Rezension zu »Die tausend Herbste des Jacob de Zoet« von David Mitchell

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

von


Historischer Roman · Rowohlt · · Gebunden · 720 S. · ISBN 9783498045180
Sprache: de · Herkunft: gb

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Der hohe Preis der Prinzipientreue

Rezension vom 09.11.2012 · 13 x als hilfreich bewertet mit 1 Kommentaren

Was für ein Buch! Schon lange habe ich kein derart universales Wortgemälde mehr genossen wie dieses, unfasslich detailreich in seinen Beschreibungen und beeindruckend in seiner historischen, geographischen und kulturellen Tiefe. Dabei spannt sich die Handlung um die halbe Welt (Niederlande und Ostasien) und trägt sich vor zwei Jahrhunderten zu. Der sprachgewaltige Autor hat einen unglaublich langen Atem und die poetische Kraft eines Langstreckenläufers.

Jacob de Zoet ist 25, bedächtig und sittsam, das Gegenteil eines abenteuerlichen Draufgängers. Aber um Anna, die Tochter eines erfolgreichen calvinistischen Handelsherren, ehelichen zu dürfen, soll er sich erst einmal Sporen und Gulden verdienen. Anno 1799 tut man das als ambitionierter Zeelander nicht im heimischen Middelburg, sondern man verdingt sich bei der VOC, der Vereenigde Oost-Indische Compagnie, um eine Verwaltungsposition in einer der ostasiatischen Handelsniederlassungen einzunehmen. Auch Jacob bricht in der Hoffnung auf, dass er gesund und wohlhabend zu Anna zurückkehren möge; als Grundmauern seiner Zuversicht dienen ihm das Psalmenbuch seines frommen Onkels sowie ein kluges Investment in Quecksilber (einer am Ziel stark nachgefragten Medizin gegen Syphilis). Fünf Jahre veranschlagt er, die er am anderen Ende der Welt werde verbringen müssen; achtzehn werden es am Ende sein, und so lange halten weder Annas Treue noch ihr Lebensfaden durch.

Der junge Mann wird nach Dejima versetzt, einziger Vorposten westlicher Kultur an Japans Küsten, eine einsame Handelsstation weit weg von der VOC-Zentrale in Batavia. Wie ein Schiff, das auf ein Riff aufgelaufen ist, liegt die künstliche Insel, wohl nicht größer als 50 mal 200 Meter, vor Nagasaki im Meer - und ist Japan doch so fern wie ein anderer Kontinent. Eine Tag und Nacht streng bewachte Brücke mit Tor, die Kluft zwischen zwei Sprachen und die panische Angst der japanischen Herrschenden vor dem Eindringen ausländischen, v.a. christlichen Gedankenguts trennen das Festland von Dejima. Geduldet sind allein die geschäftlichen Beziehungen, und auch die gleichen eher einem vertrocknenden Rinnsal als einem Warenstrom.

Neben Sklaven, Lagerarbeitern, Handwerkern, Seeleuten und allerlei Getier halten hier die Stellung: der Faktor als verantwortlicher Niederlassungsleiter (Daniel Snitker, bald sein Nachfolger Unico Vorstenbosch), sein Stellvertreter (van Cleef), der Sekretär und Revisor (Jacob de Zoet), ein Koch (Arie Grote) sowie der Arzt Dr. Marinus.

Jacob, der Neuankömmling, wird rasch und brutal desillusioniert. Dejima ist ein Hort des Egoismus, der Korruption, der Täuschung, des Intrigierens und Übervorteilens zu Lasten der VOC, der eigenen Leute ebenso wie der japanischen Partner. Dejimas Einwohner sind allesamt eigenwillige, starke, teils extreme, aber durchweg realistische Charaktere, vom Leben am Rand der Zivilisation oder auf See gegerbt, durch außergewöhnliche Lebensumstände verhärtet; raue Seeleute, die Seegarn spinnen, Säufer, Spieler, unglückliche Ausgebeutete, Schlitzohren und Proleten. Nichts ist in dieser Nussschale geheim, keiner kann, wie er will, da nützt kein Schieben und Verschleiern.

Eine Sonderrolle spielt Dr. Marinus. Während er sich meist mürrisch, rätselhaft und zynisch gibt und gern sadistische Racheaktionen oder Scherzchen austeilt, verbirgt sich hinter der Fassade ein Universalgelehrter und Humanist guter europäischer Tradition. Der stets neugierige Mediziner und Hobby-Botaniker unterrichtet japanische Famuli, führt kluge, scharfzüngige Diskurse, verbreitet revolutionäres Gedankengut und spielt, wenn er alleine ist, Scarlatti-Sonaten auf seinem Cembalo.

Die Japaner allerdings sind im eigenen Land noch rigoroser gefangen als die Niederländer auf ihrem abgeschotteten Eiland. Gewollt isoliert vom Rest der Welt, ist das Land im Mittelalter stehengeblieben, erstarrt in seinen eigenen Traditionen und Machtstrukturen, arrogant und abweisend gegenüber allem, was von außen naht oder von innen nach draußen strebt oder Neues sucht. Wer Japan verlässt und zurückkehrt, wird getötet. Wer unerlaubt ausländisches Gedankengut importiert, wer mit Ausländern unberechtigt Kontakte unterhält oder sie Japanisch lehrt, muss härteste Bestrafung fürchten. In einem öffentlichen Ritual werden alljährlich Jesus-Bilder mit Füßen getreten.

"Land der tausend Herbste" ist einer der Namen, mit denen Japaner ihr Reich zieren (eine Orts-, keine Zeitangabe also). Keine Spur von zarter Kirschblüten-Exotik, ehrenhaften Samurai-Kämpfen oder stillen Steingärten. Wir lesen von ungehemmter Brutalität, bitterster Armut, Anmaßung und rücksichtsloser Machtausübung der Machthaber und ihrer Gehilfen - und von einem unsäglichen, obskur-irrationalen Fruchtbarkeitskult, für den Frauen gefangen gehalten und Säuglinge geopfert werden, um einer Priesterelite Lebenskraft zu spenden. Die Akteure auf dem Festland sind neben dem Vertreter des Shōgun und seinen Hofschranzen der dunkle Fürstabt Enomoto und die Dolmetscher unterschiedlicher Ränge, die zwischen den Kulturen vermitteln und dabei kräftig ihre Eigeninteressen verfolgen, schließlich Orito Aibagawa, eine Hebamme aus gebildetem Hause, klug, aufgeschlossen und wissbegierig, die sich das Privileg erobert hat, an Dr. Marinus' Medizinpraktika teilnehmen zu dürfen.

Trotz der feindseligen Ablehnung harren die Holländer aus. Die VOC ist auf die Lieferung von (goldhaltigen) Kupferbarren angewiesen, damit sie ihre eigenen Angestellten und die Söldnerheere, die die asiatischen Niederlassungen militärisch sichern, bezahlen können. Doch das wird immer schwieriger: Gerade erst ist wieder ein Schiff mit teurer Ladung gesunken; die Japaner reduzieren ihre Lieferungen von Jahr zu Jahr; ein erklecklicher Teil der Handelswaren und des wichtigen Edelmetalls verschwindet aus den kreativ geführten Büchern der VOC und den Ladepapieren der Segelschiffe, um vom Personal privat gehandelt zu werden; schließlich wird die britische Konkurrenz (die British East India Company) immer drückender.

Just in dieser Gemengelage soll Revisor Jacob de Zoet für Ordnung sorgen und die über Jahre gefälschten Bücher richtigstellen. Tapfer und taktisch geschickt verfolgt er seinen Auftrag - und wird natürlich bald aller Feind, denn seine Arbeit geht jedem an den Geldbeutel. Dr. Marinus beobachtet den Grünschnabel anfänglich mit Skepsis, lernt ihn aber im Laufe der Zeit schätzen und wird schließlich sein treuester Weggefährte - zwei Aufklärer finden sich und wagen es, Grenzen zu überschreiten.

Jacob de Zoet verliebt sich in Orito Aibagawa. Da ist keine Leidenschaft, sondern Faszination durch Anmut (trotz Oritos entstelltem Antlitz), zarte Anziehung durch kultiviertes Wesen (trotz der brachialen Gefahren, die beiden drohen). Den roten Handlungsfaden des Romans, der die 720 Seiten wie ein Leitmotiv zusammenhält, bilden die Wege dieses Paares aus zwei Welten auf einander zu. Beide erlernen die Sprache des anderen, sind neugierig auf die andere Kultur, doch Gefangene ihrer Konditionen. Abmachungen entpuppen sich als Fallen, Helfer als Rivalen, Freunde als Feinde. So bleiben sie auf brutale und tragische Weise getrennt, werden unausweichlich aufgerieben im Mahlwerk persönlicher und politischer Ränke, von Diplomatie, die spannend wie ein Go-Spiel ist.

Was mich persönlich aber am meisten begeistert, ist David Mitchells Erzählweise. Geruhsam, unaufgeregt, eher berichtend und oft gar nicht wirklich spannend (im Sinne von action oder der kurzatmigen Jagd nach Geheimnissen und ihrer Auflösung) schlägt der Autor große Bögen, die den Leser hineinziehen in sein Universum, bis er mit wachsender Neugier verfolgt, wie sich die diversen Handlungsfäden wohl weiterentwickeln. Dabei fesseln uns links und rechts des Weges schier unerschöpfliche Details: wilde japanische Gebirgsschluchten, Hinrichtungen, winterliche Straßenverhältnisse, Shanghaien, Kräutergeheimnisse, Zeremonien und Architektur bei Hofe, Zustände auf einem Gefangenenschiff nach Australien, Eisstürme, Amputationen, pissende Affen, eklige Bordellszenen, eine Blasensteinentfernung und alle, aber auch alle Details einer komplizierten Entbindung gleich auf den ersten Seiten.

Es ist die große Zeit heroischer Seefahrt. Mitchell schildert den Alltag an Bord einer britischen Fregatte, wie ich es seit den legendären Büchern von Patrick O'Brian (Vorlagen zu dem grandiosen Film "Master and Commander") nicht mehr gelesen habe, und man ist in mancher Hinsicht gar an die großen Romane von Joseph Conrad erinnert (die allerdings mit gewaltigerer menschlicher Tragik aufwarten). Dann wieder Leichtigkeit, ironisches Infragestellen, schillerndes Spiel mit der Realität, lakonisch wie ein Haiku, klar wie ein Aquarell, wunderbare poetische Schmuckstücke: "Beim Rasieren ... liest ein Mann jeden Tag aufs Neue seine wahre Lebensgeschichte." - "Jacob bereist mit den Augen das Fleckenarchipel an der niedrigen Holzdecke." - "Tu etwas, fleht der Geist des zukünftigen Bedauerns. Ich räume dir keine zweite Gelegenheit ein." - "Elender Tölpel, stöhnt der Teufel des gegenwärtigen Bedauerns. Was hast du angerichtet?"

Am Ende ist die VOC pleite; Napoleon hat die Niederlande aufgelöst, Britannia rules the waves, und Jacob de Zoet schließt nach einem biederen Lebensabend in Middelburg die Augen.

Vergessen Sie die effekthascherische Verfilmung von David Mitchells vorausgegangenem Roman Cloud Atlas (2004; deutsch: Der Wolkenatlas) - vielfältig lohnender ist die Lektüre der Thousand Autumns of Jacob de Zoet (2010), den Volker Oldenburg großartig übersetzt und Rowohlt soeben herausgebracht hat.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Herbst 2012 aufgenommen.


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Kommentare

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Zu »Die tausend Herbste des Jacob de Zoet« von David Mitchell wurden 1 Kommentare verfasst:

MT schrieb am 23.11.2015:

Top Buch. Zwischen herzzerreißend und hochgradig inspirierend schimmert immer wieder eine humorvolle Weisheit durch. Ein klarer Tipp - auch wenn man sich am Anfang getreu Eco's Systematik erst durch 100 zähe Seiten (und Charakteren) durchkämpfen muss wird man danach mit einer wirklich packenden Geschichte belohnt. 5 von 5 Sternen auch für die originelle Schreibweise.

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