Die Detektive vom Bhoot-Basar
von Deepa Anappara
In einem indischen Armenviertel verschwinden Kinder. Einem Neunjährigen ist das verdächtig, und er macht sich mit zwei Freunden auf die Suche, wie er es aus dem Fernsehen kennt. Mit dem neugierigen Trio tauchen wir in ihr betriebsames Viertel, in die spannungsreiche indische Gesellschaft und in abstoßende kriminelle Machenschaften ein.
Kein Spiel für Kinder
Jai ist neun Jahre alt und lebt in einem Basti (Armenviertel) am Rande einer nordindischen Großstadt. Die Beschreibungen seiner Lebensumstände lassen uns Europäer schaudern, und doch ist ein Basti noch lange kein Slum der schlimmsten Art. Hier haben einfache kleine Leute ihre schlichten Behausungen. Die sind zwar illegal entstanden, haben löchrige Blechdächer, aber doch gemauerte Wände. Wasser und Kanalisation gibt es nicht, aber zeitweise Strom, Fernsehen, öffentliche Toiletten und Waschräume. Die Nutzung solcher Annehmlichkeiten ist freilich auf das Wohlwollen der Verantwortlichen angewiesen, weswegen sich Wartende von morgens früh bis in die späte Nacht in Geduld üben. Wer keine zwei Rupien aufbringen oder nicht mehr warten kann, entledigt sich seiner Sorgen auf der benachbarten Mülldeponie, wo Schweine, Hunde und Kinder nach Verwertbarem wühlen.
Wer in einem Basti lebt, hat in der Regel bescheidene Einnahmen aus einfachen Tätigkeiten und kann ein wenig davon im Bhoot-Basar oder den Buden, Läden, Garküchen und Straßencafés ausgeben. In den Gassen ist kaum ein Durchkommen im Getümmel der Passanten, Rikschas, Kühe, Hühner, Motorroller, Straßenkehrer, Hunde, Ziegen, während ein Wasserbüffel meditierend, »als wäre er ein Gott«, mitten im Weg liegt. In den Gräben häuft sich stinkender Müll, weswegen hier genau wie in den noch viel ärmeren Gegenden tödliche Krankheiten wie Dengue und Typhus drohen, und auch der allgegenwärtige Smog (»der Atem des Teufels«) kennt keine sozialen Unterschiede und verhüllt alles, auch die streng abgeschotteten Viertel der Reichen.
Die Autorin Deepa Anappara ist in Indien aufgewachsen, lebt in England und hat Kurzgeschichten und Kinderbücher veröffentlicht, ehe sie sich ihrem Debütroman »Djinn Patrol on the Purple Line« widmete. Sie verarbeitet darin das brisante sozialkritische Thema einer vernachlässigten gesellschaftlichen Randgruppe und das Verbrechen systematischer Kindsentführung, also eigentlich ein ernstes, schweres Sujet, kleidet es jedoch in einen (auf den ersten Blick) ›leichten‹ Plot um drei Detektiv spielende Kinder. Die originelle Mixtur ist ausgezeichnet gelungen, und das reizvolle, in vieler Hinsicht bereichernde Leseerlebnis hat dem Roman internationale Beachtung verschafft.
Der wunderbare Ich-Erzähler Jai – kindlich-naiv, optimistisch, pragmatisch, voll blühender Fantasie – führt uns durch seine bunt schillernde, geruchsintensive, laute, fremde Welt. Mit Eltern, Schwester und einem Fernseher als dem »wertvollsten Besitz« der Familie lebt er in einem Einraumhaus, wo er allabendlich seine Lieblingskrimiserien verfolgt. Schulbesuch und Hausaufgaben sind ihm lästige Pflichten, während seine ehrgeizige Schwester gern zur Schule geht und sogar in einer Staffelmannschaft trainiert.
Im Kreis seiner Kameraden hat Jai allerlei Probleme. Statt der ersehnten Anerkennung erntet er wegen seiner eher mickrigen Statur und seiner verdreckten Klamotten nur Spott. Am meisten bewundert er Quarter, einen älteren Jungen, der sich nicht um Regeln noch um Strafen schert, sondern als Kopf einer Bande seinen eigenen Kurs fährt. Gegen Bezahlung vermittelt er sogar »falsche Eltern«, wenn der Schuldirektor einen Gesprächstermin anordnet. So ein angesehener Anführer einer Clique wäre Jai auch gern – allerdings kein »Verbrechertyp« wie Quarter. Er möchte auf der Seite der Guten kämpfen wie die Helden seiner TV-Serien.
Auslöser der Handlung ist das plötzliche Verschwinden eines Klassenkameraden. Gut möglich, dass der Junge einfach abgehauen ist, weil er das Zusammenleben mit seinem äußerlich wie innerlich verwahrlosten Vater nicht mehr ausgehalten hat. Als aber kurz darauf auch noch Freund Omvir verschwindet, ist Jais Stunde gekommen. Eigentlich wäre ja die Polizei gefragt, doch der schenkt niemand Vertrauen. Statt zu »dienen und beschützen«, belästigen die Ordnungshüter die Ladenbesitzer, schlagen sich die Bäuche mit Gratisessen voll, kassieren Schmiergelder und drohen, das ganze Viertel mit Bulldozern »plattzumachen«. Das schüchtert selbst die forschesten und die unzufriedensten Bewohner ein, und sie ziehen ihre Forderungen lieber zurück. Den unbefangenen Jai packt dagegen der Detektiv-Ehrgeiz, die verschwundenen Kinder wiederzufinden. Allein kann ihm das nicht gelingen, also tut er sich mit Kumpanen zusammen: mit dem Hindu-Mädchen Pari, einer Intelligenzbestie (»ihr Gehirn verknüpft alles mit Lichtgeschwindigkeit«), und Faiz, einem Muslim-Jungen, dem sofort klar ist, dass die »bösen Dschinns« die beiden Freunde gestohlen haben. Die Angst vor diesen Geistern mit magischen Kräften überfällt in der Nacht allerdings auch den kleinen Jay.
Vordergründig liest sich dieses Buch wie ein spannender Detektivroman für Jugendliche. Unweigerlich kommen uns Klassiker wie Emil und die Detektive in den Sinn. Doch »Die Detektive vom Bhoot-Basar« sind weit mehr als Kalle Blomquist und Konsorten: Als Protagonisten repräsentieren sie ihre prekäre soziale Unterschicht in einem riesigen Land, in dem jegliche Sozialstaatlichkeit unbekannt ist. Die Armen, aber noch nicht Verlorenen sind sich selbst überlassen und müssen sich selbst organisieren, als Individuen wie als Gemeinschaft. Unter normalen Bedingungen funktioniert das Zusammenleben, so gut das geht: Die Nachbarschaft hält zusammen, man sorgt füreinander, achtet gegenseitig auf die Kinder. Doch unter dem existentiellen Druck weiterer Kindesentführungen schlägt die Stimmung der hilflosen, verängstigten Erwachsenen um. Die rechtspopulistische Agitation der Hindu-Samaj-Partei richtet die Wut wie so oft gegen die Muslimgemeinschaft, seit Jahrzehnten Sündenbock für alle möglichen Unglücke. Lautstark zieht eine Menschenmenge durch das Viertel, ruft »Indien gehört den Hindus« und beschimpft die »Terroristenschweine, Kindesfänger und Kindesmörder«. Die Aggressionen nehmen zu, endlich greift die Polizei ein und verhaftet willkürlich vier Muslime, darunter Faiz’ Bruder. Die Festgenommenen müssen damit rechnen, dass ihnen fingierte Beweise untergeschoben werden. Spätestens jetzt ist aus dem kindlichen Detektivspiel ein großer Fall geworden.
Deepa Anappara entwickelt den spannenden Plot mit sozialer Relevanz in einer für uns exotischen Kultur in einer erfrischend lebendigen, bildkräftigen Erzählweise, die natürlich ebenfalls in indischen Traditionen wurzelt. Alle Figuren sind hingebungsvoll gestaltet, ihr unermüdlicher Kampf ums Überleben wird trotz grausamer Szenen warmherzig erzählt. Der Wortschatz ist oft deftig, aber auch blumig, insbesondere in ausgefallenen Vergleichen (»Papas Worte fallen zu Boden, wo die Hühner sie aufpicken und die Ziegen sie zerkauen«, »Gott bohrt mir einen Schraubenzieher ins Fleisch und hört gar nicht mehr auf zu drehen«). Viele Vokabeln haben die Übersetzer pociao und Roberto de Hollanda im Original übernommen (»Basti«: Armenviertel, »Bhoot«: Geist), was viel Flair schafft und dank eines Glossars unproblematisch ist.
Ganz unten in der Hierarchie stehen die Kinder. Glücklich, wen die Eltern lieben und zur Schule schicken. Die meisten dürften allerdings einem erbarmungslosen Mix aus Vernachlässigung, Willkür und Gewalt ausgesetzt sein. Im allgegenwärtigen Dreck und täglichen Hunger lassen alle ihre Stimmungsschwankungen unkontrolliert an den Schwächeren aus. Die Männer unterdrücken die Frauen, missbrauchen sie und den Nachwuchs. So finden schon kleine Kinder keinen Halt, schwänzen die Schule, nehmen Jobs gegen spontan ausgehandelten Lohn an, sammeln Müll, schnüffeln Klebstoff.
In diesem Umfeld ein harmloses Happy End à la TKKG zu erwarten wäre vermessen. Immerhin darf Jai sich (und dem Leser) Hoffnung machen. Wenigstens löst sich nach langer Zeit der Smog ein wenig auf, und ein Stern leuchtet am Himmel. Für den Jungen ist das ein geheimes Zeichen, das ihm seine Schwester Runu sendet. Er strahlt »so mächtig, dass er die dicksten Wolken und den Smog und sogar die Wände durchdringen kann, die Mas Götter errichtet haben, um eine Welt von der anderen zu trennen«.