Die lange Reise des Yong Sheng
von Dai Sijie
Die wunderbar erzählte Geschichte eines chinesischen Pastors, der durch Bürgerkrieg, Kommunismus und Kulturrevolution zermürbt und gebrochen wird, ohne sich jedoch zu verlieren.
Ein chinesisches Lebensdrama
Bei allem Respekt für Chinas Kultur, wie sie sich über Jahrtausende entwickelt hat, und für den wirtschaftlichen und politischen Aufschwung zu einer der Mächte, die die neue Weltordnung bestimmen werden, darf man doch nicht übersehen, dass die Geschichte des Landes stets darauf ausgerichtet war, ein Kollektiv zu schaffen, zu dessen Wohl der Einzelne seine privaten Vorstellungen und Bedürfnisse unterzuordnen hatte. Die Machthaber, die jeweils definierten, was dieses Wohl sei, unterwarfen Abweichler immer wieder unfasslichen systematischen Grausamkeiten. Eine ganze Reihe von Romanen und Filmen erzählen das Leid braver Individuen, die insbesondere im 20. Jahrhundert vom Kaiserreich über Kommunismus und Kulturrevolution das Missfallen der wechselnden Herrscher, Cliquen und Ideologien erregten und durch Mithilfe von deren Beamten, Schergen und systemtreuen Denunzianten gequält, gefoltert und getötet wurden wie Massen namenloser Schicksalsgenossen.
Der chinesische Autor Dai Sijie legte 2019 den neuesten Roman dieser Art vor. »L’évangile selon Yong Seng« wurde jetzt in der Übersetzung von Claudia Marquardt auf Deutsch veröffentlicht. Der deutsche Titel ist, selbst wenn man die »lange Reise« metaphorisch auffasst, platter als der originale, in dem das »Evangelium« die starken sprituellen Aspekte des Buches heraushebt.
Die Handlung ist biografisch geprägt und umfasst das gesamte zwanzigste Jahrhundert. Im Mittelpunkt steht Yong Seng, der 1911 geboren, als protestantischer Pastor verfemt und verfolgt wird und 2001 als gebrochener Mann stirbt. Das Vorbild dieser fiktionalen Figur ist der Großvater des Autors, Dai Meitai (1895-1973), dessen Erlebnisse er seinem Enkel persönlich und teils im Geheimen erzählt habe. Auch Erfahrungen von Dai Sijies Eltern fließen ein. Dai Sijie selber wurde 1954 in Chengdu geboren und während der Kulturrevolution zur Umerziehung in die Berge geschickt, wo er wenige Jahre zusammen mit dem Großvater verlebte. 1984 emigrierte der Enkel nach Paris. 2011 kehrte er nach China zurück, um die Geschichte seines Großvaters zu recherchieren.
Yong Shengs Vater ist Zimmermann und gerühmt für seine meisterlichen Treppen – in China unbekannte Wunderwerke. Damit ist er qualifiziert, an der Errichtung einer baptistischen Kirche mit angegliederter Grundschule mitzuarbeiten, die ein amerikanisches Missionarsehepaar vorantreibt. Sein Sohn wird als jüngster Zögling in das Internat aufgenommen und darf sogar bei der einjährigen Tochter Mary schlafen anstatt im großen Schlafsaal wie seine Mitschüler. Er wird getauft, als minderjähriger Jüngling zwangsverheiratet, studiert Theologie, wird Pastor in der kleinen Gemeinde und gründet ein Waisenhaus.
Mit der 1966 von Mao Zedong ausgerufenen »Kulturrevolution« wendet sich sein Schicksal. Von den Vertretern der eifernden Fanatiker und Studenten, die die rote »Mao-Bibel« vor sich hertragen (bald auch an deutschen Universitäten als Richtschnur fortschrittlich-gerechten Handelns propagiert) wird er, weil er eine Religion vertritt statt Maos Utopie, für »schuldig« befunden und zur Zwangsarbeit in einer Ölmühle verurteilt. Nun ist er als rechtloser »Volksfeind Nummer eins« abgestempelt, nicht mehr wert als ein räudiger Hund und muss, für jede Art von Misshandlung freigegeben, Demütigungen und Qualen von kaum vorstellbarer Hemmungslosigkeit durchleiden. Wie wir es von anderen Ideologien kennen, lesen wir auch hier, in welche Abgründe die Verfolgung hehrer Ziele die Menschen treibt. Systematisch müssen der Bevölkerung Individualismus, selbstständiges Denken und Freiheitsdrang ausgetrieben und durch neue Werte ersetzt werden, damit sie ihr (einziges) Leben für eine bessere Zukunft opfern. Das Volk wird in »Gute« und »Böse« gespalten, Kritiker werden ausgeschaltet – auch körperlich –, gefördertes Denunziantentum treibt tiefe Keile in Nachbarschaften, Freundeskreise, Familien. Auch eine Familienangehörige Yong Shengs wirft, kaum in die Machtposition der Wortführerin einer Volkskommune aufgestiegen, quasi ihre Menschlichkeit von sich, indem sie den harmlosen und wehrlosen Yong Sheng öffentlich vernichtet: »Zertrümmern wir ihm den Schädel, dem Hund, der es wagt, die Worte des Vorsitzenden Mao zu verdrehen.«
Das lange Lebensband, das hier in aller Kürze zusammengefasst ist, gestaltet der Autor mit Sprachgewalt, psychologischem Feingefühl und Poesie. In einem so behutsamen wie intensiven, detailreichen Stil fließt die Erzählung durchweg ruhig und unaufgeregt dahin wie ein breiter Strom. Interessant ist die zeitliche Strukturierung durch Vorausverweise und vorgreifende Passagen, deren Ereignisse später erst aufgerollt werden.
Dai Sijies Beschreibungen vermögen Menschen zum Leben zu erwecken: Auf dem Kopf der schmächtigen Großmutter »saß ein winziger Dutt, der an eine Handvoll welkes Gras erinnerte, gefangen in einem schwarzen Netz […] Wenn sie lachte – und ihr Lachen war einer Operettenfigur würdig –, zogen sich ihre Falten erst auseinander, bis sie fast verschwunden waren, dann wieder zusammen, wie bei einem Schmiedebalg«. Die exotischen Örtlichkeiten erstehen vor unserem inneren Auge in ihren Details und Eigenheiten: Einzig im Gebäudekomplex des amerikanischen Missionars finden wir Glas statt Papier in den Fenstern und auf dem Boden Parkett statt festgetretener Erde, und bei der eigenartigen »Mischung aus Ruß, zerstoßenen schwarzen Muschelschalen, einem Kondensat aus schwarzer Tinte, schwarzem Perlenpuder und anderen […] Mineralien« handelt es sich um die Farbe eines Kunstmalers, während aus dem Baum Aguilar, auch »Weihrauchbaum« genannt, ein magisch betörender Duft mit einem »Bukett aus Honig, Milch und Seide« ausströmt. Selbst in dramatischsten Situationen umweht uns leichte Poesie: »Ein unnatürlich fahles, bedrohliches Licht fiel aufs Meer und schien vom Ende der Welt zu künden. Es war der Mond. Noch nie hatte sie ihn so gesehen, noch nie ein solches Leuchten, wie ein zügelloses Pferd galoppierte er rückwärts über das Firmament.«
Der kleine Yong erhält den Zusatznamen Sheng (»Ton«) als Hommage an eine besondere Fertigkeit seines Vaters: Er schnitzt kleine »Taubenflöten« aus winzigen Schilf- oder Bambusröhrchen, die mit den mittleren Schwanzfedern verbunden werden. Wenn mehrere dieser künstlichen Vögel in die Lüfte aufsteigen, so erzeugen sie unterschiedliche zarte Töne, die zu einem betörenden Konzert »in lyrischen Tremolos und romantischen Vibratos« zusammenklingen. Der Vater gibt seine Kunst an den Sohn weiter, und das schöne Motiv begleitet ihn und uns durch finsterste Täler bis in die letzten Schlussszenen.
Stärke und Festigung gewinnt Yong Sheng durch seine innige Spiritualität. Nach wenigen friedlichen Jahren, in denen er den christlichen Glauben weitergeben und Gutes tun kann, macht ihm die politische Willkürherrschaft das Leben zur Hölle auf Erden. Erst terrorisieren General Tschiang Kai Tschek und seine Kuomintang-Armee das Land, dann der lange Bürgerkrieg und die siegreich daraus hervorgehende Rote Armee des Mao Zedong. Wie ein Märtyrer durchleidet der Priester die schlimmsten Torturen, ohne aufzubegehren. Indem er aus dessen Perspektive erzählt, bringt der Autor dessen christlichen Glauben auch seinen westlichen Lesern nahe, auf besondere Weise mit der östlichen Betrachtungsweise verbunden und begleitet von Zitaten aus der Bibel und anderen Quellen, z.B. Luthers Tischreden.
Leider begnügt sich Dai Sijie nicht damit, Yong Sheng als duldenden Märtyrer und vorbildhaften Heiligen zu stilisieren. Durch allerlei Anspielungen verleiht er ihm geradezu messianische Züge, hebt ihn in die Nähe Jesu. Die Umstände einer Gefangenschaft des Zimmermannssohns erinnern an Jesu Grab und Auferstehung, am Ende lädt er fremde Schuld auf sich und gibt dafür sein Leben. Nicht nur seine Mitmenschen »verehrten ihn wie ein göttliches Wesen«, auch ihm selbst wird bewusst, »dass sein Name mit einem Gott verknüpft war«.