Rezension zu »Bobby« von Eddie Joyce

Bobby

von


Belletristik · DVA · · Gebunden · 416 S. · ISBN 9783421046512
Sprache: de · Herkunft: us

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Ein Heldendenkmal

Rezension vom 30.08.2016 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Gail und Michael Amendola sind mustergültige Amerikaner. Michaels Eltern, Italiener, hatten mit Fleiß und Disziplin eine Metzgerei auf die Beine gestellt. Seine Mutter Maria, eine italie­nische Vollblut-Mama, war stets zur Stelle, um ihrer Schwieger­tochter in den ersten Ehejahren zur Hand zu gehen. Ohne sie wäre Gail, die irische Wurzeln hat, wohl nie so eine perfekte Hausfrau und sorgende Mutter geworden. Damals herrschte oft Chaos im Ein­fami­lien­haus in der Wirra Lane auf Staten Island. Tagein, tagaus hielten drei Söhne alle auf Trab. Um Peter, den Ältesten, brauchte sich keiner zu sorgen. Er boxte sich nach oben durch und ist mittler­weile Anwalt in einer renom­mier­ten Kanzlei in Manhattan. Bobby, der Jüngste, trat in die Fuß­stapfen seines Vaters Michael und wurde Feuer­wehr­mann. Nur Franky hat bis heute sein Leben nicht in geord­nete Bahnen lenken können. Er blieb das Sorgen­kind der Familie.

Inzwischen haben Gail und Michael kaum noch Verpflich­tungen. Sie sind im Ruhestand. Seit die Kinder nicht mehr da sind, herrscht im Haus Stille, im Kühl­schrank – früher immer rappel­voll – gähnende Leere, in den Herzen Einsam­keit und Trauer. Denn »ein Bruch« durch­zieht die Familie, seit ihr Sohn Bobby zu einem Einsatz gerufen wurde, von dem er nie zurück­kehrte. Er war einer von 343 fire­fighters, die bei dem Versuch, den über sieb­zehn­tausend Menschen in den bren­nenden Twin Towers des World Trade Centers zu helfen, ihr Leben verloren.

Doch nicht der Unglückstag Nine-Eleven ist Gegenstand dieses Roman­erstlings. Den ameri­kani­schen Autor Eddie Joyce interes­siert vielmehr, wie der terroris­tische Massen­mord das Schicksal einer betroffe­nen Familie über einen längeren Zeitraum hin geprägt hat. Können Eltern, Ge­schwister, Ehe­partner das Trauma verar­beiten, das der gewalt­same Verlust eines Menschen in einer solchen Kata­strophe auslöst?

Für Gail ist Bobby allgegenwärtig. Seit er auszog, um Tina, die er seit High­school­tagen kannte, zu heira­ten, ist sein Zimmer unver­ändert. Das Bett ist gemacht, darüber hängt, mittler­weile verblasst, das Poster des Basketball­stars Patrick Ewing, die Pokale auf dem Bücher­regal bekunden, dass Bobby selbst ein toller Sportler war. Kein Tag vergeht, an dem Gail nicht das Zimmer betritt und wenigs­tens für ein paar Minuten gedank­lich innehält.

Peter, der erfolgreiche workaholic, hat sich in mehrfacher Hinsicht abge­setzt. Er hat Staten Island, das »Domes­tiken­viertel«, mit Frau und Kindern verlassen, verleug­net seine italie­nischen Wurzeln und hat den Kontakt zu den Eltern auf ein Minimum reduziert. Darunter leidet Gail und ist sicher, auch Bobby hätte sich mehr Gemein­samkeit und Zusam­men­halt gewünscht.

Schwiegertochter Tina hat mit ihren Kindern Alyssa und Bobby junior lange getrauert, ja körper­lich gelit­ten. Ihr kleiner Junge, der erst Monate nach dem Un­glücks­tag zur Welt kam, trägt den Namen seines Vaters, und viele von dessen Eigen­schaften leben in ihm weiter. Deshalb ist der nächste Sonntag ein ganz beson­derer Tag: Die ganze Familie wird bei Gail und Michael zu­sammen­kommen, um Bobby juniors neunten Geburts­tag gehörig zu feiern.

Doch neben der Trauer um den Vater, der nicht mehr dabei­sein kann, verdüstert jetzt eine weitere schwarze Wolke das nahende Ereignis. Tina eröffnete ihrer Schwieger­mutter, sie habe »jemanden kennen­gelernt«, es sei »etwas Ernstes«, und bei der Geburts­tags­party wolle sie den Mann der Familie vorstellen.

Natürlich ist Tina bewusst, was ihr Geständnis auslösen würde – sie zitterte dabei –, und in der Tat ist Gail aufgewühlt. Einer­seits freut es sie für Tina, dass sie einen neuen Lebens­partner gefunden hat. Anderer­seits über­wiegen Sorgen und Schmerz. Soll denn wirklich irgendein Fremder an die Stelle ihres einzig­artigen Sohnes treten, ihn als liebender Ehe­mann, als für­sorg­licher Vater ersetzen dürfen? Womög­lich zieht auch er (wie Peter) mit der Familie weg von Staten Island und nimmt ihr damit auch noch den kleinen Bobby weg. Was werden die anderen dazu sagen, wie würde Bobby darüber denken?

Gail übernimmt die schwierige Aufgabe, ihre beiden Söhne zu informieren. Die Begeg­nung mit Peter findet auf neutralem Boden in einem Cafe statt, verläuft ange­spannt und bringt eine Über­raschung. Peter ist nicht nur längst auf dem Laufen­den, sondern kennt den Neuen sogar gut. Wade, ein Witwer, dessen Frau bei einem Auto­unfall ums Leben kam, ist ein Freund von ihm. Das macht die Sache für Gail nicht einfacher: Nun kann sie diesen Mann, der selbst Trost sucht, nicht einmal mehr hassen.

Die nächste Hürde ist Franky, der ständig alkoholisierte Nichtsnutz, schnell mit Worten und der Faust. Tina fürchtet einen peinlichen Auftritt ausge­rechnet zu Bobby juniors Ehrentag. Wie kann Gail ihn dazu bringen, seine Wut auf das »Arschloch« zu zügeln? Am besten wäre, Franky käme gar nicht erst ...

Das Familientreffen anlässlich eines Kindergeburtstags, überschattet von einem Jahrzehnt der Trauer, ist der Aufhänger für die Roman­handlung. Während Gail im Vorfeld mit ihren Nöten ringt, wie sie die sorg­sam über die Zeiten gerettete Fiktion der fami­liären Gemein­schaft angesichts des fremden Eindring­lings bewahren könnte, ohne das Andenken ihres noch immer sehr präsenten verstor­benen Sohnes zu schmälern, blättert der Autor im Familien­album der Amen­dolas. Gail oblag es, diese Verbindung ehemaliger Einwan­derer aus Italien und Irland zusammen­zuhalten, und die vielen Episoden, die erzählt werden, illust­rieren, wie schwierig diese Aufgabe war, zumal nachdem die Kinder als Erwach­sene ihrer eigenen Wege gingen und mit Problemen zu kämpfen hatten, von denen Gail nur wenig weiß. In der gemein­samen Trauer um den toten Bobby finden die Amen­dolas zusammen, ihre indivi­duellen Sorgen werden eine Zeitlang unwichtig, und sie können vergessen, dass sie einsam sind, Fehler gemacht, Chancen verpasst haben. Seine untröst­liche Mutter kann nicht anders, als Bobby zu verklären. Er wird ihr, komme was wolle, ein guter Junge, ihre Zuflucht und ihr Tröster bleiben.

»Small Mercies« Eddie Joyce: »Small Mercies« bei Amazon heißt das Buch (das Karen Nölle und Hans-Ulrich Möhring übersetzt haben) im Original, eine Anleh­nung an die Redens­art »be grateful for small mercies« (»Man muss für alles, d.h. jede Kleinig­keit, dankbar sein«). Warum man diesem starken Titel, der den Kern des Erzähl­ten gut trifft, bei DVA den völlig nichts­sagen­den Aller­welts­namen »Bobby« vorge­zogen hat, ist mir unbe­greif­lich. Etwas mehr Strahl­kraft auf dem ufer­losen Markt der Neu­er­schei­nun­gen hätte das Buch alle­mal verdient. Seinem Autor ist mit der emotions­gelade­nen Intro­spek­tive einer komplexen Mittel­stands­familie und den sie prägen­den sozialen Umständen ein be­merkens­werter litera­rischer Blick auf das ewige ameri­kanische Trauma Nine-Eleven gelungen – leider mit einem voll­kommen unmoti­vierten pene­tranten Hang zur expliziten Darstel­lung von Sexual­praktiken, verschärft durch ordinäres Vokabular.


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