Ciao. Omaggio all’Italia
von Mario Testino und Alain Elkann
Während der vier Jahrzehnte seiner Karriere als Modefotograf hat Mario Testino immer wieder das Land seiner Vorfahren bereist, erforscht und lieben gelernt. In diesem prächtigen Bildband hat er ein faszinierendes, schillerndes Porträt zusammengestellt, das Glamour und Alltag, Vitalität und Schönheit Italiens in sehr persönlicher Weise einfängt.
Italien: Glamour und die Leichtigkeit des Seins
Die Frage, was Italien sei, hat keine Antwort – und unendlich viele. Je öfter man das Land bereist, je mehr Menschen und Gegenden man kennenlernt, je mehr man von seiner Geschichte, Kultur, Sprache erfährt, desto bunter schillert es, und desto unmöglicher wird es, ein Porträt in Worte zu fassen.
Gut, dass die Fotografie es ermöglicht, optische Eindrücke einzufangen. Bekanntlich kann ein Bild durchaus ›mehr‹ vermitteln als eine verbale Äußerung. Zwar ist seine Aussage in puncto Präzision und Eindeutigkeit unterlegen, dafür kann es durch die Direktheit seiner Ansprache und durch emotionale Wucht bestechen, und es lässt dem Betrachter die Freiheit, sich im Bildraum zu bewegen, die Details und das Ganze zu interpretieren, sich zu identifizieren oder zu distanzieren.
Große Fotografen sind Multitalente. Im Strudel des vorbeirauschenden Lebens erfassen sie blitzschnell ein geeignetes Motiv, wählen in Sekundenbruchteilen den optimalen Ausschnitt, nehmen wie intuitiv die Einstellungen vor und drücken im richtigen Moment auf den Auslöser. Eine Meisterfotografie hält dann eine kurzlebige Impression von prägnantem ästhetischen Reiz fest und macht sie dauerhaft und reproduzierbar. Moderne Technik erleichtert das Handwerk und eröffnet zudem neue Horizonte, doch noch immer sind ein geschultes Auge, künstlerisches Talent und technische Kompetenz die Voraussetzung, um mehr als ein Allerweltsbildchen zu produzieren.
Ein Künstler dieser Klasse und ein Profi von Weltgeltung ist Mario Testino. Er wurde 1954 in Peru geboren, doch sein Großvater war 1885 aus Italien nach Südamerika ausgewandert. Die italienischen Gene prägten den Enkel. Der ging 1976 nach London, entdeckte seine Obsession für Mode und die Fotografie und brach, einer latenten Sehnsucht nach dem Land seiner Vorfahren folgend, immer wieder nach Italien auf. Aus zunächst beruflich bedingten Begegnungen mit bedeutenden Mode-Designern (Gucci, Versace, Dolce & Gabbiana), Models, Stars (Madonna) und einflussreichen Familien erwuchsen Verträge und Freundschaften, vor allem aber tiefe Einblicke in das vielfältig-widersprüchliche Wesen, die ungezwungen-spontane, genussvolle Lebensart der Italiener in ihrem Land, das wie kein zweites auf Erden überquillt von Zeugnissen einer Kultur, die sich seit über zweitausend Jahren dem Streben nach anmutiger Schönheit hingibt. Wo das Leitbild für das Auftreten im Alltag lautet, bella figura zu machen, muss sich gerade ein Modefotograf zu Hause fühlen.
Über vier Jahrzehnte hielt Testino seine Eindrücke fest, was Italien und die Italiener sind. Im Bildband »Ciao« präsentiert er auf über 250 Seiten eine Auswahl seiner Lieblingsfotos aus dem Belpaese der Neunzigerjahre bis 2019, durchweg ganz- oder mehrseitig in erstklassigem Druck auf schwerem Papier, wie beim Taschen-Verlag nicht anders zu erwarten. Die Abbildungen sind in drei Themenkreise gegliedert (»In giro | Out and about« – »Alla moda | In fashion« – »Al mare | At sea«). Dominieren den ersten und dritten Teil Bilder aus dem italienischen Alltagsleben, dazu Architektur, Interieurs und Landschaften, so zeigt der zweite faszinierende Extravaganz in jeder Hinsicht – Models, Mode, Prominenz und Luxus, arrangiert in elegantem Ambiente.
All diese Motivkreise gemeinsam tragen dazu bei, was Testinos Italien ausmacht: eine reiche Kulturlandschaft, die stilisierte und bewunderte Glamourwelt der Mode und, auf der anderen Seite, die unverstellte Welt der einfachen Leute, die ihren Emotionen freien Lauf lassen. Aus diesen Fotografien strahlt uns pralle Lebensfreude entgegen, überschwängliches Lachen aus weit aufgerissenen Mündern steckt uns an, und wir sind mitten drin in der Hochzeitsfeier, unter den ausgelassen spielenden und badenden Kindern, den begeisterten Fußballfans. Man spürt das vom Fotografen eingefangene subtile Behagen, in Szene gesetzt zu werden, etwa bei den vier neapolitanischen Ministranten in ihren kardinalroten Gewändern, die ihm, den Schalk im Nacken, aus weißen Handschuhen ein kesses Sieger-»V« entgegen strecken. Wie viel gewichtiger wirken dagegen manche Porträts ›feiner Leute‹. Reglose Gesichter lassen uns tief in edle Seelen schauen wie bei Raffael und Ghirlandaio, während wir vor der schwarz-weißen Erstarrung im Salon einer Familie aus neapolitanischem Hochadel in ehrfürchtiger Befremdung erschaudern.
Testinos Stil hat mehrere Varianten. Scheinbar unabhängig vom Motiv macht er kristallin funkelnde, messerscharfe Farbbilder oder aber körnige Schwarz-Weiß-Aufnahmen mit eigenwilligen Ausschnitten, die ihren Gegenstand verwischen, verhauchen, verrätseln. Es gibt leise Nahaufnahmen und aufregende Perspektiven. Ästhetisch beeindrucken mich besonders die klassisch arrangiert wirkenden Porträts, in denen Licht und Schatten, helle und dunkle Farben so austariert sind, dass sie an Gemälde der Renaissance und des Barock erinnern: die ernsten Männer der Contrada della Torre beim Palio von Siena (2007), die beiden madonnenhaften Sardinnen bei der Festa di Sant’Efisio (2019) in ihrer unglaublich fein und reich verzierten Tracht aus Hauben, Spitzen, Stickereien und Schmuck.
Testinos Omaggio all’Italia (Hommage an Italien), so der Untertitel dieses Bandes, beansprucht nicht, ein umfassendes Bild von Land und Leuten zu geben, sondern ist das sehr individuelle, leidenschaftliche Bekenntnis einer mondänen Persönlichkeit. Die Aufnahmen entstanden nicht in der engen Provinz, sondern in Trubel und Glanz von Venedig, Rom, Siena, Neapel, Amalfi und Capri, und sie berauschen mit den frohen, hellen Seiten des Daseins. Doch ist nicht gerade diese unbeschwerte Lebenslust ein wesentliches Merkmal des italienischen Charakters? »Ciao« vermittelt ein faszinierendes, Atem beraubendes Mosaik dessen, was die ausgelassene, stilvolle Schönheit Italiens ausmacht.