Einer von den Guten
von Jan Costin Wagner
Ben Neven ermittelt engagiert gegen Pädophile – und ist doch selbst einer. Sein Alltag und sein Wesen sind zerrissen zwischen Beruf, Familienleben und dem Trieb, der ihn gefangen hält. Auch der Junge, den er regelmäßig trifft, lebt ein Doppelleben zwischen einer repressiven Familie, Zwangsprostitution und einem Mädchen, das ihm ein anderes Leben zeigt. Für beide Protagonisten scheint es keinen Ausweg zu geben.
Doppelleben am Abgrund
»Nicht jeder Priester ist ein Kinderschänder. Nicht jeder Polizist ist es nicht.« Diese simple Wahrheit gewinnt einen zynischen Unterton, wenn ein Mann wie Ben Neven sie denkt.
Ben Neven ist Kriminalbeamter und damit quasi per Definition »einer von den Guten«. Privat ist er ein gebildeter Mann, glücklich verheiratet und Vater einer Tochter. Seiner Arbeit, dem Kampf gegen das Böse der Gesetzesübertretungen, geht er engagiert und akribisch nach. Derzeit leitet er eine Sondergruppe, die einem weitverzweigten Netz von Kindesmissbrauch auf der Spur ist.
Im ersten Kapitel des Romans begleiten wir ihn an seinem freien Tag. Er ist allein unterwegs nach Dortmund, als ihn die Nachricht eines Kollegen erreicht: Man habe einen 73-jährigen »Mann Gottes« identifiziert, der sich seit Jahren an ihm anvertrauten Jungen vergangen habe. Ben ist klar, dass er es ist, der den katholischen Priester verhören wird, und da kommt ihm der eingangs zitierte Kalauer in den Sinn. Richtig lustig findet er den Gedanken nicht, und er wird ihn im Mitarbeiterkreis lieber nicht zum Besten geben. Denn er ist sich der schrecklichen Schattenseite in seinem Wesen bewusst. Wie schon viele Male zuvor wird gleich am Zielort ein Junge in sein Auto steigen, um seinen (Bens) Sexualtrieb zu befriedigen.
So schockiert uns Jan Costin Wagner im dritten Teil seiner Ben-Neven-Reihe (nach »Sommer bei Nacht« [› Rezension] und »Am roten Strand«) auf gänzlich unerwartete Weise. Den Titel ironisch brechend, erweist sich ausgerechnet der Protagonist und vorbildliche Gesetzeshüter als Gewohnheitstäter, der die Straftaten, die er in seinem Beruf unvoreingenommen und unnachgiebig aufklären muss, selbst begeht. Obwohl wir uns schon lange daran gewöhnt haben, dass weder reale noch fiktionale Polizisten gegen kriminelle Versuchungen gefeit sind, ist Wagners Konzept gewagt, da es hier um moralisch besonders verwerfliche und gesellschaftlich geächtete Verbrechen geht. Kann der Autor den Kommissar durch die schwierigen Strudel einer Ermittlung führen, ohne seine Leitfigur anzuklagen und zu verurteilen? Kann er eine Romanhandlung entwickeln, die einen verabscheuungswürdigen Trieb schildert, ohne ihn zu entschuldigen? Kann er glaubwürdig den extremen Spagat gestalten, in dem die Hauptperson lebt?
Seine sexuelle Veranlagung zerreißt Ben Neven innerlich in mehrfacher Hinsicht. Einerseits ist er von der Richtigkeit seiner Arbeit ohne Einschränkung überzeugt, denn er verabscheut Männer, die sich an Kleinkindern, gar Säuglingen vergehen, zutiefst. Mit denen habe er »nichts gemein«. Seine eigenen Neigungen empfindet er ambivalent. Natürlich ist ihm bewusst, dass sein Tun seinem Opfer Schaden zufügt und strafbar ist. Aber da ihn ausschließlich Jungen ab einem gewissen Alter interessieren, von denen er glaubt, sie könnten schon eigenverantwortlich handeln, hält er sich zugute, die geheimen Treffen seien »einvernehmlich«. Doch die Beschönigungsversuche können ihn selber nicht so ganz überzeugen. Überdies weiß er, dass er seinem Trieb hilflos erlegen ist. Wenn er ihn erfasst, ist er »nicht er selbst«, verkennt trotz seines Erfahrungsschatzes als nüchterner Ermittler die Realität. Als er einmal beobachten muss, wie ›sein‹ Junge in das Auto eines anderen Mannes einsteigt, findet er das »unerträglich«.
Nicht nur die einhellige öffentliche Verurteilung von Pädophilie, sondern auch schmerzliche Kommentare seiner Ehefrau Svea bedrängen ihn, etwas an seinem Wesen zu verändern: »Das sind keine Menschen, das sind Monster.« Doch wem könnte er sich anvertrauen, um Hilfe zu finden? Ihn quält ja ohnehin die ständige Sorge, jemand in seinem Umfeld könne sein Doppelleben aufdecken. Ständig drehen sich seine Gedanken um den immer vorhandenen Trieb, und ständig muss er sein Auftreten unter Kontrolle halten, damit sein Gesicht, seine Mimik, seine Worte bloß keine verräterischen Spuren hinterlassen. Die Leitung einer im Fernsehen übertragenen Pressekonferenz wird zum Alptraum.
Die Handlung des Romans wird abwechselnd aus Bens Perspektive und aus der des missbrauchten Jungen erzählt. Adrian ist dreizehn, stammt aus Rumänien, spricht kaum Deutsch, kann nicht lesen, wohnt in einer Hochhaussiedlung und wird von seinem Vater zur Prostitution gezwungen. Er ekelt sich, wenn er auf einem nahegelegenen Parkplatz zu den Freiern ins Auto steigt, und es hilft ihm kaum, wenn er sich einredet, dass er ja bloß »für eine halbe Stunde nur Zeug sein wird, nur Materie«. Das mit so viel Erniedrigung verdiente Geld muss er an die Patriarchen seiner Familie abgeben. Was der Junge, der nur Demütigung und Unterdrückung kennt, sich wünscht, ist einfach ein wenig Wärme. Die findet er bei der ein Jahr älteren Vera, mit der er Unbekanntes und sogar Momente des Glücks erlebt. Damit gleitet auch er in ein Doppelleben, das er vor seiner Familie schützen muss.
Dieser Roman ist kein Kriminalroman im herkömmlichen Sinne. Von Anfang an liegen alle Aspekte des Spannungsfeldes offen: der leitende Ermittler, der Täter, seine Tat, seine Motive, sein Opfer, die Tatumstände, die Schuld. Nicht die beschriebenen Ermittlungsarbeiten werden deshalb das Interesse des Lesers fesseln, sondern das Verhalten und vor allem die Haltung der beiden in sich gespaltenen Protagonisten, in denen das Bewusstsein von Recht und Unrecht, Vernunft und Trieb, Schuld und Reue widerstreiten. Differenziert und feinfühlig arbeitet Jan Costin Wagner deren Psychogramme heraus, leuchtet darin jede dunkle Ecke aus und führt uns die Dilemmata, die sie quälen, erschütternd vor Augen. Dazu braucht Jan Costin Wagner nicht viele Worte. Sein Stil ist prägnant und orientiert sich an der Alltagssprache seiner Figuren. Da er sich jeglichen Anflugs eines Urteils enthält, kann der Leser den äußeren und inneren Vorgängen unbeeinflusst folgen und sich selbst eine Meinung bilden. Das ist eine Aufgabe, die schwer genug fällt.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Herbst 2023 aufgenommen.