Falsche Ursula
von Mercedes Rosende
Als die Anrufer Ursula López mitteilen, sie hätten ihren Mann entführt, ergreift sie die Gelegenheit, um ihr trostloses Leben in neue Bahnen zu lenken. Einen Ehemann hat sie nicht, dafür Übergewicht und viele andere Gründe, ihre Mitmenschen zu beneiden. So lässt sie sich auf ein wahnwitziges Abenteuer ein.
Das hässliche Entlein schlägt zurück
Ursula López hat’s nicht leicht. Mit knapp über vierzig ist sie nicht mehr die Jüngste, aber schwerer als das Alter wiegt ihr Körper, vor allem während sie ihn zu ihrer Mietwohnung im fünften Stock hinauf hievt. Dann muss sie auf jedem Treppenabsatz ein Päuschen einlegen. Die Rast hat bisweilen auch ihr Gutes, wenn nämlich Spuren lustvoller Aktivitäten aus anderen Wohnungen an ihre seit früher Jugend geschulten feinen Sinnesorgane dringen. Auf eigene praktische Erfahrungen in diesen Dingen kann sie nicht zurückgreifen, wohl wissend, dass jemand wie sie – »fett wie ein Walross«, überdies von Blähungen und anderen Malesten gequält – nicht zu den begehrtesten Sexpartnerinnen zählt. So hat sie sich auf ein Geschlechtsleben aus zweiter Hand eingestellt, lauscht, schnüffelt und versinkt genüsslich in der Leidenschaft des fremden Paars.
Eine Autorin aus Uruguay hat sich diese chronisch unglückliche Frau als Ich-Erzählerin eines skurril-abgründigen Kriminalromans ausgedacht. Hat uns Mercedes Rosende, 1958 in Montevideo geboren, erst einmal ein paar Tage an Ursulas enervierendem Alltag teilnehmen lassen, verstehen wir nur zu gut, dass ihre Protagonistin so eine mürrische, kauzige Person geworden ist. Gleich am ersten Tag erleben wir sie eingeklemmt – in einer engen Umkleidekabine, in einem viel zu engen »Fummel«, in ihrer Wut auf die »verfickte Verkäuferin« (»das ist schon die größte Nummer«), in der Verachtung für ihren unförmigen Körper (»diese schweißglänzenden Speckfalten … der schwabbelige Lappen … die Kugel weiter unten … ein Rie-sen-arsch«) – und schwanken zwischen Mitgefühl und Ratlosigkeit.
In der Tat hasst sie alles und jeden und am meisten wohl sich selbst. Alle Schlachten gegen ihr Übergewicht (Suppendiäten, Weight-Watcher-Treffen) hat sie mangels Konsequenz, Kraft und Überzeugung verloren; Cremekuchen und Schokoriegel triumphieren. Jahre unterwürfigster Bemühungen »dazuzugehören« brachten ihr nichts als schreckliche Demütigungen und Frustrationen ein und haben Ursula zu einer unausstehlichen Xanthippe, einer perfiden, gewissenlosen Einzelkämpferin mit krimineller Energie werden lassen, die hemmungslos lügt, dass sich die Balken biegen.
Sogar gegen die Toten richtet sich Ursulas Hass, denn die tragen in ihrem Empfinden Mitschuld an ihrem ausweglos verkorksten Leben. »Wer sollte so einen Dickwanst jemals liebhaben?«, flüstert ihr der eigene Vater zu – aus dem Off, denn er ist seit Jahren tot. Nach Mutters frühem Ableben wurde die »liebe Tante Irene« unversehens zu ihrer Stiefmutter – möge sie wie all die anderen »geliebten Toten […] für immer und ewig in der Hölle schmoren«. Dorthin wünscht Ursula auch ihre Schwester Luz. Als Kinder noch unzertrennlich, wuchsen sie unter Tante Irenes Dach auf, bis sie »schlagartig« der Hass entzweite. Luz ist jünger, attraktiv, mit einem vermögenden Mann liiert, wohnt in einem Luxusanwesen mit Pool und Bediensteten in einem Nobelviertel. Vom Leben gelangweilt, gibt sie sich getrieben: Ihr Tag reicht nie aus, um tausend Dinge zu erledigen – Rosen, Mode, Fitness … Wenn Ursula sie besucht, würde sie sie »am liebsten erwürgen«.
Am dritten Tag geht das Telefon, und Ursulas Schicksal nimmt seine Wendung: »Wir haben Ihren Ehemann«, sagt eine männliche Stimme, nennt einen Treffpunkt, wo man sich schon in einer halben Stunde sehen werde, und legt auf. Ursulas Frage bleibt ungehört: »Was für einen Ehemann?«
Mehr sei hier nicht verraten, denn was Mercedes Rosende höchst amüsant erzählt, wie sie uns in ihrem grotesken Kriminalroman »Mujer equivocada« (der im Original bereits 2011 erschien und jetzt von Peter Kultzen übersetzt wurde) gehörig aufs Glatteis führt, muss und will man selbst genießen. Bereits in Kapitel 4 (Seite 24) wähnen wir uns der Lösung nahe: Der Geschäftsmann Santiago Losada gerät in eine Fahrzeugkontrolle, wird dann aber entführt. Doch die Sache läuft dumm, und die Autorin verwirrt uns wunderbar. Die Struktur ist klug konzipiert, die Erzählweise fein ziseliert. Viele kurze Kapitel, kursiv abgehobene Texteinschübe und ein Mix unterschiedlicher Textsorten (Dialog, Polizeiprotokoll, Zeitungsbericht) treiben den Leser voran. Indem der haarsträubende Irrsinn zunimmt, scheinen wir einer Lösung kaum näher zu kommen: Steckt eine Geliebte hinter der Entführung? Hat das Opfer seine Entführung selber inszeniert? Vor allem aber: Wer ist die wahre, wer die falsche Ursula? Am Ende hängt die Antwort nur an einem flüchtigen Duft …