Wunderland
von Claire Messud
Eine alleinstehende Lehrerin mittleren Alters verfällt unerwartet dem Zauber eines aparten kleinen Jungen und seiner Eltern. Der psychologisch erklärbare, dennoch unprofessionelle Verlust der Distanz hat einen hohen Preis.
Blinde Faszination
Ihren Lebenstraum, sich als freischaffende Künstlerin zu verwirklichen, hat Nora Eldridge schon lange drangegeben. Bei der Analyse ihrer Lebenssituation und Abwägung ihrer Alternativen hat sie Vernunft walten lassen und sich für die Sicherheit eines Arbeitsplatzes als Grundschullehrerin entschieden. Erst mit Anfang 30 beginnt sie ihr Lehramtsstudium, und ihr Leben nimmt seinen geregelten Lauf in überschaubarem Rahmen.
Ihre Entwicklung seither teilt Nora selbst in drei Phasen ein: Im »Clark-Kent-Leben« (in Anspielung an »Superman«) funktionierte sie »tüchtig, wenn auch nicht allzu interessant, umgänglich, pünktlich, effizient, unauffällig gekleidet, zweckdienlich frisiert«. Dass das nichts als »eine Maskerade« war, stellte sich im zweiten Abschnitt heraus, als ihr klar wurde, dass ihr als Pendant zum Graue-Maus-Dasein das Heldenhafte fehlt. Niemand kann sich vorstellen, mit ihr eine aufregende Partnerschaft, ein Leben mit »Glamour und Drama« zu führen. Sie erkennt, dass sie »weder Mätresse noch Jägerin, noch Märtyrerin« ist, sondern einzig und allein »Tochter, dienstbare Tochter«. Denn bis zum Ende dieser Phase (vor nunmehr vier Jahren) waren ihre Eltern der dominante Faktor bei allen Entscheidungen und Aktivitäten. Die haben sie nie um Beistand gebeten, noch bestanden Bande der Zuneigung. Es war allein Noras eigenes Pflichtbewusstsein, das sie antrieb, insbesondere während des langwierigen Krebsleidens der Mutter (sie »brauchte Jahre, um zu sterben.
Nun hat sie zwar ihre Unabhängigkeit erlangt, doch erfreuen kann sie sich ihrer nicht. Mit 42 Jahren sitzt sie in einer Gefühlswelt fest, die sie selbst als verkorkst empfindet (ein »Gruselkabinett«) und aus dem sie trotz aller Anstrengungen den Ausgang nicht findet. Von ihrer Umgebung lediglich als die freundliche »Frau im Obergeschoss«. wahrgenommen, sei sie »vollkommen unsichtbar«. Ihre Existenz ist unerfüllt, ohne Abenteuer, ohne Liebe. Was soll da noch kommen? Auch ihr Status als erfahrene, beliebte Lehrerin schenkt ihr keine Befriedigung, sondern frustriert sie eher. Was ist aus dem »revolutionären Gerede der Siebziger« geworden? Die Drittklässlerinnen vor ihr erscheinen ihr gehirngewaschen, »haben nur Lady Gaga und Katy Perry im Kopf«, »irren durch eine Welt von Äußerlichkeiten«.
Nur ganz im Stillen hegt Nora noch ein geheimes Rückzugsgebiet für die Überreste ihres »Künstlerinnen-Ichs«. Sie baut Schaukästen, Puppenstübchen nach realen Vorbildern wie das »karge weiße« Zimmer der menschenscheuen Dichterin Emily Dickinson in Amherst und Liliputdomizile weiterer Künstlerinnen – allesamt psychisch Leidende und ihr im weitesten Sinn artverwandt.
Da geschieht auf einmal etwas, das, wiewohl zu ihrer beruflichen Routine gehörig, Nora dennoch ganz unvorbereitet trifft und ihr Seelenleben auf den Kopf stellt. Ein neuer Schüler wird in ihre Klasse aufgenommen, und von der ersten Begegnung an verfällt sie seiner Faszination. Reza Shahid ist »ein märchenhaftes Kind … ernst und unsicher, mit großen grauen Augen und flatternden Tausendfüßerwimpern«. Fortan gilt dem Achtjährigen ihre ganze Aufmerksamkeit, um alles Böse von ihm fernzuhalten. Zusehends verliert sie die Bodenhaftung, erliegt auch der Attraktivität von Rezas außergewöhnlichen Eltern. Mutter Sirena, gebürtige Italienerin, ist »richtige Künstlerin«, ihr Mann Skander stammt aus Beirut und ist anerkannter Wissenschaftler. Zuletzt lebte die kleine Familie in Paris, jetzt hat sie die Uni mit einem Jahresstipendium über den Atlantik geholt, danach wird man nach Frankreich zurückkehren.
Auf eindringliche Weise beschreibt die Autorin die Zeit, in der Nora sich in einen Strudel der Gefühle hinabziehen lässt, dass sie schier ertrinkt. Ihre eigene Kinderlosigkeit mag den Drang verstärken, Reza als Ersatz-Kind zu lieben und die Rolle einer Ersatz-Mutter für ihn einzunehmen. Der Anziehungskraft, die das glückliche Familienleben ausübt, hat die farblose Nora nichts entgegenzusetzen. Bald wächst ihre intensive Zuneigung zu Sirena (»Schmetterlinge im Bauch«) zu unzähmbaren Monstern heran, und alle Dämme brechen, als sie erfährt, dass die Italienerin »Installationskünstlerin« ist, und zaghaft gesteht, sie »mache auch Kunst«. Die beiden teilen sich ein gemietetes Atelier, und wer wäre als Babysitterin für Reza besser geeignet als seine Lehrerin? Auch Skander kommt ins Spiel. Achtet er anfangs auf Distanz, wenn er Nora nach dem Babysitten nach Hause bringt, fällt das schwer, wenn man einen »güldenen Heiligenschein« trägt und als »Gottesgeschenk« angehimmelt wird.
Die amerikanische Schriftstellerin Claire Messud hat ihren Roman »The Woman Upstairs« bereits 2013 veröffentlicht. Für die deutschsprachige Ausgabe (Übersetzung von Monika Baark) hat man den Titel »Wunderland« gewählt. Der Begriff stammt aus der Handlung selbst. Es ist der Titel einer Videoinstallation, die Sirena konzipiert hat (»eine spirituelle Entdeckungsreise der existierenden Welt«). Doch er bezeichnet auch gut Noras Fantasiewelt. Spätestens nach den ersten hundert Seiten wird jedem Leser klar sein, dass Nora all ihre Sehnsüchte im Übermaß auf die drei Menschen projiziert und dass so etwas nicht gut ausgehen kann. Am Ende (man sehe mir das Spoilern nach) findet sich die enttäuschte Protagonistin heftig aus ihrem »Wunderland« gerissen und »wie Dreck behandelt«.
Nun ist in der Fiktion freilich alles erlaubt, selbst eine so hochgradig emotionalisierte Figur wie Nora. Aber in der Realität ist kaum vorstellbar, dass eine Lehrerin mit vielen Jahren Berufserfahrung sich derart naiv von den unschuldigen Reizen eines Kindes und dem Charme eines weltgewandten Elternpaares übermannen lässt, bis zur Selbstgefährdung jegliche Distanz verliert und alle Warnzeichen übersieht. Immerhin kann die Autorin an diesem lebensfremden Charakter, der bisweilen agiert wie unter Hypnose, ihr anerkennenswertes literarisches Gestaltungs- und Sprachpotenzial ausreizen. In ihren analytisch präzisen, zupackenden Formulierungen sind Übertreibungen das Salz in der Suppe, wenn nicht gar »das gelbe Fett auf der Außenseite der Leberpastete«, und manchmal gibt es noch einen Klecks Kitschsoße als Beilage:
»Sie sah, dass ich sie mit meinem liebevollen und törichten Blick ansah, und zog eine Augenbraue hoch – um was zu sagen? ›Ich sehe, wer du bist‹? ›Ich verstehe‹? ›Wir sind hier zusammen‹? – und nahm meine Hand, die auf dem Tisch lag, und hielt sie. […] ›Wäre nur jeder Tag wie dieser, cara mia!‹ […] Ich spürte [ihre Hand] durch meinen ganzen Körper hindurch. Ich spürte ihre Haut. Ich spürte sie wirklich.«