Der gute Mensch von Tampa
Sonntags geht Joe Coughlin mit seinem neunjährigen Sohn Tomas zum Gottesdienst. Der Junge soll ein ehrlicher, gottesfürchtiger Mensch werden. Für sein irdisches Wohlergehen ist gesorgt. Er wird von der überaus einträglichen Karriere profitieren, die sein Vater hinter sich hat. Nach dem Tod seiner Frau Graciela, einer Kubanerin, hat er sich aus dem Geschäft zurückgezogen, um sich der Erziehung seines Kindes zu widmen, ein ehrbares Leben zu führen und Buße zu tun. Denn sein Gewerbe ist anrüchig gewesen, und er möchte nicht in die Hölle kommen, von der Pater Ruttle predigt: »Alleinsein ist die schlimmste aller Bestrafungen der Hölle.«
So tut Joe Coughlin nur noch Gutes. Zwischen Boston und Havanna hat er ungezählte öffentliche Projekte zum Nutzen der Bürger unterstützt und großzügig gespendet, damit der Staat die immensen Kosten des Krieges gegen die Nazis und die Japaner stemmen kann. Gerade erst, im Dezember 1942, hat er eine weitere Wohltätigkeitsveranstaltung organisiert, ein rauschendes Fest, bei dem die Hautevolee von Tampa ganz ungezwungen mit den Größen der Unterwelt plauderte, als sei man sich nie zuvor begegnet. Der Erlös des Abends: wieder einmal eine astronomische Summe.
Joe Coughlins Selbstbild vom »guten Menschen« hat einen Haken: Es stellt das Gegenteil der Wahrheit zur Schau. Hinter der Fassade von Anstand, Bescheidenheit, Verantwortungsbewusstsein und Nächstenliebe agiert ein eitler, arroganter Großkrimineller. Joe Coughlin ist ein Boss des organisierten Verbrechens, und zwar einer von den ganz großen, und ein eiskalter Mörder obendrein. Er begann seine Laufbahn als Handlanger des Syndikats in Boston und eroberte während der Prohibition die Schmuggelpfade von Kuba in den Süden der USA. Besonders verehrt und respektiert man ihn in seinen Kreisen, seit er seinen Freunden in den Dreißigern einen vorausschauenden Tipp gab, der erst müde belächelt wurde, nach Amerikas Kriegseintritt aber plötzlich Gold wert war: Auch Industriealkohol ist ein lohnendes Investment. Destillerien, eine Phosphatmine, Zucker – ein Geschäftszweig kam zum anderen, so dass Joe Coughlin jetzt in seinen sauberen Händen alle Fäden eines schmutzigen Geschäftsimperiums beisammenhält. In einem schönen Joint Venture mit seinem Freund Meyer Lansky in Havanna kontrolliert er lückenlos die Rauschgift-Route von Südamerika bis hinauf nach Maine.
Alle schätzen den seriösen Geschäftsmann, der als »consigliere« den Mittelsmann für das gesamte Verbrechersyndikat Floridas spielt. In Tampa ist er »die Brücke zwischen dem, was an die Öffentlichkeit kam, und der Art, wie es unter vier Augen erreicht wurde«. Auf sein diplomatisches Geschick ist er besonders stolz, und ohnehin ist er überzeugt, »noch nie einem Menschen begegnet zu sein, der so klug war wie er selbst«. Und sollte es einmal eng werden, könnte er ohne Weiteres auf so mächtige Freunde wie El Presidente, den kubanischen Diktator Fulgencio Batista zählen.
Doch woher sollte schon Gefahr drohen? Zwar nimmt der amerikanische Geheimdienst Joe seine Legende, sich »zurückgezogen« zu haben, nicht ab. Aber man rückt ihm auch nicht ernstlich auf die Pelle. Mit der kleinen Akte nachweisbarer Verbrechen könnte man Joe allenfalls ein wenig schikanieren. Selbst darauf würde man gegebenenfalls verzichten, wenn er mit Uncle Sam kooperieren und ihm beispielsweise verraten würde, was er über japanische und Nazi-Saboteure im Hafenviertel weiß. Dafür wären ihm sogar Dank und Anerkennung der ganzen Nation sicher. Aber Joe braucht das nicht.
Ein gelungenes Leben, ein Mann im Einklang mit sich selbst und im Glanze allgemeiner Bewunderung. Da kommt ihm das Gerücht zu Ohren, dass ein Auftragsmörder auf ihn angesetzt sei. Wenngleich kein Sinn dahinter zu erkennen ist, warum irgend jemand einen Wohltäter wie ihn beseitigen wollte (»Wer schlachtet schon eine goldene Gans?«), raubt die Ungewissheit Joe den Schlaf. Visionen aus der Vergangenheit verfolgen ihn, und der kleine Junge darin – »Knickerbocker, Golfmütze« – ist er selbst.
Auch Joe Coughlin kann sich nicht länger seinen Illusionen hingeben. Die Realität ist: In der »ehrenwerten Gesellschaft« gibt es keinen Sittenkodex, keine Prinzipien. Selbst wenn einer den Eindruck erweckt, er handle zum »Wohl der Familie«, so steht doch immer nur sein Eigeninteresse – die Mehrung von Macht und Vermögen – an vorderster Stelle. Was so einer abgibt, um die Freunde bei Laune zu halten, sind bloß Brosamen, die vom Tisch des Herrn hinunter kullern. Deshalb kann niemand auf Verschonung zählen, jeder kann jederzeit und aus einem beliebigen Grund kaltgestellt werden. Joe hat das selbst oft genug praktiziert.
Joe Coughlins Suche nach dem Auftraggeber seines eigenen Mörders ist der zentrale Plot dieses großartigen Kriminalromans bester amerikanischer Schule. Warum will man ihn beseitigen? Stören sich Mafiosi an seiner irischen Herkunft? Giert jemand nach seinem Imperium? Will jemand seinen Platz einnehmen? Joe wird jeden in Frage kommenden Löwen in seiner Höhle stellen müssen, und dafür bleiben ihm nur wenige Tage. Denn am Aschermittwoch ist alles vorbei: Dann wird der Killer zuschlagen ...
Der Schlimmste von allen ist Lucius Brozjuola. 1923 tauchte er von irgendwoher im östlichen Europa auf, baute sich mit skrupellosen Helfern (»Dieben, Hehlern, Brandstiftern und Auftragsmördern«) ein eigenes Reich zusammen, wilderte hemmungslos in den Revieren der Familienclans. Umso aristokratischer gab er sich persönlich, pflegte sein äußeres Erscheinungsbild, krönte sich zum »King Lucius«. Inzwischen muss er vollständig durchgeknallt sein. Er lebt auf einem Hausboot, wo ihn eine zwanzigköpfige Palastwache schützt. Man erzählt sich, er töte »einfach so, aus Spaß« und lasse Menschen bei lebendigem Leib den Haien zum Fraß vorwerfen. Was die Fische übrig lassen, vertilgten seine Wächter ...
Dem Autor muss der Schalk im Nacken gesessen haben, als er diese »Es war einmal«-Parallelwelt des organisierten Verbrechens erschuf. Wir lernen einen Zirkel ganz besonderer Charakterköpfe kennen, die ihren ›Beruf‹ lieben und »für alle Zeiten ihren Seelenfrieden opfern, um Männer wie wir zu sein«. Keiner von ihnen ist hohl, alle artikulieren sich so, dass man sie ernst nehmen kann. Joes wichtigster Gesprächspartner ist freilich sein kluger, frühreifer Sohn Tomas, sein Ein und Alles und sein Korrektiv.
Auch in der zweiten Reihe sind die Charaktere bemerkenswert, wie etwa Theresa del Frisco, die, weil im Knast, das kleine Vermögen nicht eintreiben kann, das ihr einer der großen Fische für eine Gefälligkeit schuldet, und deshalb auf raffinierte Weise einen Mittelsmann einspannt, oder der legendäre Mediziner Dr. Ned Lenox, der nur in einer Episode auftritt, obwohl seine Vita genug Material für einen eigenständigen Krimi böte: dubioser Kunstfehler in St. Louis – Entzug der Arztlizenz – Neubeginn in Tampa als Veterinär – Aufstieg zum Vertrauensarzt aller »Freunde der Unterwelt« ...
Indem wir den guten Joe Coughlin von einem üblen Ganoven zum nächsten begleiten – eine Spur blutiger Gemetzel hinterlassend – und seine verbleibenden Tage abhaken, werden wir süchtig nach dieser Lektüre mit trocken-schmucklosem Erzählton und pointierten Dialogen: eine dichte Folge denkwürdiger Impressionen, ohne jeden Leerlauf in der Spannung, ohne jede Lücke im logischen Gefüge.
Immer wieder prickelt es reizvoll, wenn Dennis Lehane mit seinen Leitmotiven spielt – »die alten Zeiten«, Sein und Schein, Söhne, die ohne Väter aufwachsen, die Hölle des Alleinseins. Wie Joe möchte auch Theresa ihren kleinen Sohn versorgt wissen und geht dafür krumme Wege; auch Doc Lenox suchen die Geister der Vergangenheit heim; und der geniale Schluss führt all diese Motive zusammen.
Der Vorgängerroman »Live by Night« (2012, »In der Nacht« , übersetzt von Sky Nonhoff) wurde mit dem Edgar Allan Poe Award 2013 ausgezeichnet. Er erzählt die frühen Jahre des Joe Coughlin, damals noch »der Blonde mit den blauen Augen«. In »World Gone By« (2014, übersetzt von Steffen Jacobs) ist er jetzt »eher der Graue« und doch erst 37 Jahre alt. Sein Schöpfer Dennis Lehane, 1965 in Boston geboren, ist nach Bestsellern wie »Mystic River« (2001, übersetzt von Sky Nonhoff ) und »Shutter Island« (2009, soeben von Steffen Jacobs neu übersetzt ) schon lange kein Geheimtipp mehr, aber immer noch ein Autor, der zuverlässig Bestleistung bietet.