Displaced Persons«-Programm von Präsident Truman aufgenommen, mit dem man vertriebenen ausländischen Waisenkindern eine neue Heimat bei amerikanischen Pflegeeltern bieten wollte. Mrs Kaplan, engagierte Mitarbeiterin der »DP«-Initiative, vermittelte Michael an das New Yorker Ehepaar Novak, doch die beiden waren der Aufgabe nicht gewachsen, und das überforderte Kind rebellierte auf seine Weise.
Mrs Novak braucht dringend eine Auszeit, und so verabredet man, dass der traumatisierte Junge einen unbekümmerten Ferienaufenthalt bei Mrs Kaplan in Massachusetts verbringen darf. Die gut situierte Familie wohnt auf der Halbinsel Cape Cod, einer Idylle mit unberührten Stränden und malerischen Häuschen, wo Michael »das reinste Paradies« vorfinden werde. Sogar ein Spielkamerad erwarte ihn schon, schreibt Mrs Kaplan, und legt ein Foto ihres Enkels Richie bei.
Trotz des freundlichen Willkommensbriefs sind die Vorzeichen denkbar schlecht. Michael findet Richie auf dem Foto alles andere als sympathisch. Im New Yorker Grand-Central-Bahnhof, wo der Junge den Zug besteigen soll, übermannt ihn eine Panikattacke, als er einen Trupp Soldaten auf dem Weg zum Kriegseinsatz in Korea erspäht. Wie immer spricht er nicht aus, was ihn bewegt, sondern klammert sich an »Frau Aunt«, wie er Mrs Novak nennt, und zählt manisch die Knöpfe an ihrem Mantel rauf und runter. »Sprich unsere Sprache«, ermahnt sie ihn, und diese Forderung erzürnt ihn besonders, wo er doch langsam seine Muttersprache vergisst.
Im zweiten Kapitel setzt ein neuer Handlungsstrang ein. Josephine, seine Protagonistin, ist die Ehefrau von Edward Hopper (1882-1967), dem bedeutendsten Maler des Amerikanischen Realismus. Auch »Mrs Aitch« (»Aitch« wird das »H« im englischen Alphabet ausgesprochen) ist eine begabte Malerin, steht jedoch ganz im Schatten ihres Mannes, wodurch sie und ihre Ehe im Laufe der Jahre massiv Schaden genommen haben. Die beiden verbringen den Spätsommer in Cape Cod, wo sie ein Haus mit direktem Zugang zum Meer gemietet haben. Jetzt geht Josephine gedanklich ein Gespräch durch, das sie kürzlich mit jungen Frauen am Strand geführt hat. Da erklärte sie den Badenixen entschuldigend, dass ihr »sehr bedeutender« Mann sich gestört fühle, wenn »Fremde sich an seinem Strand tummeln [und] ihm sein Licht nehmen, wenn er malen will«. Ihr fällt ein, was eine Freundin ihr geraten hat: »Es ist nicht an Ihnen, Ihren Mann vor der Welt zu schützen … Sie dürfen nicht nur durch ihn leben.« Die brüske Reaktion ihres Mannes ist ein weiterer Tiefschlag: »Ich will nicht, dass meine Frau sich in meinem Namen etwas verbittet.«
Die beiden Künstler hatten fünfundzwanzig Jahre zuvor geheiratet. Da war Josephine 41 Jahre alt und hatte auf Edwards Anordnung alle eigenen Ambitionen aufgegeben. Statt zu malen führt sie nun den Haushalt und übernimmt Tätigkeiten, die sie hasst, die sie zur »Furie« werden lassen. Bald fühlt sie sich von Edward im Stich gelassen. Wie sehr hatte sie gehofft, er werde seine Beziehungen zu New Yorker Galerien spielen lassen. Wie glücklich hätte es sie gemacht, wenn eine von ihnen einmal ihre Werke ausgestellt hätte. Doch der Kunstmarkt ist eine reine Männergesellschaft, und da ist niemand an ihrer Kunst interessiert.
Das Zusammenleben der beiden starken Charaktere entwickelt sich zu einem Schlachtfeld. Im Handlungsjahr 1950 ist Edward Hoppers Schaffenskraft von Depressionen und Lethargie ausgebremst. Wenn er das Strandhaus überhaupt verlässt, fährt er mit dem Auto zur Post oder einfach durch die Gegend, auf der Suche nach einem Motiv, bei dem Lichteinfall und Schattenspiel zusammenpassen. Von seiner Frau fühlt er sich ständig beobachtet und verfolgt, denn sie weiß um seine Krise. Sobald er zurück im Haus ist, bedrängt sie ihn mit Fragen, ob er ein Motiv, eine anziehende Frau, vielleicht eine der Strandläuferinnen gefunden habe – und dann folgen erneut Vorwürfe, Eifersucht, Neid, Missgunst. Doch trotz aller Enttäuschungen, täglicher Demütigungen und Streitereien liebt sie ihn und blendet phasenweise ihre kaum zu zähmende Wut aus.
Per Zufall verbindet sich der Handlungsstrang des frustrierenden Ehedaseins von Mr und Mrs »Aitch« mit dem um Michaels Sommerferien im Frauenhaushalt der Kaplans. Auch dort fällt es Michael schwer, sich einzuleben. Mrs Kaplan, die Großmutter, gibt den Ton an. Ihre Tochter ist bildhübsch, aber schwer krank. Die verwitwete Schwiegertochter kann ihre Abneigung gegen den deutschen Gast schwer verhehlen, und ihr Sohn Richie, der asthmatische Enkel, wird mit dem Tod seines Vaters emotional nicht fertig. Was bleibt Michael, dem Fremdling, als all dem aus dem Weg zu gehen? Er streunt in der Gegend herum und trifft dabei irgendwann auf eine Dame, die allein im Auto sitzt und auf ihren Mann wartet.
Der Junge plaudert ohne Hemmungen mit der Unbekannten, gewinnt Zutrauen zu ihr, sie schließen Freundschaft und wandern gemeinsam durch die Dünen. Für kurze Zeit ist Josephine dann abgelenkt und kann ihrer schwer erträglichen Ehe entfliehen. Ohne es zu wollen, gleitet sie in eine Art Mutterrolle und erlebt auf neue Weise Gefühle wie »Glück« und »Kummer«: »Was entfernt wurde, ist Einsamkeit, hinzugefügt, Liebe.«
Auch auf ihren berühmten Ehemann, dessen Skizzen sie dem Jungen gezeigt und der den großen Künstler unbefangen angesprochen hatte, wirkt sich die neue Konstellation positiv aus. Alle Verkrampftheit fällt von ihm ab. In seinem Buick unternimmt er mit beiden eine Spritztour nach Princetown und holt dazu sogar Richie ab, obwohl ihn die Nachbarschaft bislang überhaupt nicht interessiert hatte. Ganz entgegen seiner eigentlich verschlossenen, eigenbrötlerischen Natur nimmt er nicht nur die Einladung zum gesellschaftlichen Höhepunkt der Gegend, Mrs Kaplans Fest zum Labor Day an, sondern erklärt sich sogar bereit, die Vorbereitungen tatkräftig zu unterstützen.
Der Schriftstellerin Christine Dwyer Hickey gelingt in ihrem Roman »The Narrow Land« (2020, ausgezeichnet mit dem Walter Scott Prize for historical fiction und von Uda Strätling ins Deutsche übersetzt) eine erstaunliche Synthese gegensätzlicher Fliehkräfte. Sie gestaltet eine intensive, langsam voranschreitende Handlung, die dennoch die Heftigkeit der Konflikte zwischen den sehr unterschiedlichen Handlungsfiguren verdeutlicht. Gleichzeitig leuchtet sie die Handlungsorte, die Landschaft, das Meer, den Strand, die Menschen darin sprachlich so aus, dass in unserer Vorstellung unweigerlich Elemente und Atmosphäre von Edward Hoppers Bildern aufscheinen. Der Zauber des fiktiven Plot-Konstrukts (die Verbindung eines zerrütteten Ehelebens und eines unglücklichen Sommeraufenthalts) liegt darin, dass die ungewöhnlichen Protagonisten (einerseits Erwachsene und bedeutende Künstler, andererseits ein traumatisierter Flüchtlingsjunge) mit ihren verhärteten Charakteren einander aus der Ausweglosigkeit ihres einsamen, tristen und hoffnungslosen Daseins zu erlösen vermögen.
Die irische Autorin dringt tief in die Innenwelt ihrer Figuren ein, legt ihre geheimsten Befindlichkeiten, Gedanken und Empfindungen offen. Obgleich derlei in der gelackten Welt der Erwachsenen gekonnt überspielt wird, bekommen wir ihre Qualen, ihr Leid, ihre brodelnden Emotionen zu spüren. Hinter den elegant und treffsicher formulierten Sätzen gepflegter, aalglatter Konversationen laufen parallel dazu im Erzähltext aufgewühlte innere Monologe und teils schockierende Gedankenbänder durch die Hirnwindungen, die inhaltlich das Gegenteil zur äußeren Fassade verraten.
Während Josephine im Nachruhm ihres weltberühmten Gatten selten Beachtung findet, rückt Christine Dwyer Hickey sie in den Vordergrund der Romanhandlung. Im Schatten des »Giganten« – hier eher eine Randfigur – verschwindet sie, fühlt sich unbedeutend und zurückgesetzt. Egal wie erfolgreich sie sich in Haus und Garten engagiert, sie sieht sich als »nützliche Idiotin«, als »Küchensklavin«, für die niemand Interesse aufbringt, und gebärdet sich in ihrer Hilflosigkeit bisweilen als unerträgliche Xanthippe. Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass es Zeiten gab, in denen das Ehepaar Hopper so etwas wie Liebe füreinander empfunden hat. Immerhin glimmt dieses Lichtlein in Josephines Erinnerungen und Träumen noch leise vor sich hin.
Dagegen sind Michael und Richie Gleichgesinnte. Beide haben den Auftrag, einen Sommer lang Freunde zu sein, ohne dieser Aufgabe gewachsen zu sein. Jeder ist durch den Verlust des Vaters traumatisiert. Niemand erkennt ihr Bedürfnis nach wärmender Liebe. So beäugen sie einander und lehnen einander ab. Richie fühlt sich gegenüber dem vermeintlich umsorgten Eindringling in seine Familie zurückgesetzt. Beider Hilflosigkeit und ihr Abdriften in seltsame Verhaltensweisen wird von den Erwachsenen mit Skepsis und Unverständnis registriert. Die Folgen sind schwerwiegend.