
Alles was ich dir geben will
von Dolores Redondo
Der Spross eines nordspanischen Uradelsgeschlechts kommt ums Leben. Als Homosexueller galt er freilich als aus der Art geschlagen. Sein Ehemann geht der Sache in der Region Galicien nach und stößt auf eine Vielzahl von Merkwürdigkeiten – in der feinen Familie und in der Historie. Eine spannende, wenn auch überladene Geschichte.
Ein schweres Erbe
Die spanische Schriftstellerin Dolores Redondo Meira (geboren 1969 in Donostia-San Sebastián) eroberte 2013/2014 mit ihrer Baztán-Krimireihe die spanischen Bestsellerlisten. 2016 gewann ihr Krimi »Todo esto te daré« , den sie unter dem Pseudonym Jim Hawkins und dem falschen Titel »Die Sonne von Theben« als Manuskript zum Wettbewerb eingereicht hatte, den Premio Planeta de Novela für unveröffentlichte Romane. Jetzt ist das Buch in der Übersetzung von Lisa Grüneisen auf Deutsch erschienen.
Im Mittelpunkt der breit angelegten Handlung steht Manuel Ortigosa, 52, Autor mehrerer Bestseller. Bei der Vorstellung seines neuesten lernte er den erfolgreichen Werbefachmann Álvaro Muñiz de Dávila kennen, die beiden verliebten sich und heirateten bald darauf.
Drei Jahre ist das her. Doch zurzeit geht dem Autor das Schreiben nicht so leicht von der Hand. Seine Selbstzweifel rühren ans Grundsätzliche: Warum und wofür schreibt ein Schriftsteller? Er sieht sich verpflichtet, seinen Lesern zu liefern, was sie sich von ihm erhoffen, doch Álvaro hat Bedenken wegen des neuen Romankonzepts. Die Geschichte, um die Manuel so schwer ringt, trägt den Titel »Die Sonne von Theben«, was Ortigosa-Hawkins-Redondo irgendwie zu einem Dreigestirn der Seelenverwandtschaft zu verbinden scheint. Aber das gehört zu den eher nebensächlichen Schnörkeln dieses Buches.
Der Krimiplot setzt ein, als zwei Polizisten Manuel aus seinen literarischen Grübeleien reißen und ihm mitteilen, dass Álvaro bei einem Autounfall in der Provinz Lugo getötet worden sei. Manuel hört die Botschaft, doch ihm fehlt der Glaube. Schließlich war Álvaro in Richtung Barcelona aufgebrochen, um dort ein Projekt vorzustellen. Um sich vor Ort selbst zu vergewissern, was geschehen sein mag, macht sich Manuel sofort auf die Fünfhundert-Kilometer-Reise nach Galicien. Dort erwarten ihn bittere Wahrheiten. Sein Lebenspartner war ihm in Wirklichkeit unbekannt geblieben, denn er hatte ein Doppelleben geführt.
Álvaro entstammt einem der ältesten galicischen Adelsgeschlechter. Die Familie besitzt umfangreiche Ländereien und Weingüter in der Bergregion der Ribeira Sacra. Nach dem Tod seines Vaters drei Jahre zuvor fiel Álvaro der Titel »Graf von Santo Tomé« zu, er übernahm den überschuldeten Familienbesitz und konnte unter Einsatz seines Privatvermögens dessen Totalbankrott und weiteren Verfall verhindern. Für Manuel erweist sich die feine Sippe als Wespennest, in dem der verpönte homosexuelle Eindringling mit Missachtung gestraft wird. Doch bei der Testamentseröffnung müssen die Gräfin, ihr Sohn Santiago, ihre Schwiegertöchter und ein dreijähriger Enkel Unerhörtes hinnehmen: Don Álvaro hat ihnen in seinem letzten Willen großzügige Zuwendungen zum Lebensunterhalt zuerkannt, doch seinen »geliebten Ehemann Manuel Ortigosa« zum Alleinerben bestimmt.
Nicht nur die vornehmen Angehörigen sind geschockt angesichts der empörenden Verfügung, die ihr zukünftiges Wohlergehen von einem Fremden mit anrüchigem Sexualverhalten abhängig macht. Auch Manuel ist geneigt, auf alle Ansprüche zu verzichten und die Besitztümer den arroganten Adligen zu überlassen. Doch Álvaro hat diesen Schritt frühestens nach drei Monaten gestattet. Die erzwungene Wartezeit nutzt Manuel, um über all die ungewöhnlichen Ereignisse nachzudenken und den Grundbesitz, insbesondere die schwer zugänglichen Weingüter an den Steilhängen der Ribeira Sacra kennenzulernen.
Unterdessen wünscht die Familie de Dávila keine weitere polizeiliche Ermittlung. Ihr guter Name soll nicht in den Schmutz gezogen werden. Die Strategie hat Tradition, denn in der Vergangenheit ist auf diese Weise schon mancher Skandal vertuscht worden. Dagegen steht Manuel mit seinen Zweifeln an Álvaros Todesursache nicht allein. Der pensionierte Polizist Nogueira, dem das feudale Machtgehabe der spanischen Adelsdynastien seit jeher ein Dorn im Auge ist, bestärkt ihn in seiner Skepsis und der Suche nach der Wahrheit. Die Pathologin Ofelia lässt dem ehemaligen Kollegen freundlicherweise wertvolle Erkenntnisse zukommen.
Als weiterer wichtiger Informant erweist sich der Priester Lucas. Der hatte als Stipendiat das katholische Internat und Priesterseminar besucht, auf das auch alle Söhne der reichen Oberschicht der Gegend geschickt wurden. Lucas war freilich der Einzige, der schließlich zum Geistlichen geweiht wurde. Als Álvaros engster Vertrauter wusste er nicht nur von dessen Beziehung zu Manuel und deren heftiger Ablehnung in der Familie, sondern kennt auch viele andere Interna, etwa aus der Franco-Zeit. Fest an der Seite des Diktators stehend, entwickelten die de Dávila damals eine besondere Geschäftstüchtigkeit und häuften gewaltige Reichtümer an. Der damalige Graf, so munkelt man, habe auf großem Fuß gelebt, eine Geliebte unterhalten und einen Großteil des Vermögens verprasst. Für seine drei Söhne war er unnahbar, und auch seine Ehefrau, die Gräfin, war ihren Kindern leider nie eine gute Mutter. Jeder litt auf seine Weise.
Entlang dieses roten Fadens hat Dolores Redondo einen umfangreichen, gut lesbaren Sommerschmöker verfasst, der jedoch unnötig komplex und überfrachtet geriet. Den eigentlichen Hauptstrang, wie drei unterschiedliche Ermittler Álvaros Leben und Tod aufklären, serviert die Autorin in Häppchen und bindet damit den auf Fortsetzung und Spannung fokussierten Leser. Der hätte allerdings auf einige Seitenstränge gewiss gern verzichtet, wie etwa auf das angespannte, unerfüllte Eheleben des Pensionärs Nogueira.
Doch Dolores Redondo hat noch eine ganze Menge mehr auf dem Herzen und bindet es in ihren überbordenden Roman ein: an erster Stelle ihre Liebe zum wilden, ursprünglichen Galicien. Das macht sie gut und überzeugend. Wir erlesen uns eine spektakuläre Landschaft, ein grünes Paradies voller Anmut und Ruhe, den meisten sicherlich unbekannt, weil entlegen, dünn besiedelt und unwegsam. Enge Sträßchen schlängeln sich durch üppige Vegetation über steile Berge und bieten überwältigende Panoramablicke auf die tief eingeschnittenen Täler von Miño und Sil und auf stille Stauseen, in denen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren etliche Dörfer versinken mussten. Wie mühselig die Arbeit der Bauern auf den Terrassen ihrer Weinberge ist, die sie teilweise nur per Boot erreichen können, beschreibt die Autorin anschaulich, detailreich und sachkundig.
Redondos zweites Anliegen gilt der Darstellung der traditionellen gesellschaftlichen Lebensformen der Region, die sie in vielen Episoden in den Haupterzählstrang einflicht. Den Ton geben die einflussreichen Adelsgeschlechter an, die sich gern als gnädige Arbeitgeber präsentieren, deren Macht aber durch ihren Grundbesitz und die Unterstützung der katholischen Lehre seit jeher unanfechtbar ist. Wohl auch wegen dieser Konstanz können wir in Galicien immer noch ursprüngliches bäuerliches Leben und mystisch anmutende, viele Jahrhunderte alte Klöster und versteckte Kirchlein bewundern. Leider sieht sich die Autorin bemüßigt, die fiktionale de-Dávila-Sippe zum Inbegriff aller üblen Charakteristika ihrer Klasse zu stilisieren, was sie und ihr Familienleben über die Grenzen der Glaubwürdigkeit hinaus vermonstert. In dieser Hinsicht frustriert leider auch die Auflösung des Kriminalfalls.
Das dritte Thema dieses Buches ist der gesellschaftliche Umgang mit der Sexualität. Über Jahrhunderte tabuisiert, kommt seit einigen Jahren ans Licht, welche Untaten hinter hohen katholischen Klostermauern und unter dem Deckmantel kirchlicher Autorität an der Tagesordnung waren. Die Autorin arbeitet einfühlsam und drastisch zugleich heraus, welch traumatische Folgen dies auch für die Brüder de Dávila hatte. Darüber hinaus veranschaulicht sie, wie schwer und leidvoll es bis vor wenigen Jahren war, sexuelle Andersartigkeit unter repressiven Bedingungen auszuleben.
Anliegen und Kritik der Autorin sind legitim und berechtigt. Doch überwuchert ihre Masse den Kriminalfall, und der Kriminalroman gerät zu einer schwer überladenen Familiensaga voller Probleme, die den Leser in Gestalt vieler gewichtiger Episoden, unzähliger Personen und vielfältiger Schicksale (Liebe, Eifersucht, Erpressung, Diebstahl, Missbrauch, Mord …) überrollen wie die stürmische Meeresbrandung die Buchten der zerklüfteten Küste Galiciens.