Alles schlecht
Keinen Lichtblick gönnt uns Don Winslow, einer der Kings unter den zeitgenössischen Thriller-Autoren, in seinem neuesten Roman. Über fünfhundert Seiten seziert er das US-Gesellschaftssystem und findet nichts als durch und durch korrumpierte und kriminelle Existenzen. Im Mittelpunkt steht ein »Hero-Cop« in der Elitetruppe des NYPD, aber sauber ist nicht einmal der.
Dabei wollte Denny Malone, der Protagonist, doch »immer ein guter Cop sein«. Er hat das »beschissene New York geliebt«. Als er jedoch nach achtzehn leidenschaftlich engagierten Dienstjahren abtritt, muss er feststellen, dass die »faule Stelle in der Seele dieser Stadt« ganz oben an den Schaltzentralen der Macht zu finden ist und die Korruptesten sicher wie nie zuvor im Sattel sitzen. Freilich hat er sich inzwischen selbst in den Fängen des Bösen verstrickt. Langsam ist er in die Falle hineingeschliddert: erst ein spendierter Kaffee, dann eine Einladung ins Restaurant, mal ein gesponserter Bordellbesuch, hier ein bisschen Dope, dort ein Hundert-Dollar-Schein, bis er schließlich »eine rote Linie« überschritten hatte, ein »dirty Cop« geworden war und seinen Preis dafür bezahlen muss.
Aber Malone ist keiner, der kampflos aufgibt. In der dramatischen Schlussszene des Romans tritt er denen gegenüber, die die Hauptverantwortung tragen, sich ihr jedoch entziehen und sich niemals rechtfertigen müssen. In einem Penthouse ist die ganze Bande versammelt, um über ihn zu richten – Vertreter des FBI, der Justiz, der Politik und Immobilienhaie. Jahrelang ist er ihnen zu Diensten gewesen. Die Details der »Drecksarbeit«, bei der er oft genug sein Leben riskierte, haben die Herrschaften indes nie interessiert. Ob es seine Widersacher beeindruckt, wenn er ihnen jetzt den Spiegel vorhält? Eine Hand wäscht die andere, und alle werden auf irgendeine krumme Weise beteiligt, damit sie Weichen stellen, passende Urteile fällen oder einfach wegschauen, wenn Geld gewaschen, Drogen gehandelt, Waffen verkauft, Immobilien in Slums zu Bestpreisen errichtet werden sollen.
Bis es zu diesem Showdown kommt, begleiten wir Malone bei seiner täglichen Arbeit. Er ist einer von 38.000 New Yorker Cops; allerdings gehören er und seine Teamkollegen Russo, Billy O und Big Monty zu den »Besten der Besten«. Sie sind »hochdekorierte Profis«, die als Spezialeinheiten in den diffizilen Zentren des nördlichen Manhattan die Herrschaft der Drogengangs brechen und für Frieden zwischen den sich gegenseitig hassenden Ethnien und rivalisierenden Gruppierungen sorgen sollen. Unterstützt von undercover arbeitenden Detectives, bezahlten Junkies und zivilen Spitzeln kennt die Truppe jede Straße, jeden Wohnblock, jeden Clan, jeden Mafia-Boss und greift gnadenlos und mit aller Härte durch.
Den Gipfel ihrer Erfolge erreichen die vier Männer mit der spektakulären Erstürmung eines Heroinlabors, wobei ihnen eine sagenhafte Menge Drogen in die Hände fällt. Politik und Medien feiern die Helden und ihren (sauer verdienten) Sieg. Aber Malone, als »King der Kings« verehrt, hat einen Fehler gemacht ...
Ein solch kompromissloses Leben kann nur führen, wer sich ihm vollständig verschreibt. Zwar ist Malone verheiratet und hat zwei Kinder, insgeheim auch eine Geliebte, dunkelhäutig und drogenabhängig. Doch seine Teamkollegen stehen ihm näher. »Für sie würde er sein Leben opfern.« Sollte einer von ihnen im Einsatz umkommen, so haben es die Cops einander versprochen, werden die anderen für seine Hinterbliebenen sorgen. Mit diesem Solidaritätsgedanken im Hinterkopf haben sie brav fünfzig Kilogramm Heroin in der Asservatenkammer abgeliefert, ohne die zwanzig weiteren Kilogramm zu erwähnen, die sie zusammen mit einem Haufen Geld bunkern, um in Notzeiten die Ausbildung der Kinder oder medizinische Behandlungen finanzieren oder auch einmal Spitzel schmieren oder einen nützlichen Rechtsverdreher anheuern zu können.
Unvorstellbar für die verschworenen Kameraden, dass ausgerechnet Malone, ihr Genie und Teamchef, in die Fänge des FBI gerät und zur »Ratte« wird. Aber eine überehrgeizige Bundesanwältin hat ein Observationsvideo gegen ihn in der Hand. Entweder packt er aus und nennt Namen von Cops und Richtern, die sich haben schmieren lassen, oder er wandert für Jahre ins Gefängnis.
Es versteht sich von selbst, dass die Sympathien des Autors (und damit des Lesers) Malone gehören. Dass er ein Raubein, sein Charakter gebrochen, manche Tat fragwürdig ist, tut seiner Wertschätzung keinerlei Abbruch. »Wäre die Welt gerecht, wäre auch er gerecht«, so lautet die sehr schlichte Rechtfertigung für einen Mann, der, bewaffnet bis an die Zähne, nicht zögert, auf Menschen zu schießen. Das passt ins Weltbild vieler Amerikaner und zum Genre, aber ein bisschen mehr Tiefgang und Differenzierung hätte nicht geschadet.
Ansonsten ist Don Winslows »Corruption« (»The Force« , übersetzt von Chris Hirte) ein stimmiger, furioser Actionthriller, der die komplexe, widersprüchliche Realität der Megacity New York detailliert, spannend und wahrscheinlich ziemlich getreu abbildet. Trotz der strengsten Gesetze des Landes gedeihen demnach der internationale Drogen- und Waffenhandel, weil gewissenlose Individuen und ihre gut getarnten Organisationen jegliche Vorschrift geschickt unterlaufen. Die auf der anderen Seite sind auch keine Engel. Da sind Polizisten, die nach Karriere, Macht oder Profit gieren, und solche, die sich nicht unter Kontrolle haben und schnell überzogen reagieren, da ist eine Bevölkerung, die in verfeindete Lager aufgespalten, aber einig ist in ihrem Hass gegen die Cops, die ihnen erfahrungsgemäß immer nur Unheil statt Ordnung bringen. Besonders heiß explodieren die Emotionen, wenn ein weißer Polizist einen Farbigen erledigt.
Wie sich die Schlinge der Staatsanwältin langsam immer enger um Malones Hals legt, wie er sich bis zum Schluss windet, nicht zur »Ratte« zu werden,wie er immer wieder neue Deals aushandelt und gleichzeitig die Köpfe der Syndikate jagt, das erzählt der Autor rasant und raffiniert und nicht ohne gelegentlich eine Prise süffisanter Ironie einzustreuen. Don Winslow ist ein Vollprofi des Thriller-Metiers. Seine Kollegen in Hollywood brauchen nur zuzugreifen. Winslow hat ihnen eine filmreife Vorlage geliefert.