Rezension zu »Der letzte Sommer auf Long Island« von Colson Whitehead

Der letzte Sommer auf Long Island

von


Belletristik · Hanser · · Gebunden · 336 S. · ISBN 9783446236448
Sprache: de · Herkunft: us

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Die weichgespülte Enkelgeneration

Rezension vom 02.02.2012 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

1985: Wer sich als Farbiger auf Sag Harbor, einem Urlaubsparadies auf Long Island unweit von New York, ein Ferienhäuschen leisten kann, hat es in die gehobene Mittelschicht der Vereinigten Staaten geschafft. Großvater Cooper gehörte einst zu den ersten, die hier in Eigenarbeit einen Grundstein legten. Für die Enkel Elena, Benji und Reggie ist es zur Normalität geworden, dass sie jeden Sommer hierher kommen. Ihr Vater ist Arzt, ihre Mutter Anwältin, die Kinder besuchen in fein gebügelten Uniformen Privatschulen, zusammen mit Weißen. Sie sind eine Bilderbuchfamilie wie die "Cosby Familie" in der täglichen Sitcom, die auch weiße Amerikaner gerne anschauen.

Die Eltern gehörten noch zu den Schwarzen, die ihre Rechte erkämpfen mussten, damals beim Marsch auf Washington, 1963, an dem sie selber teilnahmen. Benji beeindruckt dies nicht so wirklich; Politik ist nicht sein Ding, und die Errungenschaften der Bürgerrechtsbewegung sind zur Selbstverständlichkeit geworden. Es ist ihm geradezu peinlich, wenn über die "Berühmten Schwarzen Menschen" gesprochen wird. Er hatte noch nie von ihnen gehört; jetzt hält er lieber den Mund und nickt in geheucheltem Stolz. Jahre später erinnert er sich an den Namen des Essayisten W. E. B. Du Bois, der, wenn Mutter ihn mit besonders respektvollem Ton aussprach, eine Aura bekam. 1897 hatte Du Bois in seinem Aufsatz "Strivings of the Negro People" geschrieben: "Man verspürt sie immerzu, diese Zweiheit – ein Amerikaner, ein Neger; zwei Seelen, zwei unversöhnt miteinander konkurrierende Bestrebungen" (S. 22).

Der Sommer 1985 ist anders. Für Schwester Elena ist der Strand Kinderkram, die City ist angesagt, und die Eltern schauen nur gelegentlich an den Wochenenden vorbei. Benji, 15 Jahre alt, Zahnspangenträger und voll im Griff der Pubertät, will endlich Ben gerufen werden. Als Älterer soll er auf seinen Bruder Reggie aufpassen, aber so wie früher will er ihn nicht mehr im Schlepptau an sich kleben haben.

Sehr gemächlich beginnt "der letzte Sommer auf Long Island"; man schaut, wer schon hier ist, wer noch hier ist, wer wie lange bleibt. Bald findet sich die Clique wieder – NB •"Nigger Bitte"), der "Raconteur barocker Teenagerfaxen", Marcus, Randy, Clive und andere. Alle tragen Markenklamotten, "gemäß der Gefiedertheorie des sozialen Umgangs" (S. 58). Besonders angesagt ist Randy, dank seines Autos, mit dem sie in diesem Sommer am Ozean cruisen.

Und recht viel mehr geht auch nicht ab in diesem Sommer. Man genießt Benjis sturmfreie Bude, jobbt im Restaurant oder bei "Jonni Waffle", der Eisdiele mit Belgischen Waffeln als Spezialität. Da ist es schon ein absolutes Highlight, wenn Popstars wie Lisa Lisa oder die U.T.F.O.-Rapper sich für eine Eiskugel anstellen, selbst wenn sie ganz und gar unangesagte Adidas-Trainingsklamotten tragen.

Randy kommt auf die Idee mit den Luftgewehren. Echt cool, als Randy zunächst einmal ein Rotkehlchen erledigt. Später zielt er auf NBs Füße und ruft: "Tanz, Nigger, tanz" (S. 159). So richtig uncool findet dies nur Benji. An Marcus, dem Loser, testet und reizt man Entfernungen und Schmerzpunkte aus. Eine Kugel dringt knapp unter Benjis Auge in die Haut ein. Nebenbei erwähnt der Autor, dass im späteren Leben einer aus der Clique durch echte Kugeln ums Leben kommt, ein anderer von der Taille abwärts gelähmt wird. Warum? Wieso? Der Autor bleibt sich treu: Bloß nichts Spektakuläres ...

Auch Benji erlebt die Rassenproblematik, wenn auch in kieselglattgeschliffener Ausformung: In Sag Harbor gehört der Strand den Schwarzen, den Weißen hingegen das Ufergebiet hinter der Stadt. "Jede Infiltration musste überprüft werden ... Ein paar Weiße kamen den Strand herauf, deshalb holten wir das Fernglas" (S. 46). Die Jungs in Benjis Clique zelebrieren ihre Gemeinschaft mit einem internen Begrüßungsritual per hippem Handklatschen. Mit dem Wort "Nigger" gehen sie lässig um, wenngleich es bei den Eltern, denen dessen historische Belastung hautnah vertraut ist, Verärgerung auslöst; andererseits nutzen die es selber, um Asoziale innerhalb ihrer eigenen Rasse zu bezeichnen. Die Emotionen wallen zu ihrem Höhepunkt auf, als ein weißer Erwachsener – als Lob für gute Leistung und nicht ahnend, was er auslöst – über die weich federnde Fülle von Benjis schwarzen Locken tätschelt: Das empfinden alle aus der Clique als "rassistischen Scheiß"; so jemandem würden sie alle "in den Arsch treten" (S. 116). Aber dann belassen sie es natürlich bei der soften Diskussion darüber.

Diese Retrospektive des Autors Colson Whitehead ist kein mitreißender Roman. Ganz unaufgeregt erzählt er einzelne Episoden einer schwarzen Jugend der Achtziger-Jahre, in deren Mittelpunkt der Ich-Erzähler Benji. Es entsteht der Eindruck einer oberflächlichen Generation, die sich für Bands und ihre Songs, für Klamotten, Sitcoms, Filme, Tiefkühl- und Dosenkost und nicht viel anderes interessiert. Welch ein Aufschrei, als der Coca-Cola-Konzern 1985 die Rezeptur ändert! Dieser heiße Sommer, der sich gemächlich gibt und wenig Aktion bietet, wird ihr letzter sein; ihre Wege werden sich trennen, sie werden sich an Universitäten einschreiben und Ausbildungen beginnen. Als Benji, endlich von seiner Zahnspange befreit, zum ersten Mal geküsst wird, fühlt er sich schon fast wie ein Mann.

Nicht jeden Leser wird dieser typisch amerikanische Roman begeistern. Zum Beispiel erfordert die recht spezielle Kultur aus Songs, Literatur und Gesellschaftspolitik etwas Insiderwissen. Wer das mitbringt und/oder sich auf die pointierten, subtilen Beobachtungen einlässt und den intellektuell gewürzten, ironisch-humorvollen Sprachstil des Autor wie eine Kugel Eis langsam im Munde zergehen lässt, der kann das besondere Feeling des letzten Sommers auf Long Island spüren.


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