Wie soll es weitergehen?
In seinem neuesten Roman schildert Colm Tóibín den schwierigen Weg seiner Heldin Nora Webster zu ihrer Selbstfindung. Nach dem unerwarteten Tod ihres geliebten Mannes Maurice steht die 46-Jährige nach einundzwanzig glücklichen Ehejahren vor der Notwendigkeit einer Neuorientierung. Allein auf ihre eigene Persönlichkeit zu bauen ist ihr nicht ohne weiteres möglich, denn es sind die späten Sechzigerjahre, und sie lebt in Enniscorthy, einer Kleinstadt im Südosten Irlands, wo man unversehens aus der Kurve getragen wird und zum Außenseiter gerät, wenn man den gängigen Konventionen nicht die erwartete Folgsamkeit angedeihen lässt.
In die rückständige Enge dieses Ortes wird man hineingeboren, und nur wenige schaffen es, sich daraus zu befreien. (Einer von ihnen ist Colm Tóibín selbst; er wurde 1955 hier geboren.) Die Bande der sozialen Kontrolle sind straff gezurrt. Jeder kennt jeden, man beäugt einander argwöhnisch, braucht sich unter seinesgleichen nicht mit Kommentaren im Guten wie im Bösen zurückzuhalten. Beim Tee der Hausfrauen und im Golfclub der Männer werden Klatsch und Tratsch spitzzüngig weitergereicht. Je nach sozialem Status im kleinbürgerlichen Gefüge darf man sich Anmaßungen und Überheblichkeit erlauben oder hält sich besser bedeckt und gibt sich devot. Oberste Instanz in allem ist die katholische Kirche, aber ein Hort der Nächstenliebe ist sie nicht.
Maurice Webster war ein angesehener Bürger, ein beliebter Lehrer. Noch Monate nach seinem Tod kommen Nachbarn, Freunde, Bekannte ins Haus, um ihr Beileid auszudrücken. Ihre mitfühlenden Gesten, Worte und Blicke schmerzen Nora. Aber die Hoffnung, dass es endlich aufhöre, wird gleich zerfressen von der Angst, die Leute könnten sie zu meiden beginnen. Plötzlich allein mit der Verantwortung für vier Kinder, plötzlich alleinstehende Frau in einer Kleinstadt, plötzlich allein mit ihrer Trauer als Witwe – welche Signale muss, darf sie an ihre Umgebung senden? Ihre besten Freundinnen könnten ihr beistehen, wären sie nicht längst nach Dublin verzogen.
Obwohl sich immer alles um die Kinder gedreht hatte, vermag Nora nicht einmal sie zu trösten oder ihnen gegenüber ihre Emotionen zu offenbaren. Vor den halbwüchsigen Söhnen Donal und Conor verbirgt sie ihre Trauer ebenso wie die täglich wachsenden Alltagssorgen und finanziellen Nöte. Die beiden fast erwachsenen Töchter Fiona und Aisne kommen nur am Wochenende aus ihren Colleges nach Hause. So geht jedes Familienmitglied anders mit seinen Verlustgefühlen um. Die Distanzen sind unüberbrückbar. Man versinkt in Gedanken, schweigt, die Töchter wirken abweisend, Donal stottert zunehmend, schreit im Schlaf. Als es mit Maurice zu Ende ging, fühlte sich Nora völlig überfordert und quartierte die Söhne für zwei Monate bei Tante Josie ein. Jetzt schlagen ihr heftige Vorwürfe entgegen, sie habe die Jungen abgeschoben und vernachlässigt.
Wie soll es weitergehen? Die kleine Rente, die ihr zusteht, erlaubt keine großen Sprünge. Um die ersten finanziellen Hürden zu nehmen, muss sie das Wochenendhäuschen am Meer verkaufen, ausgerechnet diesen Ort schöner gemeinsamer Erinnerungen, der die Familie vereinte. Dann wird sie sich um eine Arbeitsstelle kümmern müssen, am liebsten in Teilzeit. Aber die Auswahl ist nicht groß, zumal sie als junges Mädchen keine Schulausbildung abschließen konnte, wie sie sie gern gewollt und sicherlich geschafft hätte. Wie schon als Fünfzehnjährige wird sie sich wohl oder übel wieder mit einem Bürojob voller Demütigungen und Konfrontationen bei den Gibneys begnügen müssen, der Familie, die in der Gegend den Ton angibt und das letzte Wort hat.
Nora muss sich eingestehen, dass Freiheit und Sicherheit, die die Ehe mit Maurice ihr geschenkt hatte, unwiederbringlich dahin sind. Zwar ist sie stark, impulsiv und starrköpfig genug, um neue Wege zu beschreiten, im Innersten aber unsicher und immer darauf bedacht, den vermuteten Erwartungen der anderen zu entsprechen. Mit ihrer komplexen, widersprüchlichen Persönlichkeit fühlt sie sich unwohl in ihren ungewohnten neuen Rollen, hadert mit jeder Entscheidung, trifft dann tatsächlich leicht daneben, rutscht auf dem Parkett der Konventionen aus, verliert selbst die Zustimmung ihrer Kinder, von der der kritischen Mitbürger ganz zu schweigen. Ohne jedes Maß schlägt sie zurück, wenn sie sich persönlich angegriffen glaubt oder meint, ihren Kindern geschehe eine Ungerechtigkeit.
In diesem Mikrokosmos, wo allüberall subtile Fallen lauern und Nora nicht selten mit dem Vorschlaghammer wütet, entwickelt Colm Tóibín ihre Geschichte nicht einfach fortschreitend, sondern wie in konzentrischen Kreisen über drei Jahre. So lange wird sie brauchen, bis sie Maurice loslassen, seine Kleidung entsorgen, die intimen Briefe ins Feuer werfen und das Haus renovieren kann.
Colm Tóibíns atmosphärischer Roman »Nora Webster« , den Ditte und Giovanni Bandini übersetzt haben, lebt nicht zuletzt von seinem fremd anmutenden irischen Zeit- und Lokalkolorit, aber in erster Linie von seiner Protagonistin. Inmitten der nach allen Seiten herummäkelnden Mitmenschen ein stabiles, selbstsicheres Ich aufzubauen erscheint schier unmöglich. Am Ende ist sie erschöpft. Als sie in einem Fiebertraum Maurice wiedersieht, sehnt sie sich danach, seine Meinung zu ihrer und ihrer Kinder Zukunft zu hören: »Wird es uns gut gehen?«