Rezension zu »Die Detektive vom Bhoot-Basar« von Deepa Anappara

Die Detektive vom Bhoot-Basar

von


In einem indischen Armenviertel verschwinden Kinder. Einem Neunjährigen ist das verdächtig, und er macht sich mit zwei Freunden auf die Suche, wie er es aus dem Fernsehen kennt. Mit dem neugierigen Trio tauchen wir in ihr betriebsames Viertel, in die spannungsreiche indische Gesellschaft und in abstoßende kriminelle Machenschaften ein.
Belletristik · Rowohlt · · 400 S. · ISBN 9783498001186
Sprache: de · Herkunft: gb

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Kein Spiel für Kinder

Rezension vom 26.06.2020 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Jai ist neun Jahre alt und lebt in einem Basti (Armen­viertel) am Rande einer nord­indi­schen Großstadt. Die Beschrei­bungen seiner Lebens­umstände lassen uns Europäer schaudern, und doch ist ein Basti noch lange kein Slum der schlimm­sten Art. Hier haben einfache kleine Leute ihre schlich­ten Behau­sungen. Die sind zwar illegal ent­standen, haben löchrige Blech­dächer, aber doch gemauerte Wände. Wasser und Kanali­sation gibt es nicht, aber zeitweise Strom, Fernsehen, öffent­liche Toiletten und Wasch­räume. Die Nutzung solcher Annehm­lich­keiten ist freilich auf das Wohl­wollen der Verant­wort­lichen ange­wiesen, weswegen sich Wartende von morgens früh bis in die späte Nacht in Geduld üben. Wer keine zwei Rupien auf­bringen oder nicht mehr warten kann, entledigt sich seiner Sorgen auf der benach­barten Müll­deponie, wo Schweine, Hunde und Kinder nach Verwert­barem wühlen.

Wer in einem Basti lebt, hat in der Regel beschei­dene Einnahmen aus einfachen Tätig­keiten und kann ein wenig davon im Bhoot-Basar oder den Buden, Läden, Garküchen und Straßen­cafés ausgeben. In den Gassen ist kaum ein Durch­kommen im Getümmel der Passanten, Rikschas, Kühe, Hühner, Motor­roller, Straßen­kehrer, Hunde, Ziegen, während ein Wasser­büffel medi­tierend, »als wäre er ein Gott«, mitten im Weg liegt. In den Gräben häuft sich stinken­der Müll, weswegen hier genau wie in den noch viel ärmeren Gegenden tödliche Krank­heiten wie Dengue und Typhus drohen, und auch der allgegen­wärtige Smog (»der Atem des Teufels«) kennt keine sozialen Unter­schiede und verhüllt alles, auch die streng abge­schot­teten Viertel der Reichen.

Die Autorin Deepa Anappara ist in Indien aufgewachsen, lebt in England und hat Kurz­geschich­ten und Kinder­bücher veröffent­licht, ehe sie sich ihrem Debüt­roman »Djinn Patrol on the Purple Line« Deepa Anappara: »Djinn Patrol on the Purple Line« bei Amazon widmete. Sie verar­beitet darin das brisante sozial­kritische Thema einer vernach­lässig­ten gesell­schaft­lichen Rand­gruppe und das Ver­brechen systema­tischer Kinds­entfüh­rung, also eigent­lich ein ernstes, schweres Sujet, kleidet es jedoch in einen (auf den ersten Blick) ›leichten‹ Plot um drei Detektiv spielende Kinder. Die origi­nelle Mixtur ist ausge­zeichnet gelungen, und das reizvolle, in vieler Hinsicht berei­chernde Lese­erlebnis hat dem Roman interna­tionale Beachtung ver­schafft.

Der wunderbare Ich-Erzähler Jai – kindlich-naiv, optimis­tisch, pragma­tisch, voll blühender Fantasie – führt uns durch seine bunt schil­lernde, geruchs­intensive, laute, fremde Welt. Mit Eltern, Schwester und einem Fernseher als dem »wert­volls­ten Besitz« der Familie lebt er in einem Einraum­haus, wo er allabend­lich seine Lieblings­krimi­serien verfolgt. Schul­besuch und Hausauf­gaben sind ihm lästige Pflichten, während seine ehr­geizige Schwester gern zur Schule geht und sogar in einer Staffel­mann­schaft trainiert.

Im Kreis seiner Kameraden hat Jai allerlei Probleme. Statt der ersehnten Aner­kennung erntet er wegen seiner eher mickrigen Statur und seiner ver­dreck­ten Klamotten nur Spott. Am meisten bewundert er Quarter, einen älteren Jungen, der sich nicht um Regeln noch um Strafen schert, sondern als Kopf einer Bande seinen eigenen Kurs fährt. Gegen Bezahlung ver­mittelt er sogar »falsche Eltern«, wenn der Schul­direktor einen Gesprächs­termin anordnet. So ein ange­sehe­ner Anführer einer Clique wäre Jai auch gern – aller­dings kein »Ver­brecher­typ« wie Quarter. Er möchte auf der Seite der Guten kämpfen wie die Helden seiner TV-Serien.

Auslöser der Handlung ist das plötzliche Verschwinden eines Klassen­kame­raden. Gut möglich, dass der Junge einfach abgehauen ist, weil er das Zusammen­leben mit seinem äußerlich wie innerlich verwahr­losten Vater nicht mehr ausge­halten hat. Als aber kurz darauf auch noch Freund Omvir verschwin­det, ist Jais Stunde gekommen. Eigent­lich wäre ja die Polizei gefragt, doch der schenkt niemand Vertrauen. Statt zu »dienen und beschüt­zen«, beläs­tigen die Ordnungs­hüter die Laden­besitzer, schlagen sich die Bäuche mit Gratis­essen voll, kassieren Schmier­gelder und drohen, das ganze Viertel mit Bull­dozern »platt­zuma­chen«. Das schüch­tert selbst die for­schesten und die unzufrie­densten Bewohner ein, und sie ziehen ihre Forde­rungen lieber zurück. Den unbefan­genen Jai packt dagegen der Detektiv-Ehrgeiz, die ver­schwun­denen Kinder wiederzu­finden. Allein kann ihm das nicht gelingen, also tut er sich mit Kumpanen zusammen: mit dem Hindu-Mädchen Pari, einer Intelli­genz­bestie (»ihr Gehirn verknüpft alles mit Lichtge­schwindig­keit«), und Faiz, einem Muslim-Jungen, dem sofort klar ist, dass die »bösen Dschinns« die beiden Freunde gestohlen haben. Die Angst vor diesen Geistern mit magischen Kräften überfällt in der Nacht aller­dings auch den kleinen Jay.

Vordergründig liest sich dieses Buch wie ein spannender Detektiv­roman für Jugend­liche. Unwei­gerlich kommen uns Klassiker wie Emil und die Detektive in den Sinn. Doch »Die Detektive vom Bhoot-Basar« sind weit mehr als Kalle Blomquist und Konsorten: Als Protago­nisten repräsen­tieren sie ihre prekäre soziale Unter­schicht in einem riesigen Land, in dem jegliche Sozial­staatlich­keit unbekannt ist. Die Armen, aber noch nicht Verlo­renen sind sich selbst über­lassen und müssen sich selbst organi­sieren, als Indivi­duen wie als Gemein­schaft. Unter normalen Bedin­gungen funktio­niert das Zusammen­leben, so gut das geht: Die Nachbar­schaft hält zusammen, man sorgt fürein­ander, achtet gegen­seitig auf die Kinder. Doch unter dem existen­tiellen Druck weiterer Kindes­entfüh­rungen schlägt die Stimmung der hilflosen, verängs­tigten Erwach­senen um. Die rechts­populis­tische Agitation der Hindu-Samaj-Partei richtet die Wut wie so oft gegen die Muslim­gemein­schaft, seit Jahr­zehnten Sünden­bock für alle möglichen Unglücke. Lautstark zieht eine Menschen­menge durch das Viertel, ruft »Indien gehört den Hindus« und beschimpft die »Terroristen­schweine, Kindes­fänger und Kindes­mörder«. Die Aggres­sionen nehmen zu, endlich greift die Polizei ein und verhaftet willkür­lich vier Muslime, darunter Faiz’ Bruder. Die Fest­genom­menen müssen damit rechnen, dass ihnen fingierte Beweise unter­gescho­ben werden. Spätes­tens jetzt ist aus dem kind­lichen Detektiv­spiel ein großer Fall geworden.

Deepa Anappara entwickelt den spannenden Plot mit sozialer Relevanz in einer für uns exoti­schen Kultur in einer erfri­schend leben­digen, bild­kräftigen Erzähl­weise, die natürlich ebenfalls in indischen Tradi­tionen wurzelt. Alle Figuren sind hin­gebungs­voll gestaltet, ihr uner­müd­licher Kampf ums Überleben wird trotz grausamer Szenen warm­herzig erzählt. Der Wort­schatz ist oft deftig, aber auch blumig, insbe­sondere in aus­gefal­lenen Verglei­chen (»Papas Worte fallen zu Boden, wo die Hühner sie aufpicken und die Ziegen sie zerkauen«, »Gott bohrt mir einen Schrauben­zieher ins Fleisch und hört gar nicht mehr auf zu drehen«). Viele Vokabeln haben die Über­setzer pociao und Roberto de Hollanda im Original über­nommen (»Basti«: Armen­viertel, »Bhoot«: Geist), was viel Flair schafft und dank eines Glossars unproble­matisch ist.

Ganz unten in der Hierarchie stehen die Kinder. Glücklich, wen die Eltern lieben und zur Schule schicken. Die meisten dürften aller­dings einem er­barmungs­losen Mix aus Vernach­lässi­gung, Willkür und Gewalt ausge­setzt sein. Im all­gegen­wärtigen Dreck und täglichen Hunger lassen alle ihre Stimmungs­schwan­kungen un­kontrol­liert an den Schwäche­ren aus. Die Männer unter­drücken die Frauen, miss­brauchen sie und den Nachwuchs. So finden schon kleine Kinder keinen Halt, schwänzen die Schule, nehmen Jobs gegen spontan aus­gehan­delten Lohn an, sammeln Müll, schnüf­feln Klebstoff.

In diesem Umfeld ein harmloses Happy End à la TKKG zu erwarten wäre vermessen. Immerhin darf Jai sich (und dem Leser) Hoffnung machen. Wenigs­tens löst sich nach langer Zeit der Smog ein wenig auf, und ein Stern leuchtet am Himmel. Für den Jungen ist das ein geheimes Zeichen, das ihm seine Schwester Runu sendet. Er strahlt »so mächtig, dass er die dicksten Wolken und den Smog und sogar die Wände durch­dringen kann, die Mas Götter errichtet haben, um eine Welt von der anderen zu trennen«.


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