Die Geschichte eines einfachen Mannes
von Timon Karl Kaleyta
Aufgewachsen in einfachen Ruhrpott-Verhältnissen, macht ein Junge, der selbst nicht viel Substanz mitbringt, auf seine Weise Karriere.
Ein Glücksritter
Der Lebensweg des Protagonisten dieses Romans ist weder holprig noch steinig, sondern gleicht eher dem entspannten Dahinschaukeln auf der Luftmatratze in sommerlich-seichten Gewässern, ganz wie es das Cover des Buches evoziert. Die Stadt Fulda fand Timon Karl Kaleytas Werk so herausragend, dass sie ihm ihren Literaturpreis für das beste Debüt des Jahres verlieh.
Sorglos und selbstgewiss wie der plätschernde Sunnyboy des Umschlagsbildes kommt der namenlose Ich-Erzähler daher. Dabei sind seine Startbedingungen nicht gerade rosig. Er entstammt der Arbeiterklasse. Seine Eltern schuften tagein, tagaus in einer Fabrik des Ruhrpotts. Abends kehren sie »von oben bis unten mit Ruß und Öl verschmiert« in ihr bescheidenes Reihenhäuschen zurück, erschöpft, doch gut gelaunt und entschlossen, ihrem einzigen Kind all ihre Liebe und jegliches Wohl angedeihen zu lassen. So genießt der Bub Kindheit und Jugend »als eine einzige, nie endende Aneinanderreihung schöner und allerschönster Momente« in grenzenloser Freiheit.
Obendrein ist dieses Glückskind ein ansehnlicher, sportlicher Knabe, der die Schulzeit ohne die leiseste Anstrengung mit Bravour durchläuft. Kein Wunder, dass er seinen gesegneten Zustand zu konservieren bestrebt ist. Für die anstehende Neuwahl des Bundestages wünscht er sich, dass alles so bleiben möge wie bisher. Mit seinem Sticker »Ich bin für Kohl« plus CDU-Logo steht er freilich »auf der falschen Seite der Geschichte«, isoliert als Ewiggestriger, denn nicht nur die Ruhrpott-Arbeiterschaft, sondern auch das Lehrerkollegium und alle Mitschüler sehnen sich keinesfalls nach einer fünften Amtszeit des Kanzlers der Einheit, sondern nach Umsturz. Nach Gerhard Schröders Wahlsieg am 27. September 1998 muss er einer ungewissen Zukunft entgegenbangen.
Wer glaubt, der Primaner habe nun den großen Ruck verspürt und als Weckruf zu eigener weltverändernder Initiative verstanden, der irrt. Das Abitur besteht er souverän mit Auszeichnung. Als ihm ein frisch verbeamteter Studienrat beim Abschlussball die banalste aller Fragen stellt (»Wissen Sie schon, was Sie nun mit Ihrem Leben anfangen wollen?«), ist der junge Held angewidert von solch »mickriger Vorstellung vom Leben«. Allerdings möchten auch die Eltern wissen, wohin die Reise nun gehen soll. Eine solide »Ausbildung« vielleicht? Aber harte Arbeit kommt natürlich nicht in Frage. Das würden schon seine »unglaublich weichen Hände« niemals zulassen. Und mit geistiger Anstrengung verhält es sich, mutatis mutandis, nicht anders. Nein, unser Hans im Glück blickt weiterhin voller Vertrauen in die Zukunft. Warum sollte er tätig werden? Alles was kommen musste, würde auch kommen. Und ohnehin hat er nur eine Ambition: Reich werden.
Erst einmal nutzt er ein gutes halbes Jahr, um, befreit von jeglichen Zwängen, seiner »Phantasie freien Lauf« zu lassen. Obgleich der Weggang seiner besten Freunde Vincent und Sebastian die Befindlichkeit des Nichtstuers eintrübt, ist es im Nachhinein wohl die »schönste Zeit meines Lebens«. Sie geht zu Ende, als die Eltern Druck machen und »in den Vereinigten Staaten aus heiterem Himmel die Türme des World Trade Centers einstürzten«. Die weltweite Krise und die Erkenntnis, »dass etwas Grundsätzliches ins Wanken geraten war«, gehen nicht spurlos an unserem Sonntagskind vorbei. Er schläft schlecht, ist psychisch niedergeschlagen. Das Glück, so scheint ihm, hat ihn verlassen und beschenkt nun »ausgerechnet Personen …, die es weniger verdient oder nötig gehabt hätten«.
So reüssiert Sebastian, Sohn aus reichem Zahnarzthaushalt, als Musiker. Doch wenn die Not am größten, ist die Hülf’ am nächsten, und dann sind Sebastian und Vincent als Rettungsanker (insbesondere in finanzieller Hinsicht) allemal gut genug. Der Gebeutelte sucht Sebastian auf, »sank auf den kühlen Marmor«, »weinte Tränenbäche vor ihn hin«, beichtet demütig seine Ängste und gesteht seinen sehnlichsten Wunsch, genauso erfolgreich im Leben zu sein. Leiten ihn bei dieser Show Einsicht oder Neid, Selbstmitleid oder dreiste Berechnung? Egal, im weiteren Handlungsverlauf steigt dieser Lebenskünstler ohne jeglichen »musikalischen Sachverstand« tatsächlich selbst ins Musikgeschäft ein, schreibt einen Hit und glaubt mit Konzertreisen das dicke Geld zu verdienen – nur eine der grotesken Possen in diesem unterhaltsamen Sommerroman.
Für das angestrebte Medizinstudium verpasst er den Immatrikulationstermin, für andere Wissenschaften reicht sein Abidurchschnitt nicht, und so landet er im Massenbetrieb desinteressierter Geisteswissenschaftler, die die Gesellschaft nie brauchen würde. Seinen Eltern, die um die Zukunft ihres Sohnes besorgt sind, gaukelt er mit einer »Art Zauberformel« aus vagen, aber hoffnungsschwangeren Aussagen ein glorioses Studentenleben vor und versetzt sie damit in Hochgefühle von Glück und Stolz. Tatsächlich aber reiht sich Niederlage an Niederlage, und dennoch will unser Narzisst herausgefordert sein. So sucht er den Professor auf, dessen Buch (Pflichtlektüre natürlich!) explosiven Diskussionsstoff birgt. Der Soziologe propagiert darin die (unzeitgemäße) These, man könne seine Herkunft nicht abschütteln, ein einfacher Mann bleibe demnach für alle Zeiten seiner Klasse verhaftet.
Zu Freude und Bewunderung der Eltern schließt der Sprössling auch sein Studium mit Bestnoten ab. Doch die sind absolut nichts wert, da sie an der Uni wie Klamotten im Ausverkauf verramscht werden. Was jetzt? Freund Vincent empfiehlt ein Auslandsstudium mit »Bildungskredit« des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, und der Prof rät kurz und bündig: »Heiraten Sie reich!«
Mit Sympathie und Ironie entwickelt Timon Karl Kaleyta einen Menschen, der als Götterliebling auf seinem Lebensweg dahingleitet. Anstrengen mag er sich nicht, Erfolge sollen ihm trotzdem zufallen. Den Mangel an Talent, Kompetenz, Solidität und Tatkraft in wesentlichen Bereichen kann die gehörige Portion Selbstüberschätzung nicht kompensieren. Obwohl er zu einer sonnigen Weltsicht neigt (»So einfach also war das alles«), zaudert er ängstlich vor jedem Schritt, hadert vor jeder anstehenden Entscheidung, kompliziert dadurch alles übermäßig. Rückschläge pflastern seinen Weg, und dennoch vermag er aus seinen Frustrationserlebnissen optimistische Schlussfolgerungen zu ziehen, indem er sich selber überhöht: »Ich habe so viel erreicht, … viel mehr als all diese Idioten, mit denen ich mal Abitur gemacht habe.«
Liest man die Biografie des Autors nach, findet man manche mögliche Parallele im Plot wieder (Studium in Bochum, Madrid und Düsseldorf, Karriere im Musik-Business, finanzielles Scheitern) – die dominierenden Themen der Handlung sind denn auch studentisches Leben und die Musikszene. Das Ganze taugt als harmlos-seichter Schelmenroman, aber einen tieferen Sinn (Gesellschaftskritik? gar klassenkämpferische Botschaften?) konnte ich nicht ausmachen. Am Ende kriegt jeder sein Fett weg, auch der selbstverliebte Ich-Erzähler. Der Leser ist versöhnt, und zurück bleibt der Eindruck, gut und leichtfüßig unterhalten worden zu sein – nicht mehr, nicht weniger.