Rezension zu »Guten Morgen, Genosse Elefant« von Christopher Wilson

Guten Morgen, Genosse Elefant

von


Ein zwölfjähriger Knabe, klug und mit entstelltem Gesicht, gewinnt das Zutrauen des Massenmörders Josef Stalin und begleitet ihn in seinen letzten Lebenstagen.
Satire · Kiepenheuer & Witsch · · 272 S. · ISBN 9783462050769
Sprache: de · Herkunft: gb

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Der Massenmörder und sein Kobold

Rezension vom 05.12.2018 · 2 x als hilfreich bewertet mit 1 Kommentaren

Als Josef Stalin 1953 starb, war er ein debiler Greis von vierund­siebzig Jahren, gezeichnet von Krankheiten, verzehrt von Misstrauen und Hass. Vierzig Jahre zuvor hatte er sich »der Stählerne« genannt, mit 49 begann er sich die schlimmsten Kon­notatio­nen dieses Beinamens zu verdienen und wurde schließlich einer der unmenschlichsten und skrupel­loses­ten Massen­mörder der Weltge­schichte. Sein Regime kostete viele Millionen von Menschen­leben. Einfluss­reiche Kreise sorgen dafür, dass er bis heute bei einem guten Drittel der russi­schen Bevölke­rung hohes Ansehen genießt.

Von den Zuständen und Ränkespielen in der letzten Lebensphase Stalins, der sich »in einen allmäch­tigen und geheimnis­vollen Gott verwandelt« hatte (Ilja Ehrenburg), erzählt Christopher Wilsons urkomisch-todtrau­rige Polit­satire »The Zoo« Christopher Wilson: »The Zoo« bei Amazon (übersetzt von Bernhard Robben), und sie kommt der histori­schen Realität vermutlich sehr nahe. Als Schlüsselloch in das hermetisch abgeschot­tete Umfeld des gefürchteten Diktators dient dem Autor eine Kunstfigur, das kluge Kind Juri Romanow Zipit, dessen merkwürdige körperliche Verunstal­tung das Interesse des Tyrannen auf sich zieht, so dass er es als seinen »Kobold« aufnimmt.

Seit Juri als Sechsjähriger Opfer eines Verkehrsunfalls wurde, leidet er an einem zerebralen Trauma. Er ist Epileptiker, langsam und vergesslich, sein Gesicht ist entstellt. Aber es hat eine besondere Wirkung auf die Mitmenschen. Wenn sie ihn anstieren und schmunzeln, grinst Juri zurück, und schon glauben sie »Herzensgüte« in seinen Augen, »Freund­schaft aus dem Schlitz« seines lächelnden Mundes zu lesen. Das ehrliche, arglose, trottelige Wesen provoziert selbst Wildfremde, ihm freimütige Geständ­nisse wider­wärtigs­ter Taten ins Ohr zu beichten. Aber sein Wesen ist anders – »sie verwechseln mich mit meinem Gesicht«.

Auch Juris Vater behauptet, »mein Aussehen sei ein Betrüger, ein schamloser Lügner«, und als »Professor für Veterinär­medizin, Fachgebiet Neuro­logie der Groß­hirn­rinde« wird Doktor Roman Alexand­rowitsch Zipit schon wissen, was er sagt. Er wohnt mit seinem Sohn in einer Personal­wohnung im Haupt­stadt­zoo. Fünf Jahre nach der Geburt des Kindes verschwand die Mama eines Tages plötzlich. Juri glaubt an die hoffnungs­volle Version, die Papa ihm erzählt – Mama sei für ein paar Jahre auf For­schungs­reise im Norden –, doch ein Schulfreund verrät ihm eine andere Wahrheit: Mama sei wegen gesell­schaft­lich gefähr­lichem »Dies-oder-das« zu acht Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden. Natürlich weiß Papa, dass auch er jederzeit abgeholt, für »verdächtig« und somit »schuldig« befunden werden kann. Dieses tödliche Damokles­schwert baumelt über jedem russischen Untertan, am gefähr­lichs­ten über dem, der »nichts getan« hat. Deshalb stehen auch im Flur der beiden Zipits (wie bei vielen Bürgern) zwei gepackte Koffer bereit, und niemand ist überrascht, als eines Abends zwei Geheim­agen­ten fast die Tür einschlagen.

Doch die Männer entführen Papa nicht in ein Kommissariat, sondern zu einer »spätabend­lichen Geheim­mission«. Ein besonderer Patient benötige dringend seine Hilfe. Während Dr. Zipit seine Instru­menten­tasche füllt, wundern sich die beiden Männer über den neugierigen, grinsenden kleinen »Schwach­kopf« und erfahren vom Vater, dass Juri nicht allein bleiben könne und ihn überdies als sein aus­gebilde­ter Assistent begleiten müsse.

Alles, was nun folgt, muss zur eigenen Sicherheit für immer vergessen werden, darf nie geschehen sein. »An einem Ort, den es nicht gibt«, begegnen dem Doktor und seinem Sohn Menschen, die sie nie gesehen haben werden. Der Kranke ist ein ganz hohes Tier: der »Genosse Elefant«, »überaus mächtig, sehr weise und auch sehr freundlich, falls er nicht gerade wütend wird«, und er vergisst nichts. Nach schlechten Erfahrungen mit Leibarzt und anderen Fachärzten (»zionis­tische Natio­nalis­ten, die meisten ame­rikani­sche Spione«, die leider alle verstorben sind oder sich in Unter­suchungs­haft befinden) vertraut sich der »Genosse Niemand-den-wir-kennen« nur noch Tierärzten an.

Dr. Zipit untersucht den Patienten, der in seiner Hinfälligkeit nichts mit seinem all­gegen­wärti­gen öffent­lichen Konterfei gemein hat, und sein Assistent notiert den reich­halti­gen Befund: »Arterio­sklerose«, »Schwindel­anfälle«, »Gedächtnis­verlust«, »zeitweilige Verwirrung«, »Anfälle von Wut und Frustration«, hohes Risiko eines erneuten ischämi­schen Anfalls. Der Arzt rät zu einem ruhigen Lebens­wandel ohne Rauchen, ohne Alkohol. Die Signal­wörter reißen den Kranken vom Lager, lösen eine Kanonade von Belei­digun­gen und Schimpf­wörtern aus, die den Adressaten und seinen Sohn förmlich erschlagen. Noch ein »zionisti­scher Quacksalber«! Der weiß, welch dunkle Keller­löcher und brutale Arbeits­lager ihn jetzt erwarten. Indes ist dem Kranken Juris blödes Grinsen aufgefallen, und er ordnet an, der »Kobold« solle bleiben. »Er kann mir holen, was ich haben will, kann sich um mich kümmern.«

Bald gewinnt der zwölfeinhalbjährige Juri das Vertrauen des dahin­schwin­den­den mächtigen Diktators Josef Stalin, der ihm das wichtige Amt des »Vorkosters Erster Klasse« überträgt. Doch sein kindlich-naiver Glaube, dass der »Stählerne« ja »auch nur ein Mensch sei«, der es nicht leicht habe, schwindet angesichts seiner Erlebnisse rasch und weicht der Erkenntnis seiner wahren Unmensch­lich­keit. Nahezu jede Seite konfron­tiert den Leser schonungs­los mit der permanenten Unter­drückung, der erbar­mungs­losen Willkür eines tod­bringen­den Regimes. Das anfängliche Amüsement über zynische Zu­spitzun­gen und satirische Über­treibun­gen erstirbt mit jeder gelesenen Passage, von der man annehmen muss, dass sie nichts als historisch verbürgte, tausend­fach durch­littene Wirk­lich­keit vor Augen führt.

Während das verführte Volk ein Ende der Epoche Stalin nicht einmal denken kann, bringen sich Vertraute des »Un­sterbli­chen« im innersten Zirkel insgeheim für seine Nachfolge in Stellung. Sie gehen gewaltige Risiken ein, denn Macht und Einfluss des »Wodsch« sind ungebrochen. Vier Doppel­gänger (»Ersatz-Wodsch«), einer skrupel­loser und bestiali­scher als der andere, umgeben den Herrscher, um Attentate von seiner Person wegzulenken, und alle trachten ihm nach dem Leben. Juri soll sie belauschen und dem »Stählernen« berichten, was hinter seinem Rücken geschieht. Die Doppel­gänger ihrerseits wüssten nur zu gern, was ihr Chef und sein »Liebling­strottel« plaudern, wenn sie unter sich sind. Und schließlich hofft der Junge, selbst etwas über den Verbleib seiner Eltern zu erfahren. In diesem gefährli­chen Räderwerk, ständig in Gefahr, verhaftet zu werden, weiß sich Juri geschickt durch­zulavie­ren, denn er hat all die vielen konkreten Ratschläge seines Vaters inter­nali­siert: schweigen, sich doof stellen, keine Witze erzählen, so oft wie möglich zum Klo gehen, nie seine Meinung kundtun.

Stalins dramatisches Lebensende gestaltet Christopher Wilson gemäß dem realen Ablauf – eine lange Nacht bei reichlich Essen und Alkohol mit engsten Vertrauten, ein Schlag­anfall, das Ausbleiben jeglicher Hilfe aus Furcht, den ver­meint­lich einen Rausch aus­schlafen­den Tyrannen zu wecken und einen Tob­suchts­anfall auszulösen, die vergebliche Bemühung, den Sterbenden zu retten. Doch in einer zynischen Reverenz an den Un­sterb­lich­keits­mythos, der der russischen Bevölkerung vorge­gaukelt wurde, modifiziert Wilson das symbol­träch­tige Ableben des »Wodsch«, der Opfer seines eigenen Terrors wurde, durch eine so amüsante wie monströse fiktionale Variante. Seinem sym­pathi­schen, mutigen und raffinier­ten Helden erspart der Autor hingegen nichts, gönnt ihm nicht einmal ein erträg­liches Ende.

Christopher Wilson ist ein Meister britischer Schrift­steller­speziali­täten wie Ironie und under­state­ment (»Hunger ist außerdem nicht lustig«), dem das Kunststück gelingt, die unfasslich brutale Realität am Ende der Stalin-Ära in all ihrer Schmerz­haftig­keit und Aus­sichts­losig­keit in einer witzig erzählten satirischen Fiktion aus dem Blickwinkel eines cleveren, körperlich beein­trächtig­ten Kindes erlebbar zu machen. Dessen Vater sagt: »So funktio­niert Geschichte, vor allem slawische Geschichte, weil sich hier die Dinge im Handum­drehen von schlecht zu schlechter und von schlimmer zu schlimmer geht’s nicht entwickeln können.« Vielleicht ist so etwas nur mit Sarkas­mus zu ertragen.


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Kommentare

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Zu »Guten Morgen, Genosse Elefant« von Christopher Wilson wurden 1 Kommentare verfasst:

Steffen Bula schrieb am 14.12.2018:

Gut geschrieben. Nur machen Sie aus dem Todesjahr statt 1935 einfach 1953. Dann passt`s.

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