Rezension zu »Mittagsstunde« von Dörte Hansen

Mittagsstunde

von


Von der Abschaffung des Gewohnten, der Melancholie des verlorenen Heimatgefühls und der Suche nach Neuorientierung erzählt Dörte Hansen in ihrem modernen Heimatroman ohne Klischees und ohne Rührseligkeit, dafür mit einer Sprache, die durch Humor, Bilder, Aufrichtigkeit und Herzenswärme besticht.
Belletristik · Penguin · · 320 S. · ISBN 9783328600039
Sprache: de · Herkunft: de

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Brinkebüll ist abgeschafft

Rezension vom 09.12.2018 · 54 x als hilfreich bewertet mit 4 Kommentaren

Was bewegt Dr. Ingwer Feddersen, 47, Archäologe an der Uni Kiel, dazu, ein Sabbatjahr einzulegen, um in den Ort seiner Kindheit und Jugend zurück­zukeh­ren? Und wie ging es zu vor drei Jahrzehnten in Brinkebüll, dem fiktiven Dorf im Geestland nahe Husum, aus dem er stammt und das stell­vertre­tend für viele andere der Epoche steht? Zwischen den beiden Zeitebenen der Handlung – Gegen­wart und Siebziger­jahre – springt Dörte Hansens Erzählung hin und her und breitet ein detail­reiches, lebens­pralles, buntes, nach­denk­lich stimmendes Sittenge­mälde aus.

Zweieinhalb Jahrzehnte hat Ingwer Feddersen in einer »ange­staub­ten Wohn­gemein­schaft« in einer Kieler Villa zugebracht und endlich erkannt, dass das unsortierte Leben nicht seine Welt ist. Wie soll es jetzt weitergehen mit ihm? Er hat viel gutzumachen, glaubt er. Er habe Verrat an seiner Familie, an seiner Heimat begangen. Wie soll es weitergehen mit seinen pflege­bedürf­tigen Groß- und Ersatz­eltern, die er liebevoll Vadder und Mudder nennt?

Damals in Brinkebüll herrschten klare Regeln. Eine von ihnen betraf die »Mittags­stunde«, in der sich der Vater, wenn er von der Arbeit gekommen war und sein Mittagessen serviert bekommen hatte, aufs Ohr legte, um danach gekräftigt an seinen Arbeits­platz zurückzu­kehren. Für ein, zwei Stündchen versank »das betäubte Dorf« in eine Siesta-Starre, während der kein Kind wagte, auch nur eine knarz­gefähr­dete Treppenstufe zu betreten.

Darum herum aber war das Dorfleben durchaus turbulent, und in seinem Mittelpunkt stand der alte Gasthof, den Ingwers Groß­eltern Sönke und Ella Fedder­sen führten, mit Früh­schop­pen am Sonntag, Jubiläen, Hoch­zeiten und Trauer­feiern, wie sie sich gehörten. Der Umbruch begann im Sommer 1965, als drei Inge­nieure ins Dorf kamen, um das Land für die Flur­bereini­gung zu vermessen. In ganz Deutsch­land wurden damals die über Jahrhun­derte ver­erbten, zer­splitter­ten und verstreuten Äcker neu verteilt, so dass wirt­schaft­licher zu bearbei­tende große Flächen entstanden.

So einleuchtend das Konzept, so schwierig die Folgen. Die nun beginnende radikale Ökono­misie­rung der Land­wirt­schaft ersetzte, wenn es gut lief, die Höfe der Groß­bauern durch Agro-Fabriken, und wenn es nicht gut lief, reduzierte sie die kleineren Bauern zu Erwerbs­losen. Mit den Ex-Land­wirten wanderte auch die Infra­struktur ab – der Dorf­lehrer, Tante Emma, Herr Pfarrer, der Postbote, der Kneipen­wirt und der Herr Doktor zogen mit ihrer Klientel in die Städte. Einst lebendige Dorf­gemein­schaf­ten ver­kümmer­ten bis auf den harten Kern der über­leben­den Agrar­manager. Zurück blieben platt­gebü­gelte Land­striche mit endlosen, verödeten Acker­wüsten.

Die Vermesser hinterließen nicht nur ein zerstrit­tenes Brinkebüll, sondern auch eine Frucht der Liebe im Leib der sieb­zehnjäh­rigen Feddersen-Tochter Marret. Die war immer schon »verdreiht … ein Knäuel Mensch, verfilzt, schief aufgerollt«, mit der Schwanger­schaft aber endgültig durch den Wind. Sie geistert als kuriose Vogel­scheuche durchs Dorf, sieht überall Zeichen einer nahenden Apokalypse, auch in den Streifen, die die in der Nähe statio­nierten Bundes­wehr-Star­fighter in den Himmel schreiben. Aber die Dörfler schubsen niemanden wie Marret über den Teller­rand, man »nahm sie hin wie Löcher in den Straßen«.

Von ihrem Söhnchen will »Marret Ünnergang« nichts wissen, weswegen sich die Groß­eltern seiner annehmen und ihm liebevoll alles Menschen­mögliche angedeihen lassen, damit »wat halfwegs Normales« aus ihm werde. So wie Sönke den »Dorfkrug« ganz selbst­verständ­lich von seinem Vater übernommen und sein Leben hinter der Theke verbracht hatte, steht für ihn fest, dass Ingwer in seine Fuß­stapfen treten werde. Der kleine »Kümmer­ling« aber hat »de Nääs in de Böker«, buddelt »Steine und kaputte Töpfe« aus, verlässt das Dorf, macht Abitur und legt eine akademische Karriere hin. Derlei freilich verachtet Sönke und kann sich im Übrigen bis heute nicht erklären, »was da schiefge­laufen war«.

Jetzt ist Sönke ein »sturer Findling«, der trotz seiner 93 Lenze, Arthrose und einem blinden Auge auf seinem Platz hinter der Theke beharrt – umso stärker, als er sich an die zerfa­sernde Welt seiner dementen Ella noch nicht gewöhnt hat. Nur »E-Bike-Pärchen oder Hünengrab-Touristen« verirren sich noch in die Gastwirt­schaft. Sie bestaunen den grünen Sparclub­kasten und die verstaubte Wurlitzer-Musikbox, machen ein Handy­foto von dem krummen, ge­schrumpf­ten Wirt und klopfen ihm beim Bezahlen auf die Schulter, als wäre er »ein altes Zirkus­pferd«.

Immer wieder einmal ist Prof. Dr. Feddersen am Wochenende von Kiel nach Brinkebüll gefahren, um in der Wirtschaft und auf dem Hof zu helfen. Dann hat er im Auto die Neil-Young-CD mitge­sungen, deren wim­mernder Sound ihn moralisch stärkte: »Don’t let it bring you down«. Draußen sah er die menschen­leere Geest, von Gletscher­eis poliertes Alt­moränen­land. »Man hatte hier als Mensch nicht viel zu melden. Man konnte … gegen den Wind anbrüllen … Flüche in den Regen schreien, es brachte nichts.« Er liebte seine Heimat, »wie man an einem abge­liebten Stofftier hing«, und ihre Menschen (»Nordsee­gesich­ter, das Profil von Westwind abge­schlif­fen. Nichts ragte vor, nichts stach heraus, man übersah sie leicht.«) und bemerkte die Verände­rungen der Landschaft (gigan­tische Maisfelder, aus denen »Solaran­lagen oder Windtur­binen wuchsen«) und der Lebensweise.

Von diesen Zeitläuften erzählt der Protagonist, eifrig kommentiert von der auktorialen Stimme der Autorin. Die schickt jedem der 22 Kapitel den Titel eines zum Inhalt passenden Gassen­hauers voraus: »Oh Lord, won’t you buy me a Mercedes Benz«, »Schuld war nur der Bossa Nova«, »Völker, hört die Signale«, »Junge, komm bald wieder« singen wir Leser im Mute-Modus mit. Eigen­artig, wie uns auch die Sprache lebendig und mit vielen dialek­talen Farben in den Ohren erklingt, obwohl Dörte Hansen kaum direkte Rede einsetzt. Statt­dessen fließt ihr ein munter spru­delnder, glasklarer, farbig fun­kelnder Erzähl­fluss aus der Feder, der das Dorfleben in Brinkebüll mit seinen knorrigen, eigenar­tigen, fest verwur­zelten Menschen »in fos­silier­tem Kleidungs­stil« plastisch und detail­reich auf unsere innere Leinwand proji­ziert und die Geschichte ihrer schmerz­lichen Verluste ohne Senti­menta­lität vor Augen führt. Wie sie sehen wir nicht nur Kopf­stein­pflaster und Kastanien­allee verschwin­den, hängen in Gedanken dem strengen Lehrer Steensen nach, der seinen Zwerg­schul-Zöglin­gen die Sprache der Bauern­tölpel, das Platt­deutsche, auszu­treiben suchte, und schauen nach­denk­lich auf die »Kapuzen­kinder« in den Warte­häus­chen der Bushalte­stellen, wie sie »wie kleine Saat­kartof­feln aus dem sandigen Boden gerüttelt und […], damit aus ihnen mal was würde«, täglich Dutzende Kilometer ins Gymnasium gekarrt werden.

Das Bild, das Dörte Hansen zeichnet, ist trotz zahlreicher Dönekes und eines heiteren Grundtons zutiefst menschlich und hinter­gründig. Nicht alles ist dazu da, einfach nur nostal­gisch beschmun­zelt zu werden. Litera­risch nachhaltig beein­druckend schreibt die Autorin über den Themen­kreis Pflege und Sterben. So fragil Sönkes und Ellas Körper geworden sind (»wie kleine Knochen­bündel, die in alten Reise­taschen lagen«), so ent­schieden kämpfen beide um jeden Tag ihrer Selbst­ständig­keit. Dennoch bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich helfen, sich fallen zu lassen. Anrührend, wie schwer es Sönke, der seit Jahren keine Berüh­rung mehr gespürt hat, fällt, jetzt seine Scham abzu­legen – »ein Flucht­tier, das sich langsam an die Menschen­hand gewöhnen musste«. Dörte Hansen spart nichts aus in den Szenen der täglichen Un­achtsam­keiten, der kleinen und großen Malheure, in denen Ingwer seine Großeltern versorgt, aber niemals verlieren die Menschen ihre Würde.

Was Ingwer Feddersen nach Brinkebüll treibt, ist nicht Nostalgie. Es ist Trauer über das Ver­schwin­den einer Lebens­weise, einer Kultur­form, der bäuer­lichen Zeit, die seine Heimat war. Heute wiegt der Verlust schwerer denn je, und mehr Menschen denn je sind sich seiner bewusst, nicht nur in den Städten. Brinkebüll ist längst verdorrt, aber jetzt wieder begehrt. Die Einwohner des Heute auf der Suche nach emotio­naler Erholung wollen Navi-Ziele und idylli­sche Strecken für E-Bike-Touren, und so boomen reani­mierte Dorf­roman­tik und Folklore-Imitate: Leberkäs und Landbier unter Linden, Hofläden in dekorativ ver­gammel­ten Scheunen, Heimat­romane am Bachufer. Die Städter schwärmen von Pferdehöfen, wo niemand auf die Idee käme, im Märzen die Rösslein einzuspannen, solange Töchterchen und Gattinnen das Glück auf dem Rücken der Pferde ausleihen.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Herbst 2018 aufgenommen.


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Zu »Mittagsstunde« von Dörte Hansen wurden 4 Kommentare verfasst:

Ingrid Birkholz-Moniac schrieb am 18.06.2019:

Selten hat mich ein Buch auf so vielfältige Weise berührt, da ist das Entschwinden des Dorfes Brinkebüll und damit einhergehend der Verlust von Heimat , Sesshaftigkeit und Lebensnerv.Ergreifend die Protagonisten , sie stehen vor Dir , zum Anfassen , dringen in deinen Kopf und Seele , du lebst mit ihnen. Dörte Hansen kann man nur danken für dieses Meisterstück.

Franz-Xaver Hansen schrieb am 31.10.2019:

Zwei Gründe haben mich bewogen, "Mittagsstunde" von Dörte Hansen zu lesen: Sie trägt meinen Familiennamen und die Geschichte spielt in der Nähe von Bredstedt, wo mein Grossvater 1931 beerdigt wurde. Auf das Buch bin ich zufällig in einer Literaturpublikation gestossen, ich fand es hervorragend und sehr lebensnah. Die Geschichte erinnert mich an viele Begebenheiten aus meiner eigenen 76-jährigen Lebensgeschichte, die ich in einer "ländlichen" Kleinstadt in der Schweiz verbrachte. Obwohl Brinkebüll nicht nur geographisch zu verorten ist, werde ich im nächsten Jahr Nordfriesland besuchen. Vom Schweizer Hansen-Stamm war bislang noch niemand dort !

Beate Seubert schrieb am 06.02.2020:

Dieses Buch hat mich sehr angesprochen. Frau Hansen hat die Mentalität der Brinkebüller Bewohner, stellvertretretend für viele andere so treffend beschrieben, vor allem das "Nichtausgesprochene", das " Zwischendenwortenstehende" und in Plattdeutsch formulierte ! Das kann für den Einen oder Anderen schon mal zu eng werden. Gut beschrieben auch die Entwicklung des Lebens in dem Ort! Toll!

Cordula schrieb am 01.10.2022:

Selten hat mich ein Buch so berührt. Es gab Stellen da liefen mir die Tränen und andere da zum Lachen. Auf jeden Fall viel zum Nachdenken. Als Stadtmensch und ehemalige DDR Bürgerin habe ich mir auch noch wenig Gedanken gemacht über die Veränderungen der Landwirtschaft im Westen. Auch die Geest mußte ich erst einmal googeln es war eine völlig neue Welt für mich verpackt in eine gute Familiengeschichte.


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