Rezension zu »Tokio, neue Stadt« von David Peace

Tokio, neue Stadt

von


Was steckt hinter dem grausamen Tod des Präsidenten der japanischen Eisenbahngesellschaft? War es ein politisch motivierter Mord? Nach Antworten forschen Japaner und Amerikaner Jahrzehnte lang – engagiert, und doch vergebens.
Kriminalroman · Liebeskind · · 432 S. · ISBN 9783954381272
Sprache: de · Herkunft: gb

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Ein Toter im Kalten Krieg

Rezension vom 26.08.2021 · noch unbewertet · noch unkommentiert

In der Nacht vom 5. auf den 6. Juli 1949 werden auf den Eisenbahn­gleisen in einem Tokioter Vorort die gestü­ckelten Teile einer männ­lichen Leiche gefunden. Das Opfer ist Sadanori Shimo­yama, Präsident der japani­schen Eisen­bahnen und kein durchweg beliebter Zeitge­nosse. Jüngst kündigte er an, er müsse, um die giganti­schen Verluste seiner Gesell­schaft auszu­gleichen, mehr als einhundert­tausend seiner Ange­stellten entlassen. Am 4. Juli werden die ersten Listen mit Kündi­gungen veröffent­licht, da hängen schon überall in der Stadt Plakate mit der Auf­schrift »Tod Shimo­yama«. Dabei hatte sich der Mann um den hohen Posten keineswegs gerissen. Er war ein »Sauber­mann …, kein harter Bursche«, der die ihm aufer­legte unange­nehme Aufgabe, Japans Wieder­aufbau zu unter­stützen, ernst nahm und unter dem damit verbun­denen Druck, den Drohungen und geheimen Ränke­spielen von allen Seiten psychisch litt.

Den radikalsten unter den betroffenen Eisenbahn­arbeitern oder Gewerk­schaftern wäre solch ein grausamer Akt zuzu­trauen, an dem sich die Polizei nun die Zähne ausbeißt. Doch weder die Spuren­sicherung noch patholo­gische Analysen können Klarheit schaffen: Ist dies überhaupt ein Mordfall oder ein Suizid? Wurde der Mann lebend vom Zug überrollt, oder wurde er tot auf die Schienen gelegt?

Da Japan noch von den Amerikanern besetzt ist, spielen sogar weltpoliti­sche Faktoren eine Rolle, denn es geht auch darum, dem gefürch­teten Einfluss der Sowjet­union in der Welt entgegen­zuwirken. Den US-Besatzern, denen die japani­sche Polizei unter­stellt ist, käme sehr gelegen, wenn Kommu­nisten hinter der blutigen Tat ausge­macht werden könnten. Dann wären Verhaf­tungen in diesen Kreisen gerecht­fertigt, und propa­gandis­tische Kampagnen gegen Moskau fänden eine glaub­hafte Basis. So ist es zu erklären, dass ein Top-Ermittler aus den USA nach Tokio abkomman­diert wird: Harry Sweeney aus Montana soll seinem Dienst­herrn General Douglas MacArthur möglichst einen Mörder aus den Kreisen der Kommu­nisten auf dem Silber­tablett liefern.

Das Verbrechen ist tatsächlich geschehen – und bis heute nicht aufge­klärt. Ein Stoff wie geschaf­fen für den Autor David Peace (1967 in Yorkshire geboren), der bereits mehrere Kriminal­romane veröffent­licht hat, deren Plots reale Ereig­nisse beleuch­ten. 1974 bis 1983 erschien seine vier­teilige Roman­reihe um den »York­shire-Ripper«, die ihn bekannt machte und mit Preisen ausge­zeichnet wurde. Seit 2007 befasst sich der Autor mit Japans Nachkriegs­geschichte und ungeklär­ten Ver­brechen dort. Peter Torberg hat die vonein­ander unab­hängigen Bände der Tokio-Trilogie übersetzt.

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»Tokio, neue Stadt« erzählt die erfolglosen Bemühungen, den Tod Shimo­yamas aufzu­klären, und die verstö­renden Hinter­gründe dazu auf drei Zeit­ebenen. Die politisch-histo­rische Situation im dritten Nachkriegs­jahr (1949) ist von den Inter­essen der Sieger­macht geprägt, deren Repräsen­tanten die kommu­nisti­schen Bewe­gungen im Land als Bedrohung empfinden und mit Argwohn beob­achten. Im Jahr der Olympi­schen Spiele in Tokio (1964) sucht ein Jour­nalist im Auftrag seines Verlages den Privat­detektiv und früheren Polizis­ten Murota Hideki auf. Der soll einen Schrift­steller von Kriminal- und Tatsachen­romanen ausfindig machen, der nach einer schweren psychi­schen Erkran­kung von der Bild­fläche ver­schwand und längst vergessen ist. Er hatte auch an einem Manu­skript über den Fall Shimo­yama gear­beitet, aber an dem hat der Verlag kein Interesse, sondern nur an der Rück­holung des Vorschus­ses, den man bereits ausge­zahlt hatte. Im Jahr 1988 schließ­lich holen die Geister seiner mit Schuld beladenen Vergangen­heit den ehema­ligen CIA-Agenten Donald Reichen­bach, 74, ein. Er hatte den Auftrag, »einen guten Mann zu opfern [, um] das Volk der Japaner … gegen die Roten aufzu­bringen«, und lebt seither mit seinem Zwiespalt, er hätte das Opfer warnen können.

Gut gemacht ist, wie die Figuren und Zeit­ebenen alle mitein­ander verwoben werden. Die Protago­nisten agieren im Dunst­kreis der Ver­brechen und werden mit jedem kleinen Puzzle­teil ihrer Recher­chen bis tief in ihr Innerstes hinein verletzt, gequält, zerstört. Wir werden Zeugen grausamer Folte­rungen und Tötungen, von Säube­rungs­aktionen, des Verschwin­dens in Irren­anstalten auf Nimmer­wieder­sehen. Der Autor, ein wahrer Sprach­virtuose, schert sich nicht um gängige Erzähl­gepflogen­heiten, ignoriert gerne Konven­tionen zur Gestal­tung von Dialogen, Sätzen, Innen- und Außen­handlung und sorgt so dafür, dass wir uns beispiels­weise den martern­den Stimmen im Kopf der Figuren, der hypno­tischen Wirkung der Ströme verwisch­ter Geräusche von Flug­zeugen, Kriegs­schiffen, Toten­gesängen, rattern­den Zügen kaum entziehen können.

Im Nachwort des Autors erfahren wir, dass »ein Großteil der Unter­lagen [der CIA Far East/Pacific Branch] zu japani­schen Kriegsver­brechern, natio­nalisti­schen Gruppie­rungen und Geheim­gesell­schaften … freige­geben«, die Doku­mente über Sadanori Shimo­yamas Tod hingegen »weiterhin unter Verschluss« seien. So entwirft David Peace vor dem Hinter­grund des sorg­fältig recher­chierten Lebens eines Mannes, der »Eisen­bahnen liebt«, nach und nach das schmer­zende Zeitbild einer Stadt und eines Landes im Kalten Krieg, wie sie in der Aus­einander­setzung zwischen den Welt­mächten, ihren Welt­anschau­ungen und Werten zerrieben werden.

»Tokio, neue Stadt« ist ein komplexer historischer Roman, eine nach­haltig bedrü­ckende, schwer verdau­liche Krimikost, die in den Erinnerungs­fetzen und Alb­träumen ihrer Protago­nisten manches Rätsel ungelöst lässt.


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