Beschützer aller Arten
Mímameiðr ist das seltenste und seltsamste Biotop der Welt. An diesem abgelegenen Ort in Norwegen leben Menschen und viele wundersame Kreaturen in trauter Gemeinschaft. Barnabas Wiesengrund und seine Frau Vita haben hier für sich, ihren vierzehnjährigen Adoptivsohn Ben und seine Schwester Guinever ein Zuhause und für die vielen von ihnen geretteten Fabelwesen einen sicheren Zufluchtsort gefunden. Die Wiesengrunds leben im uralten sagenumwobenen Hauptgebäude, das mit seiner Umgebung aus Wald und Erde so in eins verwachsen ist, dass es nahezu unsichtbar ist. In Höhlen, Nestern, Ställen und winzigen Häuschen lassen es sich Troll, Wichtel, Meerjungfrau, Drache und andere gut gehen. Manch Umgesiedelter aus südlichen Gefilden tut sich noch schwer mit dem kalten norwegischen Winter und beklagt sich lautstark. Aber bekanntlich kann man nicht alles haben im Leben.
Sich für den Schutz bedrohter Arten einzusetzen ist die Berufung nicht nur des Archäologie- und Geschichtsprofessors Barnabas Wiesengrund, sondern auch seiner Schöpferin, der ungeheuer produktiven Schriftstellerin und Illustratorin Cornelia Funke. TIME Magazine zählte sie 2005 zu den 100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt. In 28 Jahren hat sie über siebzig Kinderbücher veröffentlicht und weltweit millionenfach verkauft. Eines der erfolgreichsten war »Drachenreiter« (1997). Neunzehn Jahre später setzt die Autorin den Roman fort: Jetzt muss »die Feder eines Greifs« die letzten Pegasus-Exemplare vor dem Untergang, die Art vor dem Aussterben retten.
Die Welt des »Drachenreiters« ist kindlich-magisch insofern, als all ihre Elemente – Fabelwesen, Tiere, Pflanzen und selbst Steine – sprechen können, menschliche Gefühle entwickeln und entweder gut oder böse sind. Aber sie ist nichts für Eskapisten. Sie ist weder rein prämodern noch märchenhaft und schon gleich nicht heil. Ihr Idealzustand ist stets gefährdet und muss tatkräftig und global verteidigt werden. Sie existiert in und eng verflochten mit unserer Realität, kann aber von den allermeisten Menschen nicht wahrgenommen werden. Vereinfacht ist sie nur insofern, als ihre Bewohner sich allein auf die Problematik der Gefährdung der Arten zu konzentrieren brauchen. Sie beschreiten Lösungswege, die zwar auf fabelhaften und abenteuerlichen Elementen beruhen, aber vor allem Verhaltensweisen und Eigenschaften einfordern, die Vorbildcharakter für uns Leser haben. Es ist also leicht, immer wieder Brücken in unsere Welt zu schlagen.
Barnabas Wiesengrund ist kein Einzelkämpfer. Er leitet mit Unterstützung vieler anderer Wissenschaftler die Organisation FREEFAB, um bedrohte fabelhafte Tiere zu schützen. Dazu bedient man sich moderner Mittel wie Computer und Videos. Unter den gut vernetzten Unterstützern sind menschliche Experten wie der Naturfilmer David Atticsborough oder Jane Gridall, die Erfinderin einer Zeichensprache.
Erwachsene (Vor-) Leser werden erkennen, dass ihnen die Autorin über solche Anspielungen auf reale Persönlichkeiten (David Attenborough, britischer Tierfilmer und Naturforscher; Jane Goodall, Primatenforscherin) hinter den Kulissen zuzwinkert. Als direkte Signale hat sie jedem der neunundvierzig Kapitel Zitate von bedeutenden Autoren vorangestellt – darunter Philosophen, Wissenschaftler, Künstler aus zwei Jahrtausenden. Innerhalb der Erzählung ist die Grenze zwischen der realen und Funkes Fantasiewelt manchmal nicht einfach zu ziehen. Die Könige von Mesopotamien, die Ruinen von Persepolis spielen ebenso eine Rolle wie all die Affenarten, die sich im indonesischen Dschungel austoben. Gibt es den »Pelangi-Vogel« aus Sumatra wirklich? Ist das »Binturong« nur ein Fantasytier?
Im ersten »Drachenreiter«-Band waren es die Silberdrachen, deren Existenz die Menschen bedrohten. Dem Waisenjungen Ben gelang es mit dem Jungdrachen Lung und einer Schar weiterer Helfer, die letzten Exemplare aus Schottland in das Himalaja-Tal »Saum des Himmels« zu evakuieren und Nesselbrand, Erzfeind aller Drachen, zu vernichten. Von den damaligen Kämpfen ermüdet, wünschen die vertrauten Protagonisten jetzt nichts anderes, als in Mímameiðr ein friedliches, beschauliches Leben zu führen.
Inzwischen haben Vita und Barnabas Wiesengrund auf ihrer weltweiten Suche nach schützenswerten Wesen in Griechenland einen Pegasus entdeckt. Der Hengst Ànemos leidet Qualen der Trauer, denn er ist der letzte seiner Art, nachdem Synnefo, seine Stute, an einem Schlangenbiss verstarb. Ist ihr Verlust schon unerträglich, so kommt noch die Sorge um den Nachwuchs hinzu: Drei Eier liegen im Nest, und Synnefo kann sie nun nicht mehr ausbrüten. Die einzige Rettung für die kleinen Fohlen vermag eine Sonnenfeder aus dem Gefieder eines bösartigen, gierigen und größenwahnsinnigen Greifs zu bringen. Wie aber soll man es anstellen, sie dem gefährlichsten Krieger unter den Fabelwesen abzunehmen?
Natürlich wissen die eiligst zusammengerufenen FREEFAB-Mitglieder Rat und schmieden in intensiven Diskussionen einen kühnen Plan. Auch Ben, innerlich zerrissen zwischen seiner Liebe zur Welt der Drachen, zu der der Menschen und zu seinen Adoptiveltern, schließt sich der Mission an. Der bewährte Drache Lung allerdings darf von alldem nichts erfahren, denn er und seine Frau Maia bekommen bald Nachwuchs im Tal am »Saum des Himmels«. Um ihn nicht in Gefahr zu bringen, tischt man ihm die Lüge auf, man suche die Feder eines Phönix.
Nur zehn Tage bleiben dem Team um Barnabas Wiesengrund, und eine Fülle von Abenteuern und aufregenden Schauplätzen erwartet die großen und kleinen Wesen wie den künstlich in einer Flasche erschaffenen Homunkulus Fliegenbein, das launische schottische Koboldmädchen Schwefelfell, den Fjordtroll Hothbrodd, die Rattenpilotin Lola Grauschwanz, die in einer »Teufelsmaschine«, einem Flugzeug kaum größer als eine Krähe fliegt. Über die Türkei geht es bis in die undurchdringlichen Urwälder Indonesiens.
Kraa, der König der Greife und »Bringer von tausend Toden«, regiert mit »Kralle, Gift und Klaue« über seine Untertanen. Gerade sitzt er zu Gericht in seinem Palast, einem Nest hoch oben in einem Königsbaum. An einer in den Baum gespannten Kette baumelt ein Dutzend geflochtener Korbkäfige, in denen die Gefangenen, überwiegend Affen, ausharren und mit den schlimmsten Urteilen rechnen müssen: Tod oder Verkauf an Wilderer, die im Sklavenhandel tätig sind.
Melancholie, Verlustschmerz, Einsamkeit, Sehnsucht, Trauer, die Last der Verantwortung – all dies durchweht die Handlung. Auch Grausamkeiten und Todesängste erspart die Autorin ihren Lesern nicht. Aus dem Sand starren dem Team um Barnabas menschliche Totenschädel entgegen, und in der Auseinandersetzung mit dem unbarmherzigen Greif geht es für die liebgewonnenen Protagonisten um entsetzliche Folterqualen und nichts weniger als die nackte Existenz. Gut, dass in der höchsten Not witzige Kommentare für ein wenig comic relief sorgen können (»Bei allen dreibuckligen Kamelen von Samarkand ...«, flucht Lola).
Wie die Mission immer komplizierter gerät, wie Barnabas sein Leben verwettet (»bei lebendigem Leibe verspeist zu werden«), wie Lung im letzten Moment eingreift und persönlich den Zweikampf mit Kraa aufnimmt, wie die Truppe dem Greif samt Übermacht seiner treuen Gefolgsleute am Ende die Sonnenfeder abluchst, davon erzählt Cornelia Funke in leicht zu lesendem Sprachstil und aus vielen Perspektiven. Überdies regen auf nahezu jeder Seite schwarz-weiße Illustrationen der Autorin die Vorstellungskraft der Leser an. Ein Verzeichnis aller Wesen, nach Gruppen geordnet, erleichtert die Übersicht ebenso wie die sprechenden Namen, die individuelle Eigenschaften oder Merkmale signalisieren (bei »Kraa« und »Shrii« beispielsweise hören wir die Mark erschütternden Schreie der Greifenvögel).
»Die Feder eines Greifs« ist ein intelligentes Buch für Klein und Groß. Wie alle gute Literatur kann man es auf mehreren Ebenen lesen. Es ist ein fantastischer Abenteuerroman, so stimulierend, farbenfroh und spannungsreich erzählt, dass man ihn getrost Lesern jeden Alters (ab zehn) ans Herz legen kann, und es ist ein engagiertes Plädoyer für Artenvielfalt und Toleranz, dessen Botschaft alle Kinder verstehen: die Aufforderung, »Beschützer all der Geschöpfe zu sein, die ohne ihre Hilfe vielleicht bald wirklich nur noch in Märchenbüchern zu finden sein würden«.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Winter 2016 aufgenommen.