Rezension zu »Stirpe selvaggia« von Eraldo Baldini

Stirpe selvaggia

von


Belletristik · Einaudi · · Taschenbuch · 304 S. · ISBN 9788806225926
Sprache: it · Herkunft: it · Region: Emilia-Romagna

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Das wilde Leben im Wald - Segen und Fluch

Rezension vom 09.01.2017 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Eraldo Baldini hat ein Genre erfunden. Nachdem sich der heimat­ver­bun­dene Mann, 1952 bei Ravenna geboren, schon immer für die volks­tümlichen Tradi­tionen seiner länd­lichen Region begeistert und wissen­schaft­liche Aufsätze darüber verfasst hatte, begann er in den Neun­ziger­jahren, auch Geschichten und Romane mit dieser Thematik zu schreiben. Mit »Gotico rurale« Eraldo Baldini: »Gotico rurale« bei Amazon, einer Sammlung von Erzäh­lungen, gelang ihm im Jahr 2000 der Durch­bruch, und fortan diente der Titel dieses Kult­buches auch gleich als Genre­bezeich­nung für andere Werke dieser Spielart. Sie verbindet realis­tische Krimi- oder Aben­teuer-Plots mit unauf­dringlich einge­setzten, teils relati­vierten (»almeno a sentir lei«) Elemen­ten aus lokalen Mythen, Sagen und Märchen sowie einer Spur Horror und Fantasy. Damit trans­poniert Baldini gewisser­maßen eine rational gut verträg­liche Form der Gothic novel aus den nebel­verhan­genen britischen Moor­land­schaf­ten ins Land, wo die Zitronen blühen.

Baldinis neuester Roman »Stirpe selvaggia«, am 29. November 2016 erschienen, spielt in den ersten vier Jahr­zehn­ten des zwan­zigsten Jahr­hun­derts in der düsteren, rauen, gebirgi­gen und wald­reichen Appenin-Region der Romagna, wo sie im Süden an die Toskana grenzt. Der Autor zeichnet vor­wiegend Bilder vom harten, urtüm­lichen und grau­samen Leben, das die armen, ein­fachen und erd­verbun­denen Menschen dort führten. Die Städte in der Po-Ebene – Faenza, Ravenna – spielen nur zeit­weise eine Rolle, als ferne Orte des Handels, der Bildung, des Militärs, der Politik und der Kirche; das Meer kann man nur unter güns­tigsten Bedin­gungen als Streifen in der Ferne aus­machen – aus eigener Anschau­ung kennt es niemand.

Im (fiktiven) Bergdorf San Sebastiano in Alpe wachsen Amerigo Timossi, Mariano Sintini und Rachele Ceroni, etwa gleich­altrig, als unzer­trenn­liche Freunde auf. In der Tat wird ihre Verbin­dung ihr Leben lang halten, so weit ihre Wege auch aus­einander­laufen. Die drei Kinder haben höchst unter­schied­liche Hinter­gründe. Einzig Mariano stammt aus einer ›gut­bürger­lichen‹ Familie im tradi­tionellen Sinne; seine Eltern betreiben ein Geschäft für Saatgut und Geräte und haben ihrem Sohn Bildungs- und Aufstiegs­willen ver­mittelt. Amerigo, die zentrale Figur des ganzen Romans, wurde, wie schon seine Mutter Giulia, von deren urigem Vater Luigi großge­zogen. Er prägte den Jungen für ein völlig ungebun­denes und weltab­gewandtes Leben in der freien Natur, wo ihm bald schon nichts fremd ist, seien es Gefahren, Schön­heit oder Bruta­li­tät. »Il coltello è un buon fratello«, lautet einer der Leitsätze, die Amerigos Wesen beein­flussen werden.

Ein zweiter Umstand, der Amerigos Lebenslauf bestimmt, ist die Persön­lichkeit seines Vaters. Das ist kein Gerin­gerer als William Frederick Cody, bekannt als Buffalo Bill. Wie in aller Welt das möglich ist, erzählt uns der Autor durch und durch plausibel in einem der Seiten­stränge. Als junges Mädchen wurde die an­stellige Giulia von der Contessa Elisa­betta Fulvia Barnini, einer Opern­sängerin, in Dienst genommen – ein Segen und ein Fluch zugleich. Bei ihr lernt Giulia die feine Lebens­art kennen, doch erwächst daraus auch eine Feind­schaft auf Leben und Tod. Zunächst aber darf Giulia die Diva auf einer aus­giebigen Tournee durch die USA begleiten und gerät bei einer Promi-Party in die Fänge des Wild-West-Helden. Als unver­heiratete Mutter kehrt die Achtzehn­jährige mit ihrem Neuge­borenen zu ihrem Großvater nach San Sebastiano zurück.

Racheles Mutter Alma ist eine starke Persön­lichkeit mit offenen Sinnen für alles, was Natur­glaube, bäuer­liche Erfah­rungen und Erzäh­lungen über­liefert haben. Schon als Kind hat sie es geschafft, den Mazza­pegolo, ein mal bös­artiges, mal gut­williges kleines Gnom­wesen mit rotem Woll­mütz­chen, für ihre Dienste einzu­spannen. Mit ihrem uralten Wissen, ihren Heil­kräften und guten Kontak­ten zu »l'altra gente«, großen und kleinen Märchen- und Zauber­wesen aller Art, ist sie als Heb­amme und Medizin­frau des Dorfes – eine Art gute Hexe – so geschätzt wie rätselhaft: »Una benedizione e una maledizione insieme«. Die Zerr­eiche, die sie vor ihrem Häus­chen pflanzt, wird zu einem Leit­symbol für das Wohl­ergehen der ganzen Gemein­schaft, und ihr alters­loser Hund Belva wird auch noch ihre Tochter Rachele durchs Leben begleiten (»angelo custode e nume tutelare che sapeva sempre cosa fare, perché il suo sapere non era quello di un cane, ma quello enorme del mondo«).

Auf diesem Grundgerüst entwickelt Eraldo Baldini ein weit verzweigtes, in sich schlüssig konstru­iertes, aben­teuer­reiches Hand­lungs­geflecht, das eng mit den politi­schen, wirt­schaft­lichen und sozialen Verände­rungen jener Jahre verwoben wird. Dreh- und Angel­punkt bleibt stets die bäuer­liche Kultur der Berge, aber wir lesen auch, wie sich die Prota­gonisten mit den Cara­binieri des Königs, in den unmensch­lichen Schlachten des Ersten Welt­kriegs und im Faschis­mus schlagen. Die Erzähl­struktur ist im Wesent­lichen schlicht chro­no­logisch, nur die Vorge­schichten einiger wichtiger Figuren werden in sepa­raten Kapiteln einge­bettet.

Der Autor – bei uns noch völlig unbekannt – schreibt mit sehr sicherem Gefühl für präzisen, diffe­renzier­ten, ästheti­schen Stil, erzählt ohne Mätz­chen warm­herzig und mit viel Verständnis für seine Figuren (die oft genug frag­würdige Ent­scheidun­gen treffen), und es gelingt ihm, neben den vielen Aben­teuern stets ein inten­sives Zeit- und Lokal­kolorit und eine dichte Natur­atmos­phäre aufrecht­zuerhal­ten.

Wer ein spannendes, kurzweiliges, rundum unterhalt­sames Buch sucht, kann hier bedenken­los zugreifen – auch wer mit dem Irrationalen an­sonsten gar nichts am Hut hat.


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