Seite für Seite ein Genuss
Eines meiner liebsten Bücher überhaupt: Dacia Maraini erzählt ungeheuer detailreich und sensibel, wie die kleine taubstumme Marianna, geliebte Tochter des alten Herzogs Ucrìa, in Palermo und Umgebung aufwächst, die Welt erfährt und erstarkt. Bewundernswert, wie die Autorin das Fehlen des Hörsinns ihrer Protagonistin einfühlsam gestaltet und statt seiner alle anderen Sinne umso mächtiger zu einer intensiven Schilderung des Alltags einer adligen Familie, ihrer Bediensteten und der Gesellschaft um die Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzt. Überwältigende Szenen voller prallen Getriebes wechseln ab mit stillen, besinnlichen Phasen des Beobachtens, der abwägenden Reflexion, des dichten Gedankenaustauschs.
Marianna ist eine ausgezeichnete Beobachterin – wach, neugierig, verständig und sensibel. Ihrem Vater, dem aufgeklärten Adligen mit Weitblick, verdankt sie es, dass sie niemals versteckt, sondern im Gegenteil in alle Bereiche des Lebens einbezogen wird. Dass sie frühzeitig Lesen und Schreiben lernt, gibt ihr den keineswegs jedem Mädchen ihrer Zeit zugänglichen Schlüssel, um ihrer Isolation zu entkommen.
Des Vaters wichtigstes Anliegen ist es, der Tochter eine sichere Basis für ihr späteres Leben zu bereiten, das sie auf eigenen Füßen zu führen imstande sein soll. In einer starren, streng hierarchischen und patriarchalischen Gesellschaftsordnung ist dies für jede Frau ein ambitioniertes Ziel; mit ihrem Handicap ist Marianna doppelt benachteiligt. In dieser schwierigen Gemengelage kann ihr einflussreicher und begüterter Vater zwar freier agieren als die meisten anderen Menschen, doch trifft er eine tragische Fehlentscheidung …
Die bemerkenswerten Charaktere und die anrührende Vita der Marianna Ucrìa, die von ihrer Kindheit bis ins Alter erzählt wird, verschaffen ein beeindruckendes Leseerlebnis. Nach der herzerwärmend erzählten Kindheit und Jugend schließt sich Mariannas Erwachsenendasein an, wo sie Verantwortung übernehmen und sich gegen allerlei Einflüsse durchsetzen muss. Die Spannung nimmt stetig zu, bis ein bitteres Geheimnis eröffnet wird. Am Ende sehen wir die Herzogin als wahrhaft freie Frau – ihr Vater wäre zufrieden mit ihr.
Am schönsten ist natürlich das Original: »La lunga vita di Marianna Ucrìa« ; naturgemäß oberflächlicher, aber durchaus sehenswert ist die Verfilmung (»Die stumme Herzogin«, 1997), die alle paar Jahre im Fernsehen gezeigt wird.