Der Postbote von Girifalco oder Eine kurze Geschichte über den Zufall
von Domenico Dara
Der Briefzusteller eines kalabrischen Dorfes in den späten Sechzigerjahren tut aus Menschenfreundlichkeit und philosophischem Interesse weit mehr als seine bescheidene Arbeit und lenkt die Schicksale seiner Mitbürger in bessere Bahnen.
Bote und Helfer des Schicksals
Wo die ›Stiefelspitze‹ Italiens am engsten und der Weg zu beiden Meeren gleich weit ist, liegt das kalabrische Bergdorf Girifalco. Abgeschieden vom Weltgeschehen – anderswo bringt man gerade die ersten Menschen auf den Mond! – ruht es vergleichsweise friedlich in sich. Die Bewohner sind damit ausgelastet, sich selbst unter Kontrolle zu halten, ohne die Harmonie untereinander zu gefährden, doch nicht jeder kann oder will das wirklich. So gibt es auch hier wie überall dunkle Seiten. Allerdings fehlt hier noch der Ansturm übler Einflüsse von außerhalb. Mangels technischer Infrastruktur erfolgt der Informationsaustausch zwischen Girifalco und der Außenwelt (wohin nicht wenige der Einwohner zeitweise oder dauerhaft ausgewandert sind) über das Briefeschreiben, und dabei verrichtet der Briefträger seine Arbeit an maßgeblicher Stelle.
In diesem überschaubaren Mikrokosmos kennt jeder jeden wie seine Westentasche, doch der Postbote kennt sogar die Seele eines jeden, all ihre Erwartungen, Schwächen, Geheimnisse, Erinnerungen, Hoffnungen, Sehnsüchte und Triebe sowie alle Freuden, Enttäuschungen, Überraschungen und Versprechungen, die er ihnen aus seinem Postsack an der Haustür oder auch in vertraulicher Umgebung aushändigt. Wie ist das möglich?
Der Postbote von Girifalco ist kein simpler Zusteller, sondern ein begeisterter Philosoph, Beobachter und Sammler, und »seine Brillanz beruhte darauf, dass er viel und gründlich las«. Seit er als Zwölfjähriger damit begann, liebt er die griechischen Mythen und ihre Metamorphosen, glaubt an Seelenwanderung und allerlei geheimnisvolle Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten, die unser Leben jenseits des Zufalls bestimmen, wenngleich die wenigsten in ihrer isolierten Existenz davon ahnen.
Seit dem Tod seiner Mutter lebt er allein und widmet sich systematisch seinen Leidenschaften – die Schicksale seiner Mitmenschen zu studieren und über die Zufälle des Lebens Buch zu führen. Fein durchnummeriert ordnet er sie in seinem Notizbuch auf der Suche nach einem tieferen Sinn im menschlichen Erdendasein. Wenn gewisse Ereignisse unerwartet zusammentreffen – ein alter Mensch im Dorf stirbt, und just am selben Tag wird ein Kind geboren –, muss dann nicht eine höhere Bedeutung dahinter stecken, eine Tendenz zum Ausgleich, ein Streben nach Gleichgewicht? »Nichts wird erschaffen und nichts zerstört.«
Beflügelt von seinen höheren Einsichten kennt er keine Hindernisse, schon gleich nicht das Postgeheimnis. Frisch im Ort eintreffende Briefe nimmt er wie die ihm unterwegs anvertrauten mit nach Hause, öffnet und liest sie, ehe er sie kunstvoll wieder verschließt und zustellt oder abschickt. Die inhaltlich besonders bemerkenswerten schreibt er ab und archiviert sie, säuberlich in Schubladen sortiert: »Tod, Liebe, Betrug, Anzeigen, Beleidigungen, Erpressungen«.
Liebesbriefe sind die Perlen in seinem Postsack. Sie sagen »die dieselben Dinge mit immer neuen Worten […], so sorgfältig ziseliert«, dass sie »einen träumen lassen und um den Schlaf bringen«.
Wer solch umfassende Einblicke in das menschliche Leben bekommt, kann sich nicht damit abfinden, passiv zuzuschauen, wenn den Mitmenschen Leid widerfährt, wenn sie Übles aushecken, wenn ihnen Glück versagt bleibt. Dann hilft er den ausgleichenden Kräften des Lebens, wie er sie erkannt hat, auf die Sprünge und macht sich zum Gehilfen des Schicksals. Warum sollte er einer Mutter, die seit Jahren sehnsuchtsvoll auf ein Lebenszeichen des geliebten Sohnes aus der Fremde wartet, dessen Todesanzeige zustellen? Mit Leichtigkeit geht dem talentierten Schreiber eine willkommenere, eine gerechtere Nachricht von der Hand. Soll er die Männer, die den idyllischen Monte Covello aus billigem Gewinnstreben zur Mülldeponie machen wollen, weiter intrigieren lassen? Statt unterwürfiger Einverständnisdepeschen schickt er eine Ablehnung auf die Reise und bringt das Projekt zu Fall. Dank seiner Gabe, Handschriften zu imitieren, fallen die Briefe niemandem als Fälschung auf – die Mehrheit im Dorf kann weder lesen noch schreiben.
Der eigene Lebenstraum des postino bleibt allerdings unerfüllt. Wie sollte man auch sein eigenes Schicksal manipulieren? Seit jeher liebt er Rosa, die in der Schweiz lebt. Ein seltsamer, unerklärlicher Zufall vereitelte seinen Versuch, sich ihr anzunähern, und danach hat er niemals den Mut aufgebracht, das Missverständnis aufzuklären. Nun lebt er ganz in seinen Fantasien, ist »glücklich … im Leben der anderen«, sieht in seiner Tätigkeit den »Grund für seine Existenz«. Auch den Schmerz anderer »Wunden der Vergangenheit«, wie den eigenen Vater niemals kennengelernt zu haben, lindert seine erfüllende Tätigkeit, und er kann in ihr Trost und Zufriedenheit finden.
Ausgedacht hat sich diese wunderbare Geschichte zwischen Realität, Philosophie, Poesie und Märchen der italienische Autor Domenico Dara, der wusste, wovon er fabulierte. 1971 in Catanzaro geboren, wuchs er in Girifalco auf und ist folglich intim vertraut mit Alltag, Lebensart, Mentalität, Gläubigkeit und Aberglauben des Menschenschlags. Wie er von seiner Heimat und ihren Bewohnern erzählt, lässt die starke Zuneigung zu ihnen spüren, auch wenn er seit Langem nach Norditalien abgewandert ist.
Sein Debütroman »Breve trattato sulle coincidenze« erschien 2014 und erhielt sogleich viel Anerkennung (z.B. Finalist beim Premio Italo Calvino). 2016 veröffentlichte er mit »Appunti di meccanica celeste« einen Nachfolgeband, der die Bewohner von Girifalco und ihre Lebensläufe mit Himmelskörpern und ihren Bahnen vergleicht, wie sie, ewigen Gesetzen des Universums folgend, kreisen, sich kreuzen, sich entfernen und annähern – bis auf sieben kuriose Protagonisten, die sich nicht einordnen lassen; auch dies also ein großes unterhaltsames Panoptikum, dem der Durchzug eines zauberhaften Zirkusses die Krone aufsetzt (ausgezeichnet mit dem Premio Stresa 2017).
Erst jetzt erschien die deutschsprachige Ausgabe des umfangreichen Erstlings, mit der die Übersetzerin Anja Mehrmann eine Fleißarbeit abgeliefert hat. Erfreulicherweise hat sie die stark dialektal gefärbten Eigennamen und ein paar Wendungen im Original belassen, um das lokale Kolorit zu bewahren.
Mehrmanns Hauptverdienst ist jedoch, Domenico Daras kunstvollen Stil schön umgesetzt zu haben. Unglaublich fantasievoll, detailreich, feinfühlig und subtil erzählt er seine geruhsam dahinfließende Geschichte, die sich ganz auf die Perspektive des Protagonisten beschränkt. Jeder der kaum zählbaren Figuren (gefühlt sind es Hunderte, und trotz der Übersicht am Ende verliert man leicht den Überblick) schenkt der Autor eine (bisweilen schrullige) Individualität – nur sein Held lehnt den ungeliebten Vornamen, den ihm sein ungeliebter Vater gab, ab.
Kaum ein Satz, kaum ein winziges Ereignis, kaum ein Detail, das der Erzähler nicht durch einen aparten Vergleich, eine originelle Metapher, ein hübsches Bild adelt. Er erschließt uns so beispielsweise das pralle Treiben eines süditalienischen Markttages und ebenso die volle Vitalität heftiger Betriebsamkeit in Sachen Liebe, dem zentralen Thema unzähliger Episoden über unbändiges Begehren, schroffe Abweisung, geheimes Taktieren, plumpe Anbiederung. Der Ton kennt alle Nuancen zwischen zärtlicher Poesie und derber Sinnenfreude. Der gibt sich auch der Jungpriester, ein wahrer Adonis, widerstandslos und lustvoll hin, während dem Postboten der genüssliche Blick hinauf zu Carmen genügen muss, die ohne Höschen die Wäsche auf ihrem Balkon aufhängt. Die Fabulierlust kennt keine Grenzen.
Domenico Daras Debütroman ist ein inspirierender, ästhetischer, bildstarker, besinnlicher und humorvoller Unterhaltungsroman, der mit tragischen Liebesgeschichten ebenso aufwartet wie mit einem Krimiplot und einem Politikskandal.