Rezension zu »Einer von den Guten« von Jan Costin Wagner

Einer von den Guten

von


Ben Neven ermittelt engagiert gegen Pädophile – und ist doch selbst einer. Sein Alltag und sein Wesen sind zerrissen zwischen Beruf, Familienleben und dem Trieb, der ihn gefangen hält. Auch der Junge, den er regelmäßig trifft, lebt ein Doppelleben zwischen einer repressiven Familie, Zwangsprostitution und einem Mädchen, das ihm ein anderes Leben zeigt. Für beide Protagonisten scheint es keinen Ausweg zu geben.
Kriminalroman · Galiani · · 208 S. · ISBN 9783869712604
Sprache: de · Herkunft: de

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.
Gebundene Ausgabe E-Book

Doppelleben am Abgrund

Rezension vom 24.10.2023 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

»Nicht jeder Priester ist ein Kinderschänder. Nicht jeder Polizist ist es nicht.« Diese simple Wahrheit gewinnt einen zynischen Unterton, wenn ein Mann wie Ben Neven sie denkt.

Ben Neven ist Kriminalbeamter und damit quasi per Defi­nition »einer von den Guten«. Privat ist er ein gebil­deter Mann, glücklich verhei­ratet und Vater einer Tochter. Seiner Arbeit, dem Kampf gegen das Böse der Gesetzes­über­tretun­gen, geht er engagiert und akribisch nach. Derzeit leitet er eine Sonder­gruppe, die einem weit­ver­zweigten Netz von Kindes­miss­brauch auf der Spur ist.

Im ersten Kapitel des Romans begleiten wir ihn an seinem freien Tag. Er ist allein unterwegs nach Dortmund, als ihn die Nachricht eines Kollegen erreicht: Man habe einen 73-jährigen »Mann Gottes« identi­fiziert, der sich seit Jahren an ihm anver­trauten Jungen vergangen habe. Ben ist klar, dass er es ist, der den katho­lischen Priester verhören wird, und da kommt ihm der eingangs zitierte Kalauer in den Sinn. Richtig lustig findet er den Gedanken nicht, und er wird ihn im Mit­arbeiter­kreis lieber nicht zum Besten geben. Denn er ist sich der schreck­lichen Schatten­seite in seinem Wesen bewusst. Wie schon viele Male zuvor wird gleich am Zielort ein Junge in sein Auto steigen, um seinen (Bens) Sexual­trieb zu befrie­digen.

So schockiert uns Jan Costin Wagner im dritten Teil seiner Ben-Neven-Reihe (nach »Sommer bei Nacht« [› Rezension] und »Am roten Strand«) auf gänzlich uner­wartete Weise. Den Titel ironisch brechend, erweist sich ausge­rechnet der Prota­gonist und vorbild­liche Gesetzes­hüter als Gewohn­heits­täter, der die Straf­taten, die er in seinem Beruf unvor­einge­nom­men und un­nach­giebig aufklären muss, selbst begeht. Obwohl wir uns schon lange daran gewöhnt haben, dass weder reale noch fiktio­nale Poli­zisten gegen krimi­nelle Versu­chungen gefeit sind, ist Wagners Konzept gewagt, da es hier um moralisch besonders verwerf­liche und gesell­schaft­lich geächtete Ver­brechen geht. Kann der Autor den Kommissar durch die schwie­rigen Strudel einer Ermitt­lung führen, ohne seine Leitfigur anzu­klagen und zu verur­teilen? Kann er eine Roman­hand­lung ent­wickeln, die einen verab­scheu­ungs­wür­digen Trieb schildert, ohne ihn zu ent­schul­digen? Kann er glaub­würdig den extremen Spagat gestalten, in dem die Haupt­person lebt?

Seine sexuelle Veranlagung zerreißt Ben Neven inner­lich in mehr­facher Hinsicht. Einer­seits ist er von der Richtig­keit seiner Arbeit ohne Ein­schrän­kung überzeugt, denn er verab­scheut Männer, die sich an Klein­kindern, gar Säug­lingen vergehen, zutiefst. Mit denen habe er »nichts gemein«. Seine eigenen Neigun­gen empfindet er ambi­valent. Natürlich ist ihm bewusst, dass sein Tun seinem Opfer Schaden zufügt und strafbar ist. Aber da ihn aus­schließ­lich Jungen ab einem gewissen Alter interes­sieren, von denen er glaubt, sie könnten schon eigen­verant­wort­lich handeln, hält er sich zugute, die geheimen Treffen seien »einver­nehm­lich«. Doch die Be­schöni­gungs­ver­suche können ihn selber nicht so ganz über­zeugen. Überdies weiß er, dass er seinem Trieb hilflos erlegen ist. Wenn er ihn erfasst, ist er »nicht er selbst«, verkennt trotz seines Erfah­rungs­schat­zes als nüch­terner Ermittler die Realität. Als er einmal beob­achten muss, wie ›sein‹ Junge in das Auto eines anderen Mannes einsteigt, findet er das »uner­träg­lich«.

Nicht nur die einhellige öffent­liche Verur­teilung von Pädo­philie, sondern auch schmerz­liche Kom­men­tare seiner Ehefrau Svea bedrängen ihn, etwas an seinem Wesen zu verändern: »Das sind keine Menschen, das sind Monster.« Doch wem könnte er sich anver­trauen, um Hilfe zu finden? Ihn quält ja ohnehin die ständige Sorge, jemand in seinem Umfeld könne sein Doppel­leben aufdecken. Ständig drehen sich seine Gedanken um den immer vorhan­denen Trieb, und ständig muss er sein Auftreten unter Kontrolle halten, damit sein Gesicht, seine Mimik, seine Worte bloß keine verräte­rischen Spuren hinter­lassen. Die Leitung einer im Fernsehen über­trage­nen Presse­konfe­renz wird zum Alptraum.

Die Handlung des Romans wird abwech­selnd aus Bens Perspek­tive und aus der des miss­brauch­ten Jungen erzählt. Adrian ist dreizehn, stammt aus Rumänien, spricht kaum Deutsch, kann nicht lesen, wohnt in einer Hoch­haus­sied­lung und wird von seinem Vater zur Prosti­tution gezwungen. Er ekelt sich, wenn er auf einem nahe­gelege­nen Parkplatz zu den Freiern ins Auto steigt, und es hilft ihm kaum, wenn er sich einredet, dass er ja bloß »für eine halbe Stunde nur Zeug sein wird, nur Materie«. Das mit so viel Ernied­rigung verdiente Geld muss er an die Patriar­chen seiner Familie abgeben. Was der Junge, der nur Demüti­gung und Unter­drückung kennt, sich wünscht, ist einfach ein wenig Wärme. Die findet er bei der ein Jahr älteren Vera, mit der er Unbe­kanntes und sogar Momente des Glücks erlebt. Damit gleitet auch er in ein Doppel­leben, das er vor seiner Familie schützen muss.

Dieser Roman ist kein Kriminal­roman im her­kömm­lichen Sinne. Von Anfang an liegen alle Aspekte des Span­nungs­feldes offen: der leitende Ermittler, der Täter, seine Tat, seine Motive, sein Opfer, die Tat­um­stände, die Schuld. Nicht die be­schrie­benen Ermitt­lungs­arbei­ten werden deshalb das Interesse des Lesers fesseln, sondern das Verhalten und vor allem die Haltung der beiden in sich gespal­tenen Protago­nisten, in denen das Bewusst­sein von Recht und Unrecht, Vernunft und Trieb, Schuld und Reue wider­streiten. Differen­ziert und fein­fühlig arbeitet Jan Costin Wagner deren Psycho­gramme heraus, leuchtet darin jede dunkle Ecke aus und führt uns die Dilemmata, die sie quälen, erschüt­ternd vor Augen. Dazu braucht Jan Costin Wagner nicht viele Worte. Sein Stil ist prägnant und orien­tiert sich an der Alltags­sprache seiner Figuren. Da er sich jeglichen Anflugs eines Urteils enthält, kann der Leser den äußeren und inneren Vorgängen unbe­ein­flusst folgen und sich selbst eine Meinung bilden. Das ist eine Aufgabe, die schwer genug fällt.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Herbst 2023 aufgenommen.


Weitere Artikel zu Büchern von Jan Costin Wagner bei Bücher Rezensionen:

Rezension zu »Sakari lernt, durch Wände zu gehen«

go

Rezension zu »Sommer bei Nacht«

go

Rezension zu »Tage des letzten Schnees«

go

War dieser Artikel hilfreich für Sie?

Ja Nein

Hinweis zum Datenschutz:
Um Verfälschungen durch Mehrfach-Klicks und automatische Webcrawler zu verhindern, wird Ihr Klick nicht sofort berücksichtigt, sondern erst nach Freischaltung. Zu diesem Zweck speichern wir Ihre IP und Ihr Votum unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Ja« oder »Nein« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.

»Einer von den Guten« von Jan Costin Wagner
erhalten Sie im örtlichen Buchhandel oder bei Amazon als
Gebundene Ausgabe E-Book


Kommentare

Zu »Einer von den Guten« von Jan Costin Wagner wurde noch kein Kommentar verfasst.

Schreiben Sie hier den ersten Kommentar:
Ihre E-Mail wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Ihre Homepage wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Hinweis zum Datenschutz:
Um Missbrauch (Spam, Hetze etc.) zu verhindern, speichern wir Ihre IP und Ihre obigen Eingaben, sobald Sie sie absenden. Sie erhalten dann umgehend eine E-Mail mit einem Freischaltlink, mit dem Sie Ihren Kommentar veröffentlichen.
Die Speicherung Ihrer Daten geschieht unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Senden« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.


Go to Top