Sekunden der Gnade
von Dennis Lehane
Im Sommer 1974 brodeln die südlichen Bostoner Vororte unter rassistischen Unruhen und gut gemeinten politischen Experimenten. Im Chaos wird ein junger Schwarzer erschlagen aufgefunden, und eine junge Frau verschwindet. Ihre Mutter muss allein und hart kämpfen, um sie aufzuspüren.
Mary Pat nimmt Rache
Präsident John F. Kennedy hat 1961 ein Konzept umgesetzt, das chronisch benachteiligten Minderheiten bessere Chancen verschaffen sollte, sich in der Gesellschaft zu integrieren und zu behaupten. »Affirmative Action« führte konkrete Maßnahmen ein, die diese Gruppen bewusst bevorzugen (etwa durch Quotenregelungen beim Zugang zu Bildungsinstitutionen) oder Defizite kompensieren sollten (indem man beispielsweise Schüler aus sozialen Brennpunkten in ›besseren‹ Wohngebieten beschulte und umgekehrt). Es handelt sich also um »positive Diskriminierung«. Obwohl heftig umstritten, wird die Praxis bis heute geübt.
»Sekunden der Gnade«, der jüngste Roman des US-amerikanischen Krimi- und Thrillerautors Dennis Lehane, taucht seine Leser ein in ein Milieu, das von »Affirmative Action« betroffen ist. Zum Schulbeginn im Sommer 1974 soll in Boston endlich die Rassentrennung in den Highschools überwunden werden. So hat die South Boston High School mehrheitlich weiße, die Roxbury High School überwiegend afroamerikanische Schülerinnen und Schüler. In einem Verfahren, das schon drei Jahre anhängig ist, ordnet der Bezirksrichter an, dass große Teile der Schülerschaft per Schulbustransport (»busing«) ausgetauscht werden müssen, um Chancengleichheit zu schaffen.
In South Boston, einem der ärmsten Viertel der Großstadt, laufen die hauptsächlich irisch-stämmigen weißen Einwohner Sturm gegen die Maßnahme. Denn die Roxbury-Schule ist berüchtigt für ihr verfallenes Gebäude, ihre schlechte Ausstattung, unterdurchschnittliche Leistungen und eine Umgebung mit hoher Kriminalitätsrate. Protestdemonstrationen werden vorbereitet, und die Eltern sind sich einig, dass ihre Kinder dem Unterricht am ersten Schultag fernbleiben werden.
Die betroffenen Bürgerinnen und Bürger können die angeordneten Zumutungen für ihre Kinder nicht akzeptieren und fühlen sich von der Politik ohnehin verlassen und verraten. Täglich erleben sie die Kluft zwischen Arm und Reich, die keineswegs nur materiell definiert ist. Dass ihre Söhne als Soldaten nach Vietnam geschickt werden, während viele Sprösslinge der weißen Upperclass aus den besseren Wohnvierteln Mittel und Wege finden, sich dem Militärdienst zu entziehen, und als College-Studenten oder Hippies ein freies Leben propagieren, heizt die explosive Stimmung weiter auf. Eine Kundgebung an der City Hall eskaliert, Strohpuppen mit Abbildern von Richtern und Volksvertretern werden abgefackelt, und als Senator Edward Kennedy auftritt, um den »busing«-Beschluss zu unterstützen, spucken ihn die aufgebrachten Bostoner Iren an.
Dennis Lehane, 1965 in Dorchester, dem südlich an South Boston und östlich an Roxbury grenzenden Stadtteil geboren, hat die historischen Tumulte als neunjähriger Junge selbst miterlebt und kann sie als Kulisse für die fiktionale Handlung seines Thrillers ebenso authentisch schildern wie das Milieu der weißen Arbeiterklasse mit Charakteren, die materiell und kulturell in die tiefsten Niederungen der Gesellschaft abgesunken sind, ohne sich jedoch passiv damit abfinden zu wollen. Aber es gibt nur wenige Lichtblicke (»Small Mercies«, wie der Originaltitel lautet; die Übersetzung hat Malte Krutzsch erstellt).
In einem der öffentlichen Wohnprojekte von South Boston, einem »Drecksloch«, haust Mary Pat Fennessy, die Protagonistin. Sie ist erst 42 und erschrickt selbst, wenn sie ihr Spiegelbild erblickt: »dieser verschwitzte Trampel in Tanktops und Shorts, mit verfilztem Haar und schlaffem Kinn.« Trotz zweier Jobs (in einem Altenheim und einer Schuhfabrik) kommt sie kaum über die Runden. Das Schicksal hat ihr böse mitgespielt. Ken, ihr erster Ehemann, starb in jungen Jahren, ihr Sohn kehrte traumatisiert aus Vietnam zurück und starb an einer Überdosis Drogen, ihre zweite Ehe scheiterte. Außer liebevollen Erinnerungen an Ken ist ihr ihre Tochter Jules geblieben, aber die Siebzehnjährige treibt sich mit zwielichtigen, »schwachköpfigen« Freunden herum, und Marys Ermahnungen und Warnungen verhallen unbeachtet.
Eines Nachts kommt Jules nicht nach Hause. Besteht ein Zusammenhang damit, dass man in der selben Nacht auf den U-Bahn-Gleisen die Leiche eines gut gekleideten jungen Schwarzen findet? Es ist Augustus Williamson, der Sohn von Calliope, Mary Pats Arbeitskollegin im Altenheim, mit der sie sich gut versteht.
Immer schon hat Mary Pat auf den Zusammenhalt der Bewohner von South Boston gesetzt, sich dagegen nichts erwartet von Behörden, Politikern und der Polizei. Für den Schutz der Gemeinde verlässt man sich eher auf Marty Butler und seine Gangster-Crew. Wo jetzt die »Schulbuskacke« und der tote Schwarze alle in Aufruhr versetzen, gerät manches ins Wanken. Zum Beispiel hat niemand Interesse daran, dass die Cops im Zuge ihrer Recherchen Einblick bekommen, was im Viertel abgeht. Für die einen wäre das schlecht fürs Geschäft, andere trauen den Ordnungshütern (von denen manche auf der Gehaltsliste mafiöser Strukturen stehen) grundsätzlich nicht über den Weg. Mary Pat beginnt die Suche nach ihrer Tochter lieber bei den Nachbarn.
Obwohl sie hier auf eine merkwürdige Mauer des Schweigens stößt, treibt ein Fünkchen Hoffnung, dass Jules noch am Leben sein könnte, sie weiter. Mit ihren eigenständigen, kühnen Alleingängen kennt die Spannungskurve des Romans nur noch eine Richtung: nach oben, und Mary Pat entwickelt sich zur mutigen Löwin. Ihr Hass auf diejenigen, die ihr alles genommen haben, was ihr armseliges Leben lebenswert gemacht hat, entlädt sich in einer Gewaltspirale ungeahnten Ausmaßes.
Dennis Lehanes Protagonistin ist eine ambivalente Heldin. Sie reflektiert ihre Herkunft und ihre Erziehung als einen Werdegang, in dem sie seit Kindertagen nur Gewalt, Prügel und Hass kennengelernt hat. Rassismus ist ihr in die Wiege gelegt worden, und sie konnte nicht anders als den Samen des Bösen an ihre Kinder weiterzugeben. Wie sie jetzt bei den Protestaktionen hautnah und voller Entsetzen beobachten kann, ist all dies ein gemeinsames Merkmal ihres Milieus. Dabei wird ihr bewusst, dass die beiden Bevölkerungsgruppen (Schwarz und Weiß) eigentlich mehr eint als trennt, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollen. Doch hält diese Selbstreflexion Mary Pat nicht mehr zurück. Sie muss ihren Weg zu Ende gehen – mit verheerenden Folgen.
Wohl auch vor dem Hintergrund seiner eigenen Biografie sind Dennis Lehanes Beobachtungen und Beschreibungen extrem lebensnah und glaubwürdig. Vom Leben auf der Straße bekommt man einen Eindruck, der an den in einem irischen Pub erinnert. Jeder kennt jeden, alle haben Spitznamen, man grüßt und tauscht sich aus, hilft einander, nimmt Anteil. Doch die meisten Jugendlichen haben die Highschool geschmissen, hängen rum, trinken Alkohol, nehmen Drogen. Wer als Außenstehender die Grenze nach »Southie« überquert, so lässt Lehane eine seiner Figuren sagen, bekommt »das Gefühl, in den Regenwald eines unbekannten Stammes vorzudringen. Nicht besonders feindselig, nicht von Natur aus gefährlich. Aber im Kern undurchsichtig«. Die Dialoge sind schnell, direkt und unverblümt. »Arschloch« »Scheiß«, »Leckmich-Blick« und dergleichen gehört zum harmlosen Wortschatz, während erheblich abstoßendere Formulierungen und rassistische Beleidigungen nicht zitiert zu werden brauchen.
Wer sich einen Thriller mit dem Hintergrund massiver sozialer Konflikte aussucht, wird wissen, mit was für rohen Worten und Taten darin zu rechnen ist. Auch in »Sekunden der Gnade« wird natürlich ganz unempathisch ge- und verflucht, geprügelt und gemetzelt. Das bereitet Verlag und Übersetzer Sorgen. Noch ehe Lehanes Text beginnt, meinen sie uns warnen und ihre Hände in Unschuld waschen zu müssen: »Im Roman werden das einer sensiblen Sprache nicht angemessene englische n-Wort und andere Begriffe verwendet, die in der deutschen Übersetzung weder ersetzt noch abgeschwächt werden können, ohne den Gegenstand des Romans ad absurdum zu führen. Weder der Autor noch der Verlag oder der Übersetzer heißen die Verwendung solcher Ausdrucksweisen gut.« Da die beiden Sätze nichts aussagen, was man sich nicht selbst gedacht haben wird, sind sie so trivial wie überflüssig. Einzige Funktion des billigen Vorspanns ist, eventueller Kritik an »nicht angemessener« Sprache zuvorzukommen – also ein vorauseilendes Zugeständnis an den Zeitgeist der political correctness. So etwas hat ein Verlag wie Diogenes nicht nötig.
Mit »Sekunden der Gnade« fügt Dennis Lehane seinen sieben erfolgreichen Romanen ein breit ausgestaltetes, düsteres Sittengemälde hinzu. Wie »Mystic River« und »Shutter Island« soll auch »Small Mercies« verfilmt werden.