Rezension zu »Drachenreiter - Die Feder eines Greifs« von Cornelia Funke

Drachenreiter - Die Feder eines Greifs

von


Kinderbuch · Dressler · · Gebunden · 416 S. · ISBN 9783791500119
Sprache: de · Herkunft: de

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Beschützer aller Arten

Rezension vom 12.11.2016 · 4 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Mímameiðr ist das seltenste und seltsamste Biotop der Welt. An diesem ab­gelege­nen Ort in Norwegen leben Menschen und viele wunder­same Kreaturen in trauter Gemein­schaft. Barnabas Wiesen­grund und seine Frau Vita haben hier für sich, ihren vierzehn­jährigen Adoptiv­sohn Ben und seine Schwester Guinever ein Zuhause und für die vielen von ihnen geret­teten Fabel­wesen einen sicheren Zufluchts­ort gefunden. Die Wiesen­grunds leben im uralten sagen­umwo­benen Haupt­gebäude, das mit seiner Umgebung aus Wald und Erde so in eins verwachsen ist, dass es nahezu unsicht­bar ist. In Höhlen, Nestern, Ställen und winzigen Häuschen lassen es sich Troll, Wichtel, Meer­jung­frau, Drache und andere gut gehen. Manch Umge­siedel­ter aus südlichen Gefilden tut sich noch schwer mit dem kalten norwegi­schen Winter und beklagt sich laut­stark. Aber bekannt­lich kann man nicht alles haben im Leben.

Sich für den Schutz bedrohter Arten einzusetzen ist die Berufung nicht nur des Archäo­logie- und Geschichts­professors Barnabas Wiesen­grund, sondern auch seiner Schöpferin, der ungeheuer produk­tiven Schrift­stellerin und Illustra­torin Cornelia Funke. TIME Magazine zählte sie 2005 zu den 100 einfluss­reichsten Persön­lich­keiten der Welt. In 28 Jahren hat sie über siebzig Kinder­bücher veröffent­licht und weltweit millionen­fach verkauft. Eines der erfolg­reichsten war »Drachen­reiter« (1997). Neun­zehn Jahre später setzt die Autorin den Roman fort: Jetzt muss »die Feder eines Greifs« die letzten Pegasus-Exemplare vor dem Unter­gang, die Art vor dem Aus­sterben retten.

Die Welt des »Drachenreiters« ist kindlich-magisch insofern, als all ihre Elemente – Fabel­wesen, Tiere, Pflanzen und selbst Steine – sprechen können, mensch­liche Gefühle ent­wickeln und ent­weder gut oder böse sind. Aber sie ist nichts für Eska­pisten. Sie ist weder rein prä­modern noch märchen­haft und schon gleich nicht heil. Ihr Ideal­zustand ist stets gefährdet und muss tat­kräftig und global ver­teidigt werden. Sie existiert in und eng ver­flochten mit unserer Realität, kann aber von den aller­meisten Menschen nicht wahr­genom­men werden. Verein­facht ist sie nur inso­fern, als ihre Bewoh­ner sich allein auf die Proble­matik der Gefähr­dung der Arten zu konzen­trieren brauchen. Sie beschrei­ten Lösungs­wege, die zwar auf fabel­haften und abenteuer­lichen Ele­menten beruhen, aber vor allem Ver­haltens­weisen und Eigen­schaften ein­fordern, die Vorbild­charakter für uns Leser haben. Es ist also leicht, immer wieder Brücken in unsere Welt zu schlagen.

Barnabas Wiesengrund ist kein Einzelkämpfer. Er leitet mit Unter­stützung vieler anderer Wissen­schaft­ler die Organi­sation FREEFAB, um bedrohte fabel­hafte Tiere zu schützen. Dazu bedient man sich moderner Mittel wie Computer und Videos. Unter den gut vernetzten Unter­stützern sind mensch­liche Experten wie der Natur­filmer David Attics­borough oder Jane Gridall, die Erfinderin einer Zeichen­sprache.

Erwachsene (Vor-) Leser werden erkennen, dass ihnen die Autorin über solche An­spielun­gen auf reale Persön­lich­keiten (David Atten­borough, britischer Tier­filmer und Natur­forscher; Jane Goodall, Primaten­forsche­rin) hinter den Kulissen zu­zwin­kert. Als direkte Signale hat sie jedem der neun­und­vierzig Kapitel Zitate von bedeu­tenden Autoren voran­gestellt – darunter Philo­sophen, Wissen­schaftler, Künstler aus zwei Jahr­tausen­den. Innerhalb der Erzählung ist die Grenze zwischen der realen und Funkes Fantasie­welt manch­mal nicht einfach zu ziehen. Die Könige von Meso­pota­mien, die Ruinen von Perse­polis spielen ebenso eine Rolle wie all die Affen­arten, die sich im indone­sischen Dschungel austoben. Gibt es den »Pelangi-Vogel« aus Sumatra wirklich? Ist das »Bintu­rong« nur ein Fantasy­tier?

Im ersten »Drachenreiter«-Band waren es die Silber­drachen, deren Existenz die Menschen bedroh­ten. Dem Waisen­jungen Ben gelang es mit dem Jung­drachen Lung und einer Schar weiterer Helfer, die letzten Exemplare aus Schott­land in das Himalaja-Tal »Saum des Himmels« zu evaku­ieren und Nessel­brand, Erzfeind aller Drachen, zu ver­nichten. Von den damaligen Kämpfen ermüdet, wünschen die vertrauten Protago­nisten jetzt nichts anderes, als in Mímameiðr ein fried­liches, beschau­liches Leben zu führen.

Inzwischen haben Vita und Barnabas Wiesengrund auf ihrer welt­weiten Suche nach schützens­werten Wesen in Griechen­land einen Pegasus entdeckt. Der Hengst Ànemos leidet Qualen der Trauer, denn er ist der letzte seiner Art, nachdem Synnefo, seine Stute, an einem Schlangen­biss verstarb. Ist ihr Verlust schon uner­träglich, so kommt noch die Sorge um den Nach­wuchs hinzu: Drei Eier liegen im Nest, und Synnefo kann sie nun nicht mehr ausbrüten. Die einzige Rettung für die kleinen Fohlen vermag eine Sonnen­feder aus dem Gefieder eines bös­artigen, gierigen und größen­wahn­sinnigen Greifs zu bringen. Wie aber soll man es an­stellen, sie dem gefähr­lichsten Krieger unter den Fabel­wesen abzu­nehmen?

Natürlich wissen die eiligst zusammen­gerufe­nen FREEFAB-Mitglieder Rat und schmieden in intensiven Dis­kussio­nen einen kühnen Plan. Auch Ben, innerlich zerrissen zwischen seiner Liebe zur Welt der Drachen, zu der der Menschen und zu seinen Adoptiv­eltern, schließt sich der Mission an. Der bewährte Drache Lung aller­dings darf von alldem nichts erfahren, denn er und seine Frau Maia be­kommen bald Nachwuchs im Tal am »Saum des Himmels«. Um ihn nicht in Gefahr zu bringen, tischt man ihm die Lüge auf, man suche die Feder eines Phönix.

Nur zehn Tage bleiben dem Team um Barnabas Wiesen­grund, und eine Fülle von Aben­teuern und auf­regenden Schau­plätzen erwartet die großen und kleinen Wesen wie den künstlich in einer Flasche erschaf­fenen Homun­kulus Fliegen­bein, das launi­sche schotti­sche Kobold­mädchen Schwefel­fell, den Fjord­troll Hoth­brodd, die Ratten­pilotin Lola Grau­schwanz, die in einer »Teufels­maschine«, einem Flug­zeug kaum größer als eine Krähe fliegt. Über die Türkei geht es bis in die un­durch­dring­lichen Urwälder Indo­nesiens.

Kraa, der König der Greife und »Bringer von tausend Toden«, regiert mit »Kralle, Gift und Klaue« über seine Unter­tanen. Gerade sitzt er zu Gericht in seinem Palast, einem Nest hoch oben in einem Königs­baum. An einer in den Baum gespann­ten Kette baumelt ein Dutzend gefloch­tener Korb­käfige, in denen die Gefan­genen, über­wiegend Affen, ausharren und mit den schlimmsten Urteilen rechnen müssen: Tod oder Verkauf an Wilderer, die im Sklaven­handel tätig sind.

Melancholie, Verlustschmerz, Einsamkeit, Sehnsucht, Trauer, die Last der Verant­wortung – all dies durchweht die Handlung. Auch Grausam­keiten und Todes­ängste erspart die Autorin ihren Lesern nicht. Aus dem Sand starren dem Team um Barnabas menschliche Toten­schädel entgegen, und in der Ausein­ander­set­zung mit dem unbarm­herzigen Greif geht es für die lieb­gewonne­nen Prota­gonis­ten um ent­setz­liche Folter­qualen und nichts weniger als die nackte Existenz. Gut, dass in der höchsten Not witzige Kom­men­tare für ein wenig comic relief sorgen können (»Bei allen drei­buckligen Kamelen von Samar­kand ...«, flucht Lola).

Wie die Mission immer komplizierter gerät, wie Barnabas sein Leben verwettet (»bei leben­digem Leibe verspeist zu werden«), wie Lung im letzten Moment ein­greift und persön­lich den Zwei­kampf mit Kraa auf­nimmt, wie die Truppe dem Greif samt Über­macht seiner treuen Gefolgs­leute am Ende die Sonnen­feder abluchst, davon erzählt Cornelia Funke in leicht zu lesendem Sprach­stil und aus vielen Per­spektiven. Überdies regen auf nahezu jeder Seite schwarz-weiße Illustra­tionen der Autorin die Vor­stellungs­kraft der Leser an. Ein Ver­zeich­nis aller Wesen, nach Gruppen geordnet, erleich­tert die Über­sicht ebenso wie die sprechen­den Namen, die indivi­duelle Eigen­schaften oder Merk­male signa­lisieren (bei »Kraa« und »Shrii« bei­spiels­weise hören wir die Mark er­schüttern­den Schreie der Greifen­vögel).

»Die Feder eines Greifs« ist ein intelligentes Buch für Klein und Groß. Wie alle gute Literatur kann man es auf mehreren Ebenen lesen. Es ist ein fantas­tischer Abenteuer­roman, so stimu­lierend, farben­froh und span­nungs­reich erzählt, dass man ihn getrost Lesern jeden Alters (ab zehn) ans Herz legen kann, und es ist ein enga­giertes Plädoyer für Arten­vielfalt und Toleranz, dessen Botschaft alle Kinder verstehen: die Auffor­de­rung, »Beschützer all der Geschöpfe zu sein, die ohne ihre Hilfe viel­leicht bald wirklich nur noch in Mär­chen­büchern zu finden sein würden«.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Winter 2016 aufgenommen.


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