Rezension zu »Der Postbote von Girifalco oder Eine kurze Geschichte über den Zufall« von Domenico Dara

Der Postbote von Girifalco oder Eine kurze Geschichte über den Zufall

von


Der Briefzusteller eines kalabrischen Dorfes in den späten Sechzigerjahren tut aus Menschenfreundlichkeit und philosophischem Interesse weit mehr als seine bescheidene Arbeit und lenkt die Schicksale seiner Mitbürger in bessere Bahnen.
Belletristik · Kiepenheuer & Witsch · · 480 S. · ISBN 9783462051711
Sprache: de · Herkunft: it · Region: Kalabrien und Basilicata

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Bote und Helfer des Schicksals

Rezension vom 02.08.2019 · 7 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Wo die ›Stiefelspitze‹ Italiens am engsten und der Weg zu beiden Meeren gleich weit ist, liegt das kalabrische Bergdorf Girifalco. Abgeschie­den vom Weltge­schehen – anderswo bringt man gerade die ersten Menschen auf den Mond! – ruht es vergleichs­weise friedlich in sich. Die Bewohner sind damit ausgelastet, sich selbst unter Kontrolle zu halten, ohne die Harmonie unterein­ander zu gefährden, doch nicht jeder kann oder will das wirklich. So gibt es auch hier wie überall dunkle Seiten. Allerdings fehlt hier noch der Ansturm übler Einflüsse von außerhalb. Mangels technischer Infra­struktur erfolgt der Infor­mations­aus­tausch zwischen Girifalco und der Außenwelt (wohin nicht wenige der Einwohner zeitweise oder dauerhaft ausgewan­dert sind) über das Briefe­schreiben, und dabei verrichtet der Briefträger seine Arbeit an maßgeb­licher Stelle.

In diesem überschaubaren Mikrokosmos kennt jeder jeden wie seine Westen­tasche, doch der Postbote kennt sogar die Seele eines jeden, all ihre Erwartungen, Schwächen, Geheimnisse, Erinne­rungen, Hoffnungen, Sehnsüchte und Triebe sowie alle Freuden, Ent­täuschun­gen, Über­raschun­gen und Ver­sprechun­gen, die er ihnen aus seinem Postsack an der Haustür oder auch in vertrau­licher Umgebung aushändigt. Wie ist das möglich?

Der Postbote von Girifalco ist kein simpler Zusteller, sondern ein begeis­terter Philosoph, Beobachter und Sammler, und »seine Brillanz beruhte darauf, dass er viel und gründlich las«. Seit er als Zwölf­jähriger damit begann, liebt er die griechi­schen Mythen und ihre Metamor­phosen, glaubt an Seelen­wande­rung und allerlei geheimnis­volle Zu­sammen­hänge und Gesetz­mäßig­keiten, die unser Leben jenseits des Zufalls bestimmen, wenngleich die wenigsten in ihrer isolierten Existenz davon ahnen.

Seit dem Tod seiner Mutter lebt er allein und widmet sich systema­tisch seinen Leiden­schaften – die Schicksale seiner Mitmenschen zu studieren und über die Zufälle des Lebens Buch zu führen. Fein durch­numme­riert ordnet er sie in seinem Notizbuch auf der Suche nach einem tieferen Sinn im mensch­lichen Erdendasein. Wenn gewisse Ereignisse unerwartet zu­sammen­treffen – ein alter Mensch im Dorf stirbt, und just am selben Tag wird ein Kind geboren –, muss dann nicht eine höhere Bedeutung dahinter stecken, eine Tendenz zum Ausgleich, ein Streben nach Gleich­gewicht? »Nichts wird erschaffen und nichts zerstört.«

Beflügelt von seinen höheren Einsichten kennt er keine Hindernisse, schon gleich nicht das Post­geheim­nis. Frisch im Ort eintref­fende Briefe nimmt er wie die ihm unterwegs anver­trau­ten mit nach Hause, öffnet und liest sie, ehe er sie kunstvoll wieder verschließt und zustellt oder abschickt. Die inhaltlich besonders bemer­kenswer­ten schreibt er ab und archiviert sie, säuberlich in Schubladen sortiert: »Tod, Liebe, Betrug, Anzeigen, Belei­digun­gen, Erpres­sungen«.

Liebesbriefe sind die Perlen in seinem Postsack. Sie sagen »die dieselben Dinge mit immer neuen Worten […], so sorgfältig ziseliert«, dass sie »einen träumen lassen und um den Schlaf bringen«.

Wer solch umfassende Einblicke in das menschliche Leben bekommt, kann sich nicht damit abfinden, passiv zuzuschauen, wenn den Mitmenschen Leid widerfährt, wenn sie Übles aushecken, wenn ihnen Glück versagt bleibt. Dann hilft er den aus­gleichen­den Kräften des Lebens, wie er sie erkannt hat, auf die Sprünge und macht sich zum Gehilfen des Schicksals. Warum sollte er einer Mutter, die seit Jahren sehn­suchts­voll auf ein Lebens­zeichen des geliebten Sohnes aus der Fremde wartet, dessen Todes­anzeige zustellen? Mit Leichtig­keit geht dem talentier­ten Schreiber eine will­komme­nere, eine gerechtere Nachricht von der Hand. Soll er die Männer, die den idyllischen Monte Covello aus billigem Gewinn­streben zur Müll­deponie machen wollen, weiter intrigieren lassen? Statt unter­würfi­ger Einver­ständ­nisdepe­schen schickt er eine Ablehnung auf die Reise und bringt das Projekt zu Fall. Dank seiner Gabe, Hand­schriften zu imitieren, fallen die Briefe niemandem als Fälschung auf – die Mehrheit im Dorf kann weder lesen noch schreiben.

Der eigene Lebenstraum des postino bleibt allerdings unerfüllt. Wie sollte man auch sein eigenes Schicksal manipu­lieren? Seit jeher liebt er Rosa, die in der Schweiz lebt. Ein seltsamer, uner­klärli­cher Zufall vereitelte seinen Versuch, sich ihr anzunähern, und danach hat er niemals den Mut aufgebracht, das Miss­verständ­nis aufzu­klären. Nun lebt er ganz in seinen Fantasien, ist »glücklich … im Leben der anderen«, sieht in seiner Tätigkeit den »Grund für seine Existenz«. Auch den Schmerz anderer »Wunden der Ver­gangen­heit«, wie den eigenen Vater niemals kennen­gelernt zu haben, lindert seine erfüllende Tätigkeit, und er kann in ihr Trost und Zufrieden­heit finden.

Ausgedacht hat sich diese wunderbare Geschichte zwischen Realität, Philosophie, Poesie und Märchen der italieni­sche Autor Domenico Dara, der wusste, wovon er fabulierte. 1971 in Catanzaro geboren, wuchs er in Girifalco auf und ist folglich intim vertraut mit Alltag, Lebensart, Mentalität, Gläubigkeit und Aberglauben des Menschen­schlags. Wie er von seiner Heimat und ihren Bewohnern erzählt, lässt die starke Zuneigung zu ihnen spüren, auch wenn er seit Langem nach Norditalien abgewandert ist.

Originalausgabe:
»Breve trattato
sulle coincidenze
«
(2014, Verlag Nutrimenti)
Domenico Dara: »Breve trattato sulle coincidenze« auf Bücher Rezensionen
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Sein Debütroman »Breve trattato sulle coincidenze« Domenico Dara: »Breve trattato sulle coincidenze« bei Amazon erschien 2014 und erhielt sogleich viel Anerkennung (z.B. Finalist beim Premio Italo Calvino). 2016 veröffent­lichte er mit »Appunti di meccanica celeste« Domenico Dara: »Appunti di meccanica celeste« bei Amazon einen Nach­folge­band, der die Bewohner von Girifalco und ihre Lebensläufe mit Himmels­körpern und ihren Bahnen vergleicht, wie sie, ewigen Gesetzen des Universums folgend, kreisen, sich kreuzen, sich entfernen und annähern – bis auf sieben kuriose Protago­nisten, die sich nicht einordnen lassen; auch dies also ein großes unterhalt­sames Panoptikum, dem der Durchzug eines zauber­haften Zirkusses die Krone aufsetzt (aus­gezeich­net mit dem Premio Stresa 2017).

Erst jetzt erschien die deutschsprachige Ausgabe des umfang­reichen Erstlings, mit der die Über­setzerin Anja Mehr­mann eine Fleißarbeit abgeliefert hat. Erfreu­licher­weise hat sie die stark dialektal gefärbten Eigennamen und ein paar Wendungen im Original belassen, um das lokale Kolorit zu bewahren.

Mehrmanns Hauptverdienst ist jedoch, Domenico Daras kunst­vollen Stil schön umgesetzt zu haben. Unglaublich fantasie­voll, detailreich, feinfühlig und subtil erzählt er seine geruhsam dahin­fließende Geschichte, die sich ganz auf die Perspektive des Protago­nisten beschränkt. Jeder der kaum zählbaren Figuren (gefühlt sind es Hunderte, und trotz der Übersicht am Ende verliert man leicht den Überblick) schenkt der Autor eine (bisweilen schrullige) Indi­vidua­lität – nur sein Held lehnt den ungeliebten Vornamen, den ihm sein ungeliebter Vater gab, ab.

Kaum ein Satz, kaum ein winziges Ereignis, kaum ein Detail, das der Erzähler nicht durch einen aparten Vergleich, eine originelle Metapher, ein hübsches Bild adelt. Er erschließt uns so bei­spiels­weise das pralle Treiben eines süd­italieni­schen Markttages und ebenso die volle Vitalität heftiger Betrieb­samkeit in Sachen Liebe, dem zentralen Thema unzähliger Episoden über unbändiges Begehren, schroffe Abweisung, geheimes Taktieren, plumpe Anbiederung. Der Ton kennt alle Nuancen zwischen zärtlicher Poesie und derber Sinnen­freude. Der gibt sich auch der Jung­pries­ter, ein wahrer Adonis, wider­stands­los und lustvoll hin, während dem Postboten der genüssliche Blick hinauf zu Carmen genügen muss, die ohne Höschen die Wäsche auf ihrem Balkon aufhängt. Die Fabulier­lust kennt keine Grenzen.

Domenico Daras Debütroman ist ein inspirierender, ästhetischer, bildstarker, besinn­licher und humorvoller Unter­haltungs­roman, der mit tragischen Liebes­geschich­ten ebenso aufwartet wie mit einem Krimiplot und einem Politik­skandal.


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