Ein Heldendenkmal
Gail und Michael Amendola sind mustergültige Amerikaner. Michaels Eltern, Italiener, hatten mit Fleiß und Disziplin eine Metzgerei auf die Beine gestellt. Seine Mutter Maria, eine italienische Vollblut-Mama, war stets zur Stelle, um ihrer Schwiegertochter in den ersten Ehejahren zur Hand zu gehen. Ohne sie wäre Gail, die irische Wurzeln hat, wohl nie so eine perfekte Hausfrau und sorgende Mutter geworden. Damals herrschte oft Chaos im Einfamilienhaus in der Wirra Lane auf Staten Island. Tagein, tagaus hielten drei Söhne alle auf Trab. Um Peter, den Ältesten, brauchte sich keiner zu sorgen. Er boxte sich nach oben durch und ist mittlerweile Anwalt in einer renommierten Kanzlei in Manhattan. Bobby, der Jüngste, trat in die Fußstapfen seines Vaters Michael und wurde Feuerwehrmann. Nur Franky hat bis heute sein Leben nicht in geordnete Bahnen lenken können. Er blieb das Sorgenkind der Familie.
Inzwischen haben Gail und Michael kaum noch Verpflichtungen. Sie sind im Ruhestand. Seit die Kinder nicht mehr da sind, herrscht im Haus Stille, im Kühlschrank – früher immer rappelvoll – gähnende Leere, in den Herzen Einsamkeit und Trauer. Denn »ein Bruch« durchzieht die Familie, seit ihr Sohn Bobby zu einem Einsatz gerufen wurde, von dem er nie zurückkehrte. Er war einer von 343 firefighters, die bei dem Versuch, den über siebzehntausend Menschen in den brennenden Twin Towers des World Trade Centers zu helfen, ihr Leben verloren.
Doch nicht der Unglückstag Nine-Eleven ist Gegenstand dieses Romanerstlings. Den amerikanischen Autor Eddie Joyce interessiert vielmehr, wie der terroristische Massenmord das Schicksal einer betroffenen Familie über einen längeren Zeitraum hin geprägt hat. Können Eltern, Geschwister, Ehepartner das Trauma verarbeiten, das der gewaltsame Verlust eines Menschen in einer solchen Katastrophe auslöst?
Für Gail ist Bobby allgegenwärtig. Seit er auszog, um Tina, die er seit Highschooltagen kannte, zu heiraten, ist sein Zimmer unverändert. Das Bett ist gemacht, darüber hängt, mittlerweile verblasst, das Poster des Basketballstars Patrick Ewing, die Pokale auf dem Bücherregal bekunden, dass Bobby selbst ein toller Sportler war. Kein Tag vergeht, an dem Gail nicht das Zimmer betritt und wenigstens für ein paar Minuten gedanklich innehält.
Peter, der erfolgreiche workaholic, hat sich in mehrfacher Hinsicht abgesetzt. Er hat Staten Island, das »Domestikenviertel«, mit Frau und Kindern verlassen, verleugnet seine italienischen Wurzeln und hat den Kontakt zu den Eltern auf ein Minimum reduziert. Darunter leidet Gail und ist sicher, auch Bobby hätte sich mehr Gemeinsamkeit und Zusammenhalt gewünscht.
Schwiegertochter Tina hat mit ihren Kindern Alyssa und Bobby junior lange getrauert, ja körperlich gelitten. Ihr kleiner Junge, der erst Monate nach dem Unglückstag zur Welt kam, trägt den Namen seines Vaters, und viele von dessen Eigenschaften leben in ihm weiter. Deshalb ist der nächste Sonntag ein ganz besonderer Tag: Die ganze Familie wird bei Gail und Michael zusammenkommen, um Bobby juniors neunten Geburtstag gehörig zu feiern.
Doch neben der Trauer um den Vater, der nicht mehr dabeisein kann, verdüstert jetzt eine weitere schwarze Wolke das nahende Ereignis. Tina eröffnete ihrer Schwiegermutter, sie habe »jemanden kennengelernt«, es sei »etwas Ernstes«, und bei der Geburtstagsparty wolle sie den Mann der Familie vorstellen.
Natürlich ist Tina bewusst, was ihr Geständnis auslösen würde – sie zitterte dabei –, und in der Tat ist Gail aufgewühlt. Einerseits freut es sie für Tina, dass sie einen neuen Lebenspartner gefunden hat. Andererseits überwiegen Sorgen und Schmerz. Soll denn wirklich irgendein Fremder an die Stelle ihres einzigartigen Sohnes treten, ihn als liebender Ehemann, als fürsorglicher Vater ersetzen dürfen? Womöglich zieht auch er (wie Peter) mit der Familie weg von Staten Island und nimmt ihr damit auch noch den kleinen Bobby weg. Was werden die anderen dazu sagen, wie würde Bobby darüber denken?
Gail übernimmt die schwierige Aufgabe, ihre beiden Söhne zu informieren. Die Begegnung mit Peter findet auf neutralem Boden in einem Cafe statt, verläuft angespannt und bringt eine Überraschung. Peter ist nicht nur längst auf dem Laufenden, sondern kennt den Neuen sogar gut. Wade, ein Witwer, dessen Frau bei einem Autounfall ums Leben kam, ist ein Freund von ihm. Das macht die Sache für Gail nicht einfacher: Nun kann sie diesen Mann, der selbst Trost sucht, nicht einmal mehr hassen.
Die nächste Hürde ist Franky, der ständig alkoholisierte Nichtsnutz, schnell mit Worten und der Faust. Tina fürchtet einen peinlichen Auftritt ausgerechnet zu Bobby juniors Ehrentag. Wie kann Gail ihn dazu bringen, seine Wut auf das »Arschloch« zu zügeln? Am besten wäre, Franky käme gar nicht erst ...
Das Familientreffen anlässlich eines Kindergeburtstags, überschattet von einem Jahrzehnt der Trauer, ist der Aufhänger für die Romanhandlung. Während Gail im Vorfeld mit ihren Nöten ringt, wie sie die sorgsam über die Zeiten gerettete Fiktion der familiären Gemeinschaft angesichts des fremden Eindringlings bewahren könnte, ohne das Andenken ihres noch immer sehr präsenten verstorbenen Sohnes zu schmälern, blättert der Autor im Familienalbum der Amendolas. Gail oblag es, diese Verbindung ehemaliger Einwanderer aus Italien und Irland zusammenzuhalten, und die vielen Episoden, die erzählt werden, illustrieren, wie schwierig diese Aufgabe war, zumal nachdem die Kinder als Erwachsene ihrer eigenen Wege gingen und mit Problemen zu kämpfen hatten, von denen Gail nur wenig weiß. In der gemeinsamen Trauer um den toten Bobby finden die Amendolas zusammen, ihre individuellen Sorgen werden eine Zeitlang unwichtig, und sie können vergessen, dass sie einsam sind, Fehler gemacht, Chancen verpasst haben. Seine untröstliche Mutter kann nicht anders, als Bobby zu verklären. Er wird ihr, komme was wolle, ein guter Junge, ihre Zuflucht und ihr Tröster bleiben.
»Small Mercies« heißt das Buch (das Karen Nölle und Hans-Ulrich Möhring übersetzt haben) im Original, eine Anlehnung an die Redensart »be grateful for small mercies« (»Man muss für alles, d.h. jede Kleinigkeit, dankbar sein«). Warum man diesem starken Titel, der den Kern des Erzählten gut trifft, bei DVA den völlig nichtssagenden Allerweltsnamen »Bobby« vorgezogen hat, ist mir unbegreiflich. Etwas mehr Strahlkraft auf dem uferlosen Markt der Neuerscheinungen hätte das Buch allemal verdient. Seinem Autor ist mit der emotionsgeladenen Introspektive einer komplexen Mittelstandsfamilie und den sie prägenden sozialen Umständen ein bemerkenswerter literarischer Blick auf das ewige amerikanische Trauma Nine-Eleven gelungen – leider mit einem vollkommen unmotivierten penetranten Hang zur expliziten Darstellung von Sexualpraktiken, verschärft durch ordinäres Vokabular.