Rezension zu »Die Theologie des Wildschweins« von Gesuino Némus

Die Theologie des Wildschweins

von


In einem sardischen Bergdorf wird ein Mann ermordet. Die Aufklärung obliegt dem Carabiniere De Stefani. Dem Piemonteser wird der Zugang zu den eigenwilligen Bewohnern und ihren Mysterien nicht leicht gemacht. Ein erzählerisches Feuerwerk, ein Irrgarten, ein Panoptikum, ein Freitauchgang in Atmosphäre und Kultur Sardiniens.
Kriminalroman · Eisele · · 288 S. · ISBN 9783961610983
Sprache: de · Herkunft: it · Region: Sardinien

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Niemand weiß etwas

Rezension vom 20.08.2021 · 2 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Am 21. Juli 1969 bewegt die ganze Welt nur eines: Wird heute der erste Mensch auf dem Mond landen? Die ganze Welt? Nein! In einem abge­legenen Bergdorf auf Sardinien zele­briert Antoni Esulògu »is lùnis« (den Montag) nun schon zum dritten Mal auf seine Weise. Da lässt sich der Kauz mit einem Rucksack voll rusti­kalem Proviant und einem Liter Cannonau-Rotwein, dem Lebens­elixier der Gegend, vor der Dorf­kirche nieder und trällert vergnüg­lich ein sardi­sches Bänkel­lied: »Ich habe Putzus Kumpan gesehen, wie er mit Hacke, Spaten und Gabel einen Graben aushob«. Das seltsame Gebaren gibt nicht nur Don Cossu, dem schlitz­ohrigen Jesuiten, zu denken, sondern vor allem dem Mare­sciallo De Stefani.

Der hochgewachsene, agile Carabiniere hat es nicht leicht in Telévras, dem »von Gott und dem Teufel verges­senen Dorf« in der Provinz Ogliastra im Osten Sardi­niens, wohin er vier Jahre zuvor aus dem fernen Piemont versetzt worden war. Der Kontrast zwischen den eigen­willigen, gewitzten Einheimi­schen und dem pflicht­erfüllten Nord­italiener mit seinen klaren Grund­sätzen könnte nicht größer sein. Die Leute hier belächeln ihn mehr als dass sie ihn respek­tieren, zumal er ihnen als hoch­näsiger Reprä­sentant der unge­liebten Savoyer im fernen Turin erscheint.

Maresciallo De Stefani weiß nicht recht, ob er »ins Paradies oder die Hölle« geraten ist. Einer­seits liebt er die hier populäre Wild­schwein­jagd, anderer­seits ist seine beruf­liche Bilanz nieder­schmet­ternd: Neben zahllosen Hand­greiflich­keiten und Vieh­dieb­stählen sowie sieben Suiziden hatte er es mit zwei Entfüh­rungen und drei Morden zu tun, doch obwohl eigent­lich jeder im Dorf verdäch­tig war, hatte er keinen Täter über­führen können. Und dann gerät er schon aus Prinzip immer wieder mit Don Cossu anein­ander. Der Pfarrer hält sämtliche Fäden im Dorf zusammen, nichts geschieht ohne ihn. Er kennt die Sorgen und Nöte von jedem seiner Schäflein und auch ihre Misse­taten. Denn in der Gewiss­heit, dass jedes Geständ­nis im Beicht­stuhl sicher verwahrt ist, erleich­tert sich dort mancher von kleiner und großer Schulden­last. Des Pfarrers beinhart vertei­digte Schweige­pflicht ist De Stefani ein bestän­diger Dorn im Auge. Immerhin versucht der Pfarrer, dem Zuge­reisten verständ­lich zu machen, wie die dörfliche Gemein­schaft tickt. Wo jeder mit jedem irgendwie verban­delt ist, bleibt sozusagen alles in der Familie. Die geklauten Schafe werden zu Weih­nachten oder Ostern bei einem zünftigen Fest in wein­seliger Stimmung gemeinsam ver­schmaust, die Betrü­gerei ist aufge­hoben, die Welt wieder in Ordnung. Hier piemonte­sische Prinzi­pien einführen zu wollen ist reine Zeitver­schwendung.

Nun hat der Maresciallo mit seinen beiden örtlichen Carabinieri einen neuen Fall an der Backe. Bachisio Trudìno ist verschwun­den, aber das interes­siert offenbar niemanden, jeden­falls ist »diesen Sarden«, Don Cossu einge­schlossen, keine Andeutung dazu zu entlocken. Wie das hier nicht unüblich ist, wird der bitter­arme Familien­vater, Entführer, Analpha­bet und Alko­holiker wohl einfach eine Weile unterge­taucht, dabei viel­leicht erschos­sen worden sein. Ob Antoni Esulògus provo­kantes Lied von »Putzus Kumpan« und seinem Graben ein Nadel­stich in der Sache ist? Dorf-Cara­biniere Piras, allseits beliebt, weil er vor kleinen und großen Verstößen gern nach­sichtig die Augen schließt, weiß, auf welche Abwege die Armut die Leute treibt: Wer als Vorbe­strafter spurlos verschwin­det, erspart den Hinter­bliebenen die Kosten seiner Beerdi­gung.

Don Cossu hilft der Familie, indem er Bachisios Sohn Matteo im Pfarrhaus ein­quartiert. Der knapp zwölf­jährige Junge erweist sich als hochbe­gabtes Genie, wie es nur in der Fiktion er­schaffen sein kann: Er kann die Orgel spielen, das Tauf­register führen, seinem Wohltäter den richtigen Gebrauch des Kon­junktivs bei­bringen. Außerdem nimmt er sich eines zweiten, ungefähr gleich­altrigen Knaben an, den Don Cossu ebenfalls unter seine Fittiche genommen hat. Der war ein Findel­kind, erhielt den Namen Gesuino Némus (»Jesulein Niemand«) und wurde in den Bergen von Zia Battis­tina großge­zogen (»Zia« ist in Sardinien eine respekt­volle Bezeich­nung für jede ältere Frau). Matteo beschützt den wegen seiner Gedächt­nis- und Sprach­probleme gehän­selten Jungen, die beiden Mess­diener verstän­digen sich auf eigene Weise, werden Freunde und schwören, einander niemals zu verraten. Als Hilfe gegen das Vergessen soll Gesuino täglich etwas auf­schreiben – oft ist es nur ein Wort oder ein Satz, aber immer, auch später noch, fließen seine Texte »ohne Punkt und Komma« dahin.

Schließlich hat es De Stefani mit zwei Leichen und einem Gewirr von Geheim­nissen und unge­klärten Schuld­fragen zu tun, und damit ist das Wesent­liche der Handlung schon umrissen. Doch sie macht ohnehin nicht das Haupt­vergnügen beim Lesen aus. Mit Telévras hat der Autor Matteo Locci (der sich hinter dem Pseudonym Gesuino Némus verbirgt) seiner sardi­schen Heimat (er wurde 1958 in Jerzu geboren) ein innova­tives, eigen­willig-mar­kantes literari­sches Gesicht gegeben. Seit den Fünfziger­jahren erkun­deten Anthro­pologen, Schrift­steller und Filme­macher die archai­sche Hirten­kultur der Insel mit ihren rigiden Ehr- und Rechts­begriffen, wie sie sich in manchen Gebirgs­regionen bis heute erhalten hat, und themati­sierten in ergrei­fenden Plots den oft konflikt­reichen Wandel zu einer ›modernen‹ Gesell­schaft, den der Tourismus vorange­trieben hat. Locci fabuliert dagegen unbe­schwert und ver­schmitzt von den kleinen Alltags­ereignis­sen in einem abgele­genen Dorf, in dem gewisse Verhal­tens- und Denk­weisen bewahrt sind, aber an der Schwelle zur Gegenwart aufge­brochen werden. Den ›Fort­schritt‹ zu problema­tisieren ist nicht sein Anliegen – eher schon, Sympathie zu wecken für die liebens­werten, schlich­ten, kauzigen, derben, fest verwur­zelten Menschen. In inten­siven Schilde­rungen über ein halbes Jahr­hundert italieni­scher Geschichte zwischen Tradition und Moderne hin taucht er uns mit allen Sinnen in die Land­schaften, Licht und Schatten, Düfte und Geschmä­cker ein (»zum Zopf gefloch­tenes Ziegen­fleisch mit Erbsen«), und dazu gehört das Erklingen­lassen der eigen­artigen sardi­schen Sprache mit ihren spani­schen und lateini­schen Elementen, für die auch Italiener einen Dolmet­scher benötigen. Erfreu­licher­weise behält die Über­setzerin Sylvia Spatz viele Kost­proben im Erzähl­text und den Kapitel­über­schriften bei, natürlich nicht ohne die deutsche Entspre­chung anzufügen.

Darüber hinaus ist Locci ein außerge­wöhnlich fantasie­voller und wage­mutiger Erzähler. Es macht ihm offen­kundig Spaß, uns durch Zeit­sprünge, Neben­handlun­gen und kühne Perpektiv­wechsel herauszu­fordern (selbst ein Bartgeier darf seine Sicht­weise beitragen). Die Zahl der Figuren, Themen, Anspie­lungen und Zitate geht gegen unendlich, Autoren, Musiker, Philo­sophen, Shake­speare, der Dichter-Sänger Fabrizio de André, Martin Luther geben einander die Klinke in die Hand. In diesem schil­lernd-schäu­menden Textfluss kann es anstren­gend werden, über Wasser bleiben zu wollen; trotz Konzen­tration und Geduld bleibt manches am Ende undurch­schaubar, rätsel­haft – ein Irrgarten ohne Ausgang. Gut, wenn man sich fallen lassen, über Aha-Effekte freuen, die quirligen Sprach­spiele genießen kann.

Mir hat gerade diese unkonventionelle Art des nicht immer strin­genten Ablaufs Spaß gemacht, denn was man viel­leicht zunächst als simple Gags wegsteckt, gibt oft Anlass und Stoff für tief­sinnigere Über­legungen. Hier ver­fließen alle Grenzen zwischen Ernst und Scherz, Genie und Wahnsinn, Handlungs­figur, Erzähler und Autor. Teilen Matteo Locci und Matteo Trudìno ihre Vornamen und Talente viel­leicht nur zufällig, so schillert die Pseudonym-gebende Figur des Gesuino Némus in vielen Farben. Am Ende des Kriminal­romans erweist sich ausge­rechnet der »Dorf­trottel« als der Wissende. Schon als Kind hatte er den Wunsch, Schrift­steller zu werden. Gleich­zeitig kommt Don Egisto Cossu ins Spiel, der zur höheren Ehre Gottes (»Ad maiorem Dei gloriam«), aber unter eigenem Namen die »Theologie des Wild­schweins« veröffent­licht, nachdem er sich aller­dings klamm­heimlich Gesuinos Notiz­zettel ange­eignet hat. Unter seiner schelmen­haften Ober­fläche hat dieser unter­haltsame Roman, dessen Ton eigen­artig heiter und zugleich leicht melancho­lisch-tragisch ist, mehr zu bieten, als es auf den ersten Blick erscheint.

Originalausgabe:
»La teologia del cinghiale«
(2015, Verlag Elliott, Roma)
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Der originelle Debütroman, vielstimmig, sinnen­freudig, patrio­tisch und ironisch, wurde mit vielen Preisen bedacht, u.a. dem Premio Campiello Opera Prima, und hat inzwi­schen vier Nachfolge­bände. Der römische Elliott-Verlag hat allen fünfen aufwändig und originell gestal­tete Cover spendiert. Sie erinnern an glorifi­zierende Altar­bilder und nehmen damit die ketzeri­schen Anspie­lungen der theologi­schen Begriffe in ihren Titeln auf. Für die deutsch­sprachige Ausgabe war das prächtige Wild­schwein mit Heiligen­schein auf strah­lendem blauem Grund womöglich zu frech. Schade – es wurde durch eine korrekt gezähmte Sau ersetzt.


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