
Alles Fake!
Manche wussten es ja schon immer besser. Hinter dem Terroranschlag vom 11. September 2001 steckt nicht, wie man uns offiziell weismachen will, das Terrornetzwerk al-Qaida, sondern, je nach Glaubensrichtung der Verschwörungstheoretiker, die Regierung, die CIA oder sonstige mächtige Geheimbünde, die in der Lage sind, einen ganzen Planeten informativ in die Irre zu führen. Mit der amerikanisch-britischen Begründungsstrategie, um den Irakkrieg vom Zaun brechen zu können (Saddam besitzt »weapons of mass destruction«!), wurde das hochoffizielle Stricken eines cleveren Lügennetzes hoffähig gemacht. Seit dieses erbärmliche Gespinst aufflog, ist das Vertrauen in die Eliten erschüttert, und immer mehr Menschen neigen dazu, sich lieber auf ihre Gefühle zu verlassen als auf »Fakten«.
Mit der daraus folgenden Empfänglichkeit der Öffentlichkeit für sensationelle Aufdeckungen der wahren Wahrheit, und seien sie noch so hanebüchen, spielt Leon de Winter, indem er der 9/11-Saga einen aberwitzigen Plot hinzufügt, der das Zeug dazu hätte, selbst als abstruseVerschwörungstheorie in den sozialen Netzwerken begeisterte Gläubige zu sammeln. Schade für Hobby-Enthüller: Jetzt ist der Polit-/Agenten-/Actionthriller »Geronimo« schon auf dem Markt, im niederländischen Original und in der deutschen Übersetzung von Hanni Ehlers.
Vielleicht haben Sie es ja schon immer gewusst: Die Dokumente, die die Tötung des Al-Qaida-Anführers Osama bin Laden belegen sollen, sind ein Fake! Wer steckt dahinter? Konkret die amerikanische Navy-Seals-Spezialeinheit »Team 6« (ST6), die die schmutzige Arbeit vor Ort leistet, aber auch ihr eigenes Süppchen kocht. Im Hintergrund ziehen mehrere Geheimdienste und Politiker etlicher Länder die Strippen. Nicht alles läuft perfekt, wie Leon de Winter schonungslos aufdeckt.
Das Kernereignis bleibt der nächtliche Überfall am 2. Mai 2011 auf das Haus in Abbottabad (Pakistan), das man als bin Ladens Zufluchtsort identifiziert hatte. Mit Hubschraubern und schwer bewaffnet stürmen die ST6-Männer das Anwesen und erschießen, filmisch dokumentiert, einen Mann. Nach Washington melden sie »Geronimo«, das Codewort für den Erfolg ihrer Aktion. Allerdings ist der Tote keineswegs der al-Qaida-Chef, sondern ein Doppelgänger. Den hat man kurz zuvor im Haus deponiert und den echten »UBL« (Usama bin Laden) entführt, um ihn in Den Haag vor Gericht zu stellen. Damit haben die Jungs freilich nicht das getan, was sie hätten tun sollen, und es gibt Ärger …
Jahrelang hatte bin Laden in seinem ummauerten Versteck unweit der Hauptstadt Islamabad gehaust. De Winter zeichnet ihn als glücklichen Mann und verantwortungsbewussten Familienvater mehrerer Kinder. Wenn alle Katzen grau sind, rattert UBL – Bifokalbrille, langer Militärmantel, vorsintflutlicher Helm mit Ohrenklappen, Pluderhose, Sandalen – auf einem klapprigen Moped zu einem rund um die Uhr geöffneten Lebensmittelgeschäft und kauft Eis für die jüngste und liebste seiner drei Frauen. Um aller Begehren erfüllen zu können, wandern auch ein paar blaue Pillen in den Warenkorb. Der Oberterrorist ist halt auch nur ein Mensch wie du und ich, der sich mit Stärken und Schwächen durch den unvollkommenen Alltag laviert.
Dabei hat er allen Grund zur Zuversicht, seit er einen USB-Stick sein eigen nennt, der ihn mit Allahs Hilfe in die Lage versetzen kann, sich die Welt gefügig zu machen. Das digitale Hardware-Stückchen führt der Autor schon auf den ersten Seiten ein, um unsere Neugier anzustacheln, doch was für Geheimnisse darauf gespeichert sind, enthüllt er erst am Ende. Dazu später.
Der komplexe Plot wird von einem halben Dutzend Protagonisten getragen, die in Afghanistan, Pakistan, Israel, Saudi-Arabien, Großbritannien, den USA, Deutschland und den Niederlanden agieren. Erzählperspektiven und Handlungsorte wechseln dementsprechend, ebenso wie die Zeitebenen. All diese Figuren sind breit angelegt, so dass sich auch ein dichtes Netz von Biografien, Charakteren, Empfindungen und Beziehungen entwickelt.
Von zentraler Bedeutung ist Tom Johnson, Sohn zweier Musiker. Statt in ihre Fußstapfen zu treten, wie sie es sich wünschen, wird er lieber »Berufskämpfer« gegen den Terrorismus. In der Delta Force und der Special Activities Division der CIA macht er Karriere. Nach einer schweren Verwundung in Afghanistan und langwieriger Reha wird er 2009 in einer ehemaligen U-Boot-Basis in North Carolina eingesetzt, wo man UBLs Haus nach Originalplänen nachgebaut hat, damit ST6 die Erstürmung üben kann. Nicht nur körperlich, sondern auch psychisch ist der Einundvierzigjährige im Jahr 2011 gezeichnet, seit seine kleine Tochter Sarah 2004 bei dem Terroranschlag in Madrid ums Leben kam , seine Frau Vera ihn zwei Jahre später verließ und ihn dann die schrecklichen Erlebnisse während der Afghanistan-Mission »Enduring freedom« traumatisierten.
Damals lernte er die dreizehnjährige Apana und ihren Vater Sadi kennen, der im Camp dolmetscht. Sie sind die einzigen Überlebenden eines Gemetzels der Taliban. Wie ein Wunder (und ein bisschen kitschig) mutet es an, dass Apana von Bachs Goldberg-Variationen, bei denen Tom in seinem Container zu regenerieren pflegt, bezaubert wird. Gemeinsam entfliehen die beiden in den nächsten Monaten dem grausamen Alltag und ihren Erinnerungen bei der göttlichen Musik, »die aus dem Himmel kommt«. Apana saugt die Harmonien und Rhythmen auf, zeichnet sich eine Klaviatur auf Papier und »spielte mit Gould mit, als tanze sie einen Pas de deux«. Als Sadi getötet und seine Tochter entführt wird, kauft Tom sie einem religiösen Fundamentalisten und korrupten Drogenhändler ab, damit sie sich in Amerika ihren Traum erfüllen und Pianistin werden kann. Doch ehe sie ausgeflogen werden kann, überrennen Talibankämpfer das Camp, töten die Zivilisten, hacken dem muslimischen Kind, das sich mit westlicher Musik versündigt, Hände und Ohren ab. Zum zweiten Mal muss sie fliehen.
Wer gibt so einem verstümmelten, obdachlosen Bettelkind auf der Flucht ein Heim? Ausgerechnet Usama bin Laden liest Apana eines Nachts auf, als er mit seinem Moped unterwegs ist. Fortan versteckt er sie in seiner Garage und kümmert sich liebevoll um sie – bis die Männer vom ST6 seiner Menschenfreundlichkeit ein abruptes Ende setzen. Nachbarsjunge Jabbar beobachtet die Erstürmung und kann Apana zu seiner Mutter Mariyam mitnehmen. Auch die beiden träumen davon, irgendwann in Amerika in Freiheit zu leben.
Der Kampf, die Flucht, die Suche geht noch lange weiter. Leon de Winter liefert mit seinem professionell verfertigten Thriller knallharten, bis an die Schmerzgrenze gehenden Lesestoff, dessen Knisterspannung mit der Geschichte um Tom, Jabbar und Apana ein hochemotionales Pendant findet. Apart ist die Gesamtstruktur des Romans, der derjenigen der Goldberg-Variationen rein äußerlich nachempfunden ist: zwei Teile mit je fünfzehn Variationen (hier: Kapiteln), dazu je eine Aria als Einleitung und Abschluss (hier: zwei Telefongespräche als Pro- und Epilog).
Eine der Fragwürdigkeiten dieses Buches ist, was der Autor als vorgebliche Tatsache in UBLs Hände legt. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dieses kleine Detail vorab zu erfahren statt erst ab Seite 342, lesen Sie hier das Geheimnis auf seinem USB-Stick und was ich davon halte.
Die Dokumente auf dem USB-Stick beweisen, dass Barack Obama gläubiger Muslim ist und sein Christentum lediglich ein raffiniert inszenierter Fake zwecks Machtgewinnung. Damit ist der Präsident der USA erpressbar.
Das Fatale an diesem Einfall ist, dass auch Donald Trump ihn hatte und die schmutzige Lüge für seine Kampagne propagandistisch ausschlachtete. Literarische Freiheit und politische Infamie haben hier den gleichen hässlichen Weg beschritten.