Rezension zu »Der letzte Sommer in der Stadt« von Gianfranco Calligarich

Der letzte Sommer in der Stadt

von


Ein junger Lebenskünstler lässt sich 1968 durch Roms Dolce vita treiben, bis ihn das Schicksal erfasst.
Belletristik · Zsolnay · · 203 S. · ISBN 9783552072756
Sprache: de · Herkunft: it · Region: Rom

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Römische Desillusionen

Rezension vom 19.04.2022 · 5 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Dieser Roman hat eine merkwürdige Rezeptionsgeschichte. Er ist das Debüt des damals erst 26 Jahre alten Schrift­stellers Gian­franco Calliga­rich, der darin dem Lebens­gefühl von Künstler- und Intellek­tuellen­zirkeln im Rom der »La dolce vita«-Glanzzeit zeitgemäß Ausdruck verleiht.

Originalausgabe:
»L’ultima estate in città«
(1973/2016, Verlag Bompiani)
Gianfranco Calligarich: »L’ultima estate in città« auf Bücher Rezensionen
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Als Garzanti das Buch 1973 heraus­brachte, verkaufte der Verlag binnen weniger Wochen 17.000 Exemplare, dann führte er ein Leben hinter den Kulissen. Kundige analy­sierten, Fans rühmten ihn, und er erlangte Kult­charakter. Der Verlag Aragno legte das Buch 2010 erneut auf, aber richtige Erfolge konnte erst Bompiani einfahren, als der Verlag den Titel 2016 zum dritten Mal aus der Taufe hob, zahl­reiche Über­setzungs­rechte verkaufte und sich Interesse an einer Verfil­mung mani­festierte. Nun erst kommt er auch im deutsch­sprachi­gen Raum an, in der Überset­zung von Karin Krieger, die perlt wie acqua minerale, und zwar frizzante.

Der Plot ist unkompliziert und erstreckt sich im Wesent­lichen unspekta­kulär über ein Jahr. Auch der dreißig­jährige Prota­gonist und Ich-Erzähler strahlt nicht als Held. Angereist aus Roms Erz­rivalin, der nebligen Wirt­schafts­metro­pole Mailand, strandet Leo Gazzarra mitten in Rom, im histori­schen Viertel rund um die Piazza Navona. Auf dem lang­gestreck­ten barocken Platz mit der Basilica Sant’Agnese in Agone, der Fontana dei Quattro Fiumi und der Fontana del Moro schlen­dern Besucher aus aller Welt, lassen sich von seiner Ästhetik faszi­nieren und genießen den Charme der um­liegen­den Bars und Restau­rants. Es ist das Jahr 1968. Italien hat ein Jahrzehnt des explo­dieren­den Tourismus, eines beacht­lichen Wirt­schafts­auf­schwungs und kühn-innova­tiver Stil­prägung in Produkt­design, Mode und Film hinter sich. Nach dem Ende seiner faschisti­schen Phase hat sich das einst rück­ständige Agrar­land inter­natio­nale Aner­kennung erar­beitet.

Doch Leo ist das Streben nach Karriere und mate­riellem Erfolg, wie er es aus Nord­italien kennt, zuwider. Sein unbe­deuten­der Job bei einer Mediziner-Zeit­schrift ernährt ihn hinrei­chend, und wichtiger als die mäßige Bezahlung ist ihm der Arbeits­platz im soeben eröff­neten Büro in Rom. Der Flair der Haupt­stadt und die Nähe zum Meer moti­vieren ihn, doch leider wird die Zweig­stelle nach nur einem Jahr wieder geschlos­sen, und mit seiner Entlas­sung endet auch Leos »seriöse Phase«.

Dabei hatten sich seine Eltern bemüht, ihn nach dem Wehr­dienst auf eine Schiene gesell­schaft­lichen Erfolgs zu hieven. Die beiden älteren Schwes­tern haben alles richtig gemacht und »tüchtige Kerle« gehei­ratet. Vom Großvater, der einstmals zur See fuhr, hat Leo wenigs­tens die Phrase »die Segel setzen« über­nommen und verwendet sie gern, wenn er Initia­tive ergreift und es um Aufbruch zu neuen Ufern geht, aber auch, wenn es ungünstig für ihn zu laufen droht und er »die Biege machen« wird. Aber die eiserne Menta­lität des stolzen, schweig­samen Vaters bleibt dem Sohn fremd.

Leo steht nun vor einem Neuanfang. Zukunfts­pläne? Suche nach einer Anstel­lung mit gere­gelten Arbeits­zeiten? So etwas kommt ihm nicht in den Sinn. »Wie ein Aristo­krat während einer Belage­rung« beschließt er einfach abzu­warten, füllt die Zeit mit Lesen am Strand von Ostia und mit Herum­lungern im Kreise seiner Bekannt­schaften an der Piazza Navona. Einla­dungen, Zuwen­dungen, Gelegen­heits­jobs retten ihn über »Hunger­wochen« hinweg, dazu die groß­zügige Über­lassung einer Wohnung nebst Alfa Romeo – all dies erlaubt es ihm, sich dem Rausch seiner Glücks­gefühle ohne größere Beein­trächti­gung hinzu­geben.

So wird er jeden Tag mehr zu einem Teil von Rom. Indem er dem »ver­steckten … sanften Raubtier« darin die Liebe überlässt, die es ein­fordert, wird er reich belohnt mit einem Lebens­gefühl, wie Italien­besucher es sich seit Goethes Zeiten erträumen: »Wenn ihr die Stadt liebt, wird sie sich euch darbieten, wie ihr sie euch wünscht, … da werden licht­durch­stochene Sommer­abende für euch sein, be­schwingte Frühlings­morgen, Tisch­decken in den Cafés wie im Wind flat­ternde Mädchen­röcke, strenge Winter und endlose Herbste, in denen sie euch wehrlos und krank erschei­nen wird, erschöpft und voller abge­trennter Blätter, auf denen eure Schritte keinen Lärm machen werden. Und da werden gleißende Frei­treppen sein, rau­schende Brunnen, verfal­lene Tempel und das nächt­liche Schweigen der ent­thron­ten Götter, bis die Zeit jeden Sinn verliert.«

Hierzu nicht unpassend durchzieht leise Melan­cholie den Roman. Leo, der sich als »Schiff­brüchiger« unter vielen anderen in der Stadt empfindet, erzählt seine Geschichte aus der Retro­spektive. Gleich in der Anfangs­szene sitzt er in seiner Lieblings­bucht (mit »Sarazenen­festung auf einer felsigen Land­spitze«), und er wird am Ende des Romans wieder hier anlanden. Während er dazwi­schen so dahin­treibt, gern weit über den Durst trinkt, oft genug auch dahin­siecht zwischen Aufstehen und Rückkehr ins Bett, bringt ihn eine junge Studentin der Archi­tektur ins Taumeln. Ariannas Schönheit »war von der Sorte, die wehtat«. Auch sie hat eine Neigung, »die Segel zu setzen«. Schon mit ihrer Schwester liegt sie ständig im Clinch, und obwohl sie und Leo sich sehr nahe kommen, will sie sich an so einen Loser nicht binden. Unstet wie ein Schmet­terling nähert sie sich ihm immer wieder an, lockt seine Liebes­gefühle hervor und flattert gleich wieder davon, auf der Suche nach ihrem Ideal vom Typ ›reicher Villen­besitzer‹.

Nachdem man sich über gut die Hälfte des Buches den Schilde­rungen römischer Atmos­phäre im Fellini-Stil hinge­geben hat und sich langsam einge­stehen muss, dass es sich eher um einen Abgesang als ein Hohelied handelt, beendet ein auf­wühlen­der Schick­sals­schlag jede Anfällig­keit für Illusio­nen. Leo verliert mit Graziano Corrado, einem Mann, der in seiner Bezie­hung mit Frau und Kindern scheitert und dem Alkohol verfällt, seinen besten Freund. Plötzlich gewinnt die schmerz­voll traurige Geschichte von Leos Liebe zu Arianna, die von Beginn an den Hauch des Unter­gangs in sich trägt, an Ernst, an Relevanz, füllt sich mit bitteren Details, schwer erträg­lichen Kon­flikten, quälenden psychi­schen Problemen. Nun wirkt es besonders eindring­lich, wenn sich der Erzähler, wie schon zuvor, direkt an seine Leser­schaft richtet. Es wächst das Verlangen, das Buch gleich noch einmal von vorn zu lesen, um all die Seiten, über die man viel zu ober­flächlich hinweg­geflogen ist, nun mit geschärf­ten Sinnen erneut aufzu­nehmen.

Vielleicht liegt das Faszino­sum, das diesen Roman still, aber kontinu­ierlich über Jahr­zehnte getragen hat, genau darin, dass einer­seits das traditio­nelle Sehn­suchts­bild der Ewigen Stadt auf­strahlt, anderer­seits mit einem untypi­schen Helden verbunden und seiner Illusio­nen ent­kleidet wird. Das Rom der Sechziger zieht wie das heutige »Literaten, Poeten, Cineasten« an, aber es ist keine tiefere Stadt, es hat keine Wunder und Weihen zu bieten, und wenn einen wie Leo die Leere anfällt, muss er selbst damit fertig werden. Am Ende bestimmen Nacht­schwärmer, Müßig­gänger, deka­dente Typen, kaputte Sucht­opfer die düstere Szene – ein Szenario, das auch den Leser depri­miert.

Ein großartiges Gegengewicht ist freilich die außer­gewöhn­liche Sprach­kunst des Autors. Selbst banale Wetter­kapriolen wie ein Regen­guss und seine Aus­wirkun­gen auf Mensch und städtische Transport­mittel oder ein Besuch in einer Backstube, in der »Männer mit schlaffen Teig­klumpen han­tierten und sie auf den Tisch knallten, wie um sie für ihre Gefügig­keit zu bestrafen«, geraten, fein beob­achtet, zu bezau­bernden kleinen Genüssen. Beständig scheint leichte Ironie durchzu­schim­mern – bisweilen auch dras­tische Komik. So kaufen Leo und Arianna aus einer Laune heraus einen Dackel. Die »kleine Ratte« mit Stammbaum kostet ein Vermögen. Kurz danach bezahlen sie in einem Geschäft, wo man keine Schecks akzep­tiert, ihre lächer­liche Rechnung mit dem Hund. Ein andermal beob­achtet der Erzähler ein Paar, das »in der selbst­vergesse­nen Haltung zweier sich aus­ruhen­der Vögel« auf einer riesigen weißen Samt­couch sitzt. »Der Mann hockte als ein Knäuel auf der Armlehne, […] aus dem seine Hände wie zwei kurze, nutzlose Flügel ragten, sodass er an einen Vogel erinnerte, der im Verlauf uralter Evolu­tionen die Verbin­dung zum Himmel verloren hatte.« Das Mädchen »saß auf dieser Couch wie ein Zugvogel, der ein Boot gefunden hatte, auf dem er warten konnte, bis das Gewitter vorbei war. Abwesend, fremd und irgendwie nervös.«

Meine Beurteilung dieses Buches schwankte während der Arbeit daran. Die zuvor durch Lobes­hymnen geweckten Erwar­tungen blieben zunächst eher unerfüllt, weil sich der Roman allzu flach in Atmos­phäri­schem zu weiden schien. Doch wie so oft erwies es sich als lohnend, ein Buch niemals vorzeitig zuzu­klappen. Denn nach und nach setzte sich ein um­fassen­deres und diffe­renzier­teres Bild zusammen. Die (vermeint­liche) Klischee­haftig­keit bekam eine Funktion, die Handlung gewann Tiefe, während die sprach­liche Qualität auf ihrem hohem Niveau blieb. In der Gesamt­schau finde ich Gian­franco Calliga­richs Roman bewun­derns­wert. Die fünf Jahr­zehnte seit seiner Ent­stehung sind ihm kaum anzu­merken und haben ihn nicht beeinträchtigt. Aber auf Kult­status mag ich ihn nicht erheben.


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