Tokio, neue Stadt
von David Peace
Was steckt hinter dem grausamen Tod des Präsidenten der japanischen Eisenbahngesellschaft? War es ein politisch motivierter Mord? Nach Antworten forschen Japaner und Amerikaner Jahrzehnte lang – engagiert, und doch vergebens.
Ein Toter im Kalten Krieg
In der Nacht vom 5. auf den 6. Juli 1949 werden auf den Eisenbahngleisen in einem Tokioter Vorort die gestückelten Teile einer männlichen Leiche gefunden. Das Opfer ist Sadanori Shimoyama, Präsident der japanischen Eisenbahnen und kein durchweg beliebter Zeitgenosse. Jüngst kündigte er an, er müsse, um die gigantischen Verluste seiner Gesellschaft auszugleichen, mehr als einhunderttausend seiner Angestellten entlassen. Am 4. Juli werden die ersten Listen mit Kündigungen veröffentlicht, da hängen schon überall in der Stadt Plakate mit der Aufschrift »Tod Shimoyama«. Dabei hatte sich der Mann um den hohen Posten keineswegs gerissen. Er war ein »Saubermann …, kein harter Bursche«, der die ihm auferlegte unangenehme Aufgabe, Japans Wiederaufbau zu unterstützen, ernst nahm und unter dem damit verbundenen Druck, den Drohungen und geheimen Ränkespielen von allen Seiten psychisch litt.
Den radikalsten unter den betroffenen Eisenbahnarbeitern oder Gewerkschaftern wäre solch ein grausamer Akt zuzutrauen, an dem sich die Polizei nun die Zähne ausbeißt. Doch weder die Spurensicherung noch pathologische Analysen können Klarheit schaffen: Ist dies überhaupt ein Mordfall oder ein Suizid? Wurde der Mann lebend vom Zug überrollt, oder wurde er tot auf die Schienen gelegt?
Da Japan noch von den Amerikanern besetzt ist, spielen sogar weltpolitische Faktoren eine Rolle, denn es geht auch darum, dem gefürchteten Einfluss der Sowjetunion in der Welt entgegenzuwirken. Den US-Besatzern, denen die japanische Polizei unterstellt ist, käme sehr gelegen, wenn Kommunisten hinter der blutigen Tat ausgemacht werden könnten. Dann wären Verhaftungen in diesen Kreisen gerechtfertigt, und propagandistische Kampagnen gegen Moskau fänden eine glaubhafte Basis. So ist es zu erklären, dass ein Top-Ermittler aus den USA nach Tokio abkommandiert wird: Harry Sweeney aus Montana soll seinem Dienstherrn General Douglas MacArthur möglichst einen Mörder aus den Kreisen der Kommunisten auf dem Silbertablett liefern.
Das Verbrechen ist tatsächlich geschehen – und bis heute nicht aufgeklärt. Ein Stoff wie geschaffen für den Autor David Peace (1967 in Yorkshire geboren), der bereits mehrere Kriminalromane veröffentlicht hat, deren Plots reale Ereignisse beleuchten. 1974 bis 1983 erschien seine vierteilige Romanreihe um den »Yorkshire-Ripper«, die ihn bekannt machte und mit Preisen ausgezeichnet wurde. Seit 2007 befasst sich der Autor mit Japans Nachkriegsgeschichte und ungeklärten Verbrechen dort. Peter Torberg hat die voneinander unabhängigen Bände der Tokio-Trilogie übersetzt.
• »Tokyo Year Zero« (2008) | »Tokio im Jahr Null« (Liebeskind, 2009)
• »Tokyo Occupied City« (2009) | »Tokio Besetzte Stadt« (Heyne, 2012)
• »Tokyo Redux« (2021) | »Tokio, neue Stadt« (Liebeskind, 2021)
»Tokio, neue Stadt« erzählt die erfolglosen Bemühungen, den Tod Shimoyamas aufzuklären, und die verstörenden Hintergründe dazu auf drei Zeitebenen. Die politisch-historische Situation im dritten Nachkriegsjahr (1949) ist von den Interessen der Siegermacht geprägt, deren Repräsentanten die kommunistischen Bewegungen im Land als Bedrohung empfinden und mit Argwohn beobachten. Im Jahr der Olympischen Spiele in Tokio (1964) sucht ein Journalist im Auftrag seines Verlages den Privatdetektiv und früheren Polizisten Murota Hideki auf. Der soll einen Schriftsteller von Kriminal- und Tatsachenromanen ausfindig machen, der nach einer schweren psychischen Erkrankung von der Bildfläche verschwand und längst vergessen ist. Er hatte auch an einem Manuskript über den Fall Shimoyama gearbeitet, aber an dem hat der Verlag kein Interesse, sondern nur an der Rückholung des Vorschusses, den man bereits ausgezahlt hatte. Im Jahr 1988 schließlich holen die Geister seiner mit Schuld beladenen Vergangenheit den ehemaligen CIA-Agenten Donald Reichenbach, 74, ein. Er hatte den Auftrag, »einen guten Mann zu opfern [, um] das Volk der Japaner … gegen die Roten aufzubringen«, und lebt seither mit seinem Zwiespalt, er hätte das Opfer warnen können.
Gut gemacht ist, wie die Figuren und Zeitebenen alle miteinander verwoben werden. Die Protagonisten agieren im Dunstkreis der Verbrechen und werden mit jedem kleinen Puzzleteil ihrer Recherchen bis tief in ihr Innerstes hinein verletzt, gequält, zerstört. Wir werden Zeugen grausamer Folterungen und Tötungen, von Säuberungsaktionen, des Verschwindens in Irrenanstalten auf Nimmerwiedersehen. Der Autor, ein wahrer Sprachvirtuose, schert sich nicht um gängige Erzählgepflogenheiten, ignoriert gerne Konventionen zur Gestaltung von Dialogen, Sätzen, Innen- und Außenhandlung und sorgt so dafür, dass wir uns beispielsweise den marternden Stimmen im Kopf der Figuren, der hypnotischen Wirkung der Ströme verwischter Geräusche von Flugzeugen, Kriegsschiffen, Totengesängen, ratternden Zügen kaum entziehen können.
Im Nachwort des Autors erfahren wir, dass »ein Großteil der Unterlagen [der CIA Far East/Pacific Branch] zu japanischen Kriegsverbrechern, nationalistischen Gruppierungen und Geheimgesellschaften … freigegeben«, die Dokumente über Sadanori Shimoyamas Tod hingegen »weiterhin unter Verschluss« seien. So entwirft David Peace vor dem Hintergrund des sorgfältig recherchierten Lebens eines Mannes, der »Eisenbahnen liebt«, nach und nach das schmerzende Zeitbild einer Stadt und eines Landes im Kalten Krieg, wie sie in der Auseinandersetzung zwischen den Weltmächten, ihren Weltanschauungen und Werten zerrieben werden.
»Tokio, neue Stadt« ist ein komplexer historischer Roman, eine nachhaltig bedrückende, schwer verdauliche Krimikost, die in den Erinnerungsfetzen und Albträumen ihrer Protagonisten manches Rätsel ungelöst lässt.