
Tausche Rundumversorgung gegen Freiheit
Sie hat es schon wieder getan. Diesmal hat die kanadische Königin klug konzipierter Zukunftsszenarien über mögliche Auswege aus dem Crash der Finanzwelt und der Wirtschaft nachgedacht, der so viele Menschen in den Ruin getrieben, Arbeitsplätze vernichtet, Obdachlosigkeit und Kriminalität in die Höhe getrieben hat. Wie wäre es, so ihr Gedankenspiel, wenn die nach unten aus der Erwerbsgesellschaft gepurzelten Mitbürger einander selbst Beschäftigung und Brot verschafften? Und zwar im Rotationsverfahren: Während eine Hälfte als Gefangene in sich selbst versorgenden Arbeitslagern festsitzt, genießt die andere ein idyllisches Leben im Komfort, flauschige Handtücher inklusive – bis nach einem Monat Rollen und Unterkünfte turnusmäßig wechseln.
Dieses Setup einer »Win-win-Wirtschaftseinheit« mit Arbeitsplätzen für alle richtet die Autorin in naher Zukunft in der US-Stadt Consilience (etwa »Übereinstimmung, Zustimmung«) und ihrer Zwillingsstadt Positron ein. Global finanzierte Thinktanks haben hier das experimentelle »Positron-Projekt« realisiert, eine privatwirtschaftlich betriebene künstliche Insel des Friedens, streng überwacht und abgeschottet von dem krisengeschüttelten, heruntergekommenen, von Banden terrorisierten Rest des Landes. Das Schöne an dem Modell ist, dass sich Interessenten frei für oder gegen eine Teilnahme entscheiden dürfen. Ist der goldene Käfig des Vorstadtparadieses es wert, dafür seine Freiheit aufzugeben? Und was stellt ein profitorientiertes Unternehmen mit einem sozialpolitischen Experiment an?
Margaret Atwood, 78, mit Romanen, Erzählungen, Lyrik und Sachbüchern ungeheuer produktiv und mit Preisen überhäuft (2017 erhält sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels), etablierte sich bereits mit ihrem Erstling »The edible woman« (1969; »Die essbare Frau«, 1985) als Schriftstellerin, die gesellschaftlich relevante Problemzonen ihrer Zeit in eine nahe Zukunft hochzurechnen und diese Gedankenspiele überzeugend, mehrschichtig, dabei reizvoll und unterhaltsam zu erzählen vermag. Der gängigen Etikettierung als »Science-Fiction«-Autorin verweigert sie sich allerdings. Ihre Entwürfe seien der Realität viel näher als SF, weswegen sie selbst den Begriff »speculative fiction« bevorzugt (und »social science fiction« gerade noch durchgehen lässt).
Ihre größte Reichweite erzielte Atwood 1985 mit »The Handmaid's Tale« (»Der Report der Magd«
, 1987). Darin hat eine fundamentalchristliche Bewegung die USA in eine Gesellschaft verwandelt, in der Frauen vollständig dem Mann unterworfen sind und Gebären ihre einzige Pflicht ist. Mit Donald Trump gewann diese Dystopie über Frauenfeindlichkeit noch an Brisanz, die Nachfrage stieg während seines Wahlkampfes rasant an (wie auch die von »1984« und »Brave New World«), und der Roman wurde zu einer TV-Serie verarbeitet.
Wie üblich knüpft Atwood an konkrete gegenwärtige Umstände an, was ihre Dystopien so faszinierend greifbar erscheinen lässt. Beispielsweise ist es in den USA bereits üblich, den Betrieb von Gefängnissen Wirtschaftsunternehmen zu überlassen und ganze Siedlungen privat abzusichern. Auch welche Erniedrigungen sich verzweifelte Arbeitslose gefallen lassen, um sich und die Ihren über die Runden zu bringen, wissen wir alle, ebenso, wie unreflektiert und sorglos Millionen Menschen ihre persönlichsten Daten privaten Firmenmolochen zur freien Verfügung überlassen. Von diesen Startpunkten ist es bis nach Consilience nur ein kleiner Schritt.
Und natürlich ist Atwood eine Meisterin des Erzählens. Sie schickt eine Reihe von Individuen in ihr Szenario und beobachtet gewissermaßen, wie sie sich darin zurechtfinden, verheddern, anpassen oder zur Wehr setzen. Hier heißen ihre Versuchskaninchen Stan und Charmaine, er in der Qualitätssicherung bei Emo-Robotics, sie Eventmanagerin in einem Seniorenheim. Doch das ist schon auf der ersten Seite Vergangenheit, denn da hat das junge Ehepaar bereits schier alles verloren, Arbeitsplatz, Obdach und Perspektiven, und lebt wie auf der Flucht. Wo immer sie in ihrer uralten Honda-Rostlaube nächtigen, müssen sie gewahr sein, von noch viel tiefer abgestürzten Menschen brutal überfallen zu werden. So weit haben sie sich und ihre Hoffnung auf einen Aufschwung im Land noch nicht aufgegeben. Sie würden jeden Job akzeptieren, wenn es denn welche gäbe. Um ihrer Wäsche hin und wieder eine Umdrehung im Waschsalon zu gönnen und damit einen Rest ihrer Würde zu wahren, verkaufen sie ihr Blut.
In einer früher – während des Booms der Start-ups und App-Entwickler – angesagten Bar sieht Charmaine zufällig einen Werbefilm, der den beiden den Ausblick auf eine schöne neue Welt in Consilience öffnet. Pragmatisch wie sie sind, halten sie nur kurz inne, dann verschreiben sie sich dem innovativen Lebensmodell, in dem regelmäßiges Darben (das kennen sie ja zur Genüge) wenigstens mit ebenso regelmäßigem Wohlleben vergolten wird. Den Preis ahnen sie noch nicht.
Zunächst müssen sie eine Bewerbungsprozedur und verpflichtende Einführungsseminare über sich ergehen lassen. Dunkel gekleidete dauer-euphorische Moderatoren hypen die »Positron«-Teilnehmer mit schönfärberischer Rhetorik, verheißungsvollen Motivierungstechniken und fein dosiertem Anpassungsdruck. Sie seien »wahre Helden ... Pioniere, Wegbereiter ... schlügen eine Bresche in die Zukunft ... die Nachwelt werde sie verehren«. Es müssen nur »alle zusammenarbeiten«, dann müsse das »unerhörte« Experiment gelingen, dann werde sich das Modell »auf höchster Ebene« durchsetzen und »die Rettung ... für die ganze Nation« bringen: »Probleme wie Arbeitslosigkeit und Kriminalität würden auf einen Schlag gelöst«! Wer wollte sich da entziehen? Einfache, eingängige, technokratische Rezepte haben Konjunktur.
Doch schnell gerät die Sache in Schieflage, läuft so manches aus dem Ruder. Systemfehler bringen den Bäumchen-wechsel-dich-Rhythmus durcheinander, Roboter werden den Menschen immer ähnlicher (und können als »Münzschlitze« schon passable sexuelle Dienste leisten), die Überwachung der Bewohner kennt keine Tabus, Menschen verschwinden, und womöglich ist sogar Charmaine in ein Euthanasie-Programm involviert. Die strahlende Zukunftsvision entpuppt sich als dumpfer Albtraum.
Das kühne Modell zeitigt auch auf privater Ebene gravierende Komplikationen. Das System Consilience/Positron zielt auf Isolierung des Einzelnen. Sowohl während der Knastzeit als auch während des Komfort-Monats müssen sich die Ehepartner ihren unterschiedlichen Aufgaben widmen und sehen einander kaum. Von dem Paar, mit dem man alternierend sein Haus teilt, darf man nicht einmal die Namen kennen. Doch es tun sich kleine Risse auf, Stan und Charmaine werden getrennt, sie treffen mit anderen zusammen. Die Abwesenheit des Ehepartners leitet beider Sehnsucht nach Liebe und Sex um auf die gerade verfügbaren Personen. Misstrauen, Eifersucht, ungekannte sexuelle Obsessionen und Schuldgefühle sorgen für bedrückende Verwicklungen, die die Autorin jedoch mit leichter Hand gestaltet.
Ein besonderes Lob gebührt Monika Baark, die »The Heart Goes Last« kreativ übersetzt und die schillernden Tonlagen zwischen schlagfertigen Dialogen, humoriger Umgangssprache, spitzen Seitenhieben auf unser enthusiastisch digitales Zeitalter, Phrasendrescherei und Beklemmendem nuanciert getroffen hat. Eine wichtige Rolle spielt im Original ein Ohrwurm aus den Fünfzigerjahren (den der piepsstimmige Tiny Tim 1968 zur Nervensäge ruinierte): »Tiptoe through the Tulips«. Das hat Monika Baark über- bzw. ersetzt durch den walzerseligen Schlager »Tulpen aus Amsterdam« (von 1956) – und das passt!