Rezension zu »Die lange Reise des Yong Sheng« von Dai Sijie

Die lange Reise des Yong Sheng

von


Die wunderbar erzählte Geschichte eines chinesischen Pastors, der durch Bürgerkrieg, Kommunismus und Kulturrevolution zermürbt und gebrochen wird, ohne sich jedoch zu verlieren.
Belletristik · Piper · · 432 S. · ISBN 9783492070164
Sprache: de · Herkunft: fr

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Ein chinesisches Lebensdrama

Rezension vom 13.04.2022 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Bei allem Respekt für Chinas Kultur, wie sie sich über Jahr­tausende ent­wickelt hat, und für den wirt­schaft­lichen und politi­schen Auf­schwung zu einer der Mächte, die die neue Welt­ordnung bestim­men werden, darf man doch nicht übersehen, dass die Geschichte des Landes stets darauf ausge­richtet war, ein Kollektiv zu schaffen, zu dessen Wohl der Einzelne seine privaten Vorstel­lungen und Bedürf­nisse unterzu­ordnen hatte. Die Macht­haber, die jeweils defi­nierten, was dieses Wohl sei, unter­warfen Abweich­ler immer wieder unfass­lichen systema­tischen Grausam­keiten. Eine ganze Reihe von Romanen und Filmen erzählen das Leid braver Indivi­duen, die insbe­sondere im 20. Jahr­hundert vom Kaiser­reich über Kommu­nismus und Kultur­revolu­tion das Miss­fallen der wech­selnden Herrscher, Cliquen und Ideolo­gien erregten und durch Mithilfe von deren Beamten, Schergen und system­treuen Denun­zianten gequält, gefoltert und getötet wurden wie Massen namen­loser Schicksals­genos­sen.

Der chinesische Autor Dai Sijie legte 2019 den neuesten Roman dieser Art vor. »L’évangile selon Yong Seng« Dai Sijie: »L’évangile selon Yong Seng« bei Amazon wurde jetzt in der Über­setzung von Claudia Marquardt auf Deutsch ver­öffent­licht. Der deutsche Titel ist, selbst wenn man die »lange Reise« meta­phorisch auffasst, platter als der originale, in dem das »Evan­gelium« die starken spritu­ellen Aspekte des Buches heraus­hebt.

Die Handlung ist biografisch geprägt und umfasst das gesamte zwanzig­ste Jahr­hundert. Im Mittel­punkt steht Yong Seng, der 1911 geboren, als protestan­tischer Pastor verfemt und verfolgt wird und 2001 als gebro­chener Mann stirbt. Das Vorbild dieser fiktio­nalen Figur ist der Großvater des Autors, Dai Meitai (1895-1973), dessen Erleb­nisse er seinem Enkel persön­lich und teils im Geheimen erzählt habe. Auch Erfah­rungen von Dai Sijies Eltern fließen ein. Dai Sijie selber wurde 1954 in Chengdu geboren und während der Kultur­revolu­tion zur Umer­ziehung in die Berge geschickt, wo er wenige Jahre zusammen mit dem Großvater verlebte. 1984 emi­grierte der Enkel nach Paris. 2011 kehrte er nach China zurück, um die Geschichte seines Groß­vaters zu recher­chieren.

Yong Shengs Vater ist Zimmermann und gerühmt für seine meister­lichen Treppen – in China unbe­kannte Wunder­werke. Damit ist er quali­fiziert, an der Errich­tung einer baptis­tischen Kirche mit ange­glieder­ter Grund­schule mitzuar­beiten, die ein amerika­nisches Mis­sionars­ehepaar voran­treibt. Sein Sohn wird als jüngster Zögling in das Internat aufge­nommen und darf sogar bei der einjäh­rigen Tochter Mary schlafen anstatt im großen Schlaf­saal wie seine Mit­schüler. Er wird getauft, als minder­jähriger Jüngling zwangs­verheira­tet, studiert Theologie, wird Pastor in der kleinen Gemeinde und gründet ein Waisen­haus.

Mit der 1966 von Mao Zedong ausgeru­fenen »Kultur­revolu­tion« wendet sich sein Schicksal. Von den Ver­tretern der eifernden Fanatiker und Studenten, die die rote »Mao-Bibel« vor sich hertragen (bald auch an deutschen Univer­sitäten als Richt­schnur fort­schritt­lich-gerech­ten Handelns propa­giert) wird er, weil er eine Religion vertritt statt Maos Utopie, für »schuldig« befunden und zur Zwangs­arbeit in einer Ölmühle verur­teilt. Nun ist er als recht­loser »Volks­feind Nummer eins« abge­stempelt, nicht mehr wert als ein räudiger Hund und muss, für jede Art von Miss­handlung freige­geben, Demüti­gungen und Qualen von kaum vorstell­barer Hem­mungs­losig­keit durch­leiden. Wie wir es von anderen Ideolo­gien kennen, lesen wir auch hier, in welche Abgründe die Verfol­gung hehrer Ziele die Menschen treibt. Systema­tisch müssen der Bevölke­rung Individua­lismus, selbst­ständiges Denken und Freiheits­drang ausge­trieben und durch neue Werte ersetzt werden, damit sie ihr (einziges) Leben für eine bessere Zukunft opfern. Das Volk wird in »Gute« und »Böse« gespalten, Kritiker werden ausge­schaltet – auch körper­lich –, geför­dertes Denun­zianten­tum treibt tiefe Keile in Nachbar­schaften, Freundes­kreise, Familien. Auch eine Familien­ange­hörige Yong Shengs wirft, kaum in die Macht­position der Wort­führerin einer Volks­kommune aufge­stiegen, quasi ihre Mensch­lichkeit von sich, indem sie den harmlosen und wehrlosen Yong Sheng öffent­lich vernich­tet: »Zertrüm­mern wir ihm den Schädel, dem Hund, der es wagt, die Worte des Vorsit­zenden Mao zu verdrehen.«

Das lange Lebensband, das hier in aller Kürze zusammen­gefasst ist, gestaltet der Autor mit Sprach­gewalt, psycholo­gischem Fein­gefühl und Poesie. In einem so behut­samen wie inten­siven, detail­reichen Stil fließt die Erzählung durchweg ruhig und unauf­geregt dahin wie ein breiter Strom. Interes­sant ist die zeit­liche Struktu­rierung durch Voraus­verweise und vorgrei­fende Passagen, deren Ereig­nisse später erst aufge­rollt werden.

Dai Sijies Beschreibungen vermögen Menschen zum Leben zu er­wecken: Auf dem Kopf der schmäch­tigen Groß­mutter »saß ein winziger Dutt, der an eine Handvoll welkes Gras erinnerte, gefangen in einem schwarzen Netz […] Wenn sie lachte – und ihr Lachen war einer Operetten­figur würdig –, zogen sich ihre Falten erst ausein­ander, bis sie fast ver­schwunden waren, dann wieder zusammen, wie bei einem Schmie­debalg«. Die exoti­schen Örtlich­keiten erstehen vor unserem inneren Auge in ihren Details und Eigen­heiten: Einzig im Gebäude­komplex des amerika­nischen Missio­nars finden wir Glas statt Papier in den Fenstern und auf dem Boden Parkett statt fest­getrete­ner Erde, und bei der eigen­artigen »Mischung aus Ruß, zersto­ßenen schwarzen Muschel­schalen, einem Kondensat aus schwarzer Tinte, schwarzem Perlen­puder und anderen […] Mine­ralien« handelt es sich um die Farbe eines Kunst­malers, während aus dem Baum Aguilar, auch »Weih­rauch­baum« genannt, ein magisch betö­render Duft mit einem »Bukett aus Honig, Milch und Seide« ausströmt. Selbst in drama­tischsten Situa­tionen umweht uns leichte Poesie: »Ein unnatür­lich fahles, bedroh­liches Licht fiel aufs Meer und schien vom Ende der Welt zu künden. Es war der Mond. Noch nie hatte sie ihn so gesehen, noch nie ein solches Leuchten, wie ein zügel­loses Pferd galop­pierte er rückwärts über das Firmament.«

Der kleine Yong erhält den Zusatz­namen Sheng (»Ton«) als Hommage an eine besondere Fertig­keit seines Vaters: Er schnitzt kleine »Tauben­flöten« aus winzigen Schilf- oder Bambus­röhrchen, die mit den mittleren Schwanz­federn verbunden werden. Wenn mehrere dieser künst­lichen Vögel in die Lüfte auf­steigen, so erzeugen sie unter­schied­liche zarte Töne, die zu einem betören­den Konzert »in lyrischen Tremolos und roman­tischen Vibratos« zusammen­klingen. Der Vater gibt seine Kunst an den Sohn weiter, und das schöne Motiv begleitet ihn und uns durch fins­terste Täler bis in die letzten Schluss­szenen.

Stärke und Festigung gewinnt Yong Sheng durch seine innige Spiritua­lität. Nach wenigen fried­lichen Jahren, in denen er den christ­lichen Glauben weiter­geben und Gutes tun kann, macht ihm die politi­sche Willkür­herr­schaft das Leben zur Hölle auf Erden. Erst terrori­sieren General Tschiang Kai Tschek und seine Kuomin­tang-Armee das Land, dann der lange Bürger­krieg und die siegreich daraus hervor­gehende Rote Armee des Mao Zedong. Wie ein Märtyrer durch­leidet der Priester die schlimm­sten Torturen, ohne auf­zubegeh­ren. Indem er aus dessen Perspek­tive erzählt, bringt der Autor dessen christ­lichen Glauben auch seinen west­lichen Lesern nahe, auf besondere Weise mit der östlichen Betrach­tungs­weise verbunden und begleitet von Zitaten aus der Bibel und anderen Quellen, z.B. Luthers Tisch­reden.

Leider begnügt sich Dai Sijie nicht damit, Yong Sheng als duldenden Märtyrer und vorbild­haften Heiligen zu stili­sieren. Durch allerlei Anspie­lungen verleiht er ihm geradezu messia­nische Züge, hebt ihn in die Nähe Jesu. Die Umstände einer Gefangen­schaft des Zimmer­manns­sohns erinnern an Jesu Grab und Aufer­stehung, am Ende lädt er fremde Schuld auf sich und gibt dafür sein Leben. Nicht nur seine Mit­menschen »verehrten ihn wie ein gött­liches Wesen«, auch ihm selbst wird bewusst, »dass sein Name mit einem Gott verknüpft war«.


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