Rezension zu »Sekunden der Gnade« von Dennis Lehane

Sekunden der Gnade

von


Im Sommer 1974 brodeln die südlichen Bostoner Vororte unter rassistischen Unruhen und gut gemeinten politischen Experimenten. Im Chaos wird ein junger Schwarzer erschlagen aufgefunden, und eine junge Frau verschwindet. Ihre Mutter muss allein und hart kämpfen, um sie aufzuspüren.
Thriller · Diogenes · · 400 S. · ISBN 9783257072587
Sprache: de · Herkunft: us

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Mary Pat nimmt Rache

Rezension vom 07.12.2023 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Präsident John F. Kennedy hat 1961 ein Konzept umgesetzt, das chronisch benach­teilig­ten Minder­heiten bessere Chancen ver­schaf­fen sollte, sich in der Gesell­schaft zu inte­grieren und zu behaupten. »Affir­mative Action« führte konkrete Maßnahmen ein, die diese Gruppen bewusst bevor­zugen (etwa durch Quoten­rege­lungen beim Zugang zu Bil­dungs­institu­tionen) oder Defizite kompen­sieren sollten (indem man bei­spiels­weise Schüler aus sozialen Brenn­punk­ten in ›besse­ren‹ Wohnge­bieten beschulte und umgekehrt). Es handelt sich also um »positive Dis­kriminie­rung«. Obwohl heftig um­stritten, wird die Praxis bis heute geübt.

»Sekunden der Gnade«, der jüngste Roman des US-amerika­nischen Krimi- und Thriller­autors Dennis Lehane, taucht seine Leser ein in ein Milieu, das von »Affir­mative Action« betroffen ist. Zum Schul­beginn im Sommer 1974 soll in Boston endlich die Rassen­trennung in den High­schools über­wunden werden. So hat die South Boston High School mehr­heit­lich weiße, die Roxbury High School über­wiegend afro­amerika­nische Schüle­rinnen und Schüler. In einem Verfahren, das schon drei Jahre anhängig ist, ordnet der Bezirks­richter an, dass große Teile der Schüler­schaft per Schul­bus­trans­port (»busing«) ausge­tauscht werden müssen, um Chancen­gleich­heit zu schaffen.

In South Boston, einem der ärmsten Viertel der Großstadt, laufen die haupt­säch­lich irisch-stämmi­gen weißen Einwohner Sturm gegen die Maßnahme. Denn die Roxbury-Schule ist berüch­tigt für ihr verfal­lenes Gebäude, ihre schlechte Aus­stat­tung, unter­durch­schnitt­liche Leis­tungen und eine Umgebung mit hoher Krimi­nalitäts­rate. Protest­demons­trationen werden vorbe­reitet, und die Eltern sind sich einig, dass ihre Kinder dem Unter­richt am ersten Schultag fern­bleiben werden.

Die betroffenen Bürgerinnen und Bürger können die ange­ordne­ten Zumu­tungen für ihre Kinder nicht akzep­tieren und fühlen sich von der Politik ohnehin verlassen und verraten. Täglich erleben sie die Kluft zwischen Arm und Reich, die keines­wegs nur materiell definiert ist. Dass ihre Söhne als Soldaten nach Vietnam geschickt werden, während viele Spröss­linge der weißen Upper­class aus den besseren Wohn­vierteln Mittel und Wege finden, sich dem Militär­dienst zu entziehen, und als College-Studenten oder Hippies ein freies Leben propa­gieren, heizt die explosive Stimmung weiter auf. Eine Kund­gebung an der City Hall eskaliert, Stroh­puppen mit Abbildern von Richtern und Volks­vertre­tern werden abge­fackelt, und als Senator Edward Kennedy auftritt, um den »busing«-Beschluss zu unter­stützen, spucken ihn die aufge­brach­ten Bostoner Iren an.

Dennis Lehane, 1965 in Dorchester, dem südlich an South Boston und östlich an Roxbury gren­zenden Stadtteil geboren, hat die histori­schen Tumulte als neun­jähri­ger Junge selbst miterlebt und kann sie als Kulisse für die fiktio­nale Handlung seines Thrillers ebenso authen­tisch schildern wie das Milieu der weißen Arbeiter­klasse mit Charak­teren, die materiell und kulturell in die tiefsten Niede­rungen der Gesell­schaft abge­sunken sind, ohne sich jedoch passiv damit abfinden zu wollen. Aber es gibt nur wenige Licht­blicke (»Small Mercies«, wie der Original­titel lautet; die Über­setzung hat Malte Krutzsch erstellt).

In einem der öffentlichen Wohn­projekte von South Boston, einem »Drecks­loch«, haust Mary Pat Fennessy, die Protago­nistin. Sie ist erst 42 und er­schrickt selbst, wenn sie ihr Spiegel­bild erblickt: »dieser ver­schwitz­te Trampel in Tanktops und Shorts, mit verfilz­tem Haar und schlaffem Kinn.« Trotz zweier Jobs (in einem Altenheim und einer Schuh­fabrik) kommt sie kaum über die Runden. Das Schicksal hat ihr böse mitge­spielt. Ken, ihr erster Ehemann, starb in jungen Jahren, ihr Sohn kehrte trauma­tisiert aus Vietnam zurück und starb an einer Überdosis Drogen, ihre zweite Ehe schei­terte. Außer liebe­vollen Erinne­rungen an Ken ist ihr ihre Tochter Jules geblieben, aber die Sieb­zehn­jäh­rige treibt sich mit zwie­lichti­gen, »schwach­köpfigen« Freunden herum, und Marys Ermah­nun­gen und War­nungen verhallen unbe­achtet.

Eines Nachts kommt Jules nicht nach Hause. Besteht ein Zu­sammen­hang damit, dass man in der selben Nacht auf den U-Bahn-Gleisen die Leiche eines gut geklei­deten jungen Schwarzen findet? Es ist Augustus William­son, der Sohn von Calliope, Mary Pats Arbeits­kolle­gin im Alten­heim, mit der sie sich gut versteht.

Immer schon hat Mary Pat auf den Zusammen­halt der Bewohner von South Boston gesetzt, sich dagegen nichts erwartet von Behörden, Politi­kern und der Polizei. Für den Schutz der Gemeinde verlässt man sich eher auf Marty Butler und seine Gangster-Crew. Wo jetzt die »Schul­bus­kacke« und der tote Schwarze alle in Aufruhr versetzen, gerät manches ins Wanken. Zum Beispiel hat niemand Interesse daran, dass die Cops im Zuge ihrer Recher­chen Einblick bekommen, was im Viertel abgeht. Für die einen wäre das schlecht fürs Geschäft, andere trauen den Ord­nungs­hütern (von denen manche auf der Gehalts­liste mafiöser Struk­turen stehen) grund­sätz­lich nicht über den Weg. Mary Pat beginnt die Suche nach ihrer Tochter lieber bei den Nachbarn.

Obwohl sie hier auf eine merk­würdige Mauer des Schwei­gens stößt, treibt ein Fünkchen Hoffnung, dass Jules noch am Leben sein könnte, sie weiter. Mit ihren eigen­ständi­gen, kühnen Allein­gängen kennt die Span­nungs­kurve des Romans nur noch eine Richtung: nach oben, und Mary Pat ent­wickelt sich zur mutigen Löwin. Ihr Hass auf dieje­nigen, die ihr alles genommen haben, was ihr arm­seliges Leben lebens­wert gemacht hat, entlädt sich in einer Gewalt­spirale unge­ahnten Ausmaßes.

Dennis Lehanes Protago­nistin ist eine ambi­valente Heldin. Sie reflek­tiert ihre Herkunft und ihre Erziehung als einen Werdegang, in dem sie seit Kinder­tagen nur Gewalt, Prügel und Hass kennen­gelernt hat. Rassismus ist ihr in die Wiege gelegt worden, und sie konnte nicht anders als den Samen des Bösen an ihre Kinder weiterzu­geben. Wie sie jetzt bei den Protest­aktio­nen hautnah und voller Entsetzen beob­achten kann, ist all dies ein gemein­sames Merkmal ihres Milieus. Dabei wird ihr bewusst, dass die beiden Bevöl­kerungs­gruppen (Schwarz und Weiß) eigent­lich mehr eint als trennt, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollen. Doch hält diese Selbst­reflexion Mary Pat nicht mehr zurück. Sie muss ihren Weg zu Ende gehen – mit verhee­renden Folgen.

Wohl auch vor dem Hinter­grund seiner eigenen Biografie sind Dennis Lehanes Beobach­tungen und Beschrei­bungen extrem lebensnah und glaub­würdig. Vom Leben auf der Straße bekommt man einen Eindruck, der an den in einem irischen Pub erinnert. Jeder kennt jeden, alle haben Spitz­namen, man grüßt und tauscht sich aus, hilft einander, nimmt Anteil. Doch die meisten Jugend­lichen haben die High­school geschmis­sen, hängen rum, trinken Alkohol, nehmen Drogen. Wer als Außen­stehen­der die Grenze nach »Southie« überquert, so lässt Lehane eine seiner Figuren sagen, bekommt »das Gefühl, in den Regenwald eines unbe­kann­ten Stammes vorzu­dringen. Nicht besonders feind­selig, nicht von Natur aus gefähr­lich. Aber im Kern undurch­sichtig«. Die Dialoge sind schnell, direkt und unver­blümt. »Arschloch« »Scheiß«, »Leckmich-Blick« und der­gleichen gehört zum harmlosen Wort­schatz, während erheblich ab­stoßen­dere For­mulie­rungen und rassis­tische Beleidi­gungen nicht zitiert zu werden brauchen.

Wer sich einen Thriller mit dem Hinter­grund massiver sozialer Konflikte aussucht, wird wissen, mit was für rohen Worten und Taten darin zu rechnen ist. Auch in »Sekunden der Gnade« wird natürlich ganz unempathisch ge- und verflucht, geprügelt und gemetzelt. Das bereitet Verlag und Über­setzer Sorgen. Noch ehe Lehanes Text beginnt, meinen sie uns warnen und ihre Hände in Unschuld waschen zu müssen: »Im Roman werden das einer sen­siblen Sprache nicht ange­mes­sene englische n-Wort und andere Begriffe verwendet, die in der deutschen Über­setzung weder ersetzt noch abge­schwächt werden können, ohne den Gegen­stand des Romans ad absur­dum zu führen. Weder der Autor noch der Verlag oder der Über­setzer heißen die Verwen­dung solcher Aus­drucks­weisen gut.« Da die beiden Sätze nichts aussagen, was man sich nicht selbst gedacht haben wird, sind sie so trivial wie über­flüssig. Einzige Funktion des billigen Vorspanns ist, even­tueller Kritik an »nicht ange­messe­ner« Sprache zuvor­zukom­men – also ein voraus­eilendes Zuge­ständ­nis an den Zeit­geist der political correct­ness. So etwas hat ein Verlag wie Diogenes nicht nötig.

Mit »Sekunden der Gnade« fügt Dennis Lehane seinen sieben erfolg­reichen Romanen ein breit ausge­stalte­tes, düsteres Sitten­gemälde hinzu. Wie »Mystic River« und »Shutter Island« soll auch »Small Mercies« verfilmt werden.


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