Rezension zu »Il Cinghiale che uccise Liberty Valance« von Giordano Meacci

Il Cinghiale che uccise Liberty Valance

von


Belletristik · Minimum Fax · · Taschenbuch · 452 S. · ISBN 9788875217174
Sprache: it · Herkunft: it · Region: Toskana, Umbrien, Marken

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Apperbohr versteht schon

Rezension vom 27.08.2016 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Dies ist wohl das schrägste Stück Belletristik, das seit längerer Zeit in Italien erschienen ist. Beim Premio Strega 2016 eroberte es den vierten Platz. In über fünfzig Kapiteln erzählt hier ein be­gnadeter Fabu­lierer eine ganze Region, entwirft ein paar Dutzend Cha­raktere unter­schied­lichster Couleur, philo­sophiert über Gott und die Welt und führt uns neben­bei vor Augen, wie Er­kennen, Denken, Kom­muni­zieren und Spre­chen funk­tionie­ren. Nicht zuletzt gewinnen wir Einblicke in eine bislang komplett unterschätzte Geistes­welt – die der Wildschweine.

Corsignano ist ein (fiktives) Dorf, wie es viele gibt in der abgele­genen, bergigen und wald­reichen Region an der Grenze zwischen der Toskana und Umbrien. Touristen finden nicht hier­her. Die beein­druckende Land­schaft ist wild und unbe­rührt und zeitlos in ihrem jahres­zeit­lichen Wechsel. Die ur­sprüng­lichen Be­wohner der dichten Forste – Schwarz- und Rot­wild, Vögel und Insekten – leben unge­stört, werden nur zur Jagd­saison aufge­schreckt. Auch die corsig­nanesi sind eine relativ ge­schlos­sene Gesell­schaft. Die ver­wandt­schaft­lichen Verflech­tungen greifen tief, jeder kennt jeden, Geheim­nisse haben eine begrenzte Lebens­dauer. Über allem wölbt sich, stets zum Greifen nah, der Himmel des end­losen Uni­versums und rückt die Dimen­sionen und Relati­vitäten zurecht.

Diesen Mikrokosmos porträtiert Autor Giordano Meacci (Jahr­gang 1971) mit bewun­derns­wert aus­dauern­der Akribie und aus­ufern­der Krea­tivität. Erklären zu wollen, was in diesem Buch alles passiert, ist ein hoff­nungs­loses Unter­fangen. Viele Kapitel erzählen in sich geschlos­sene Geschichten, aber manche Hand­lungs­fäden durch­ziehen mehrere Kapitel. Etwa ein Dutzend Prota­gonis­ten, Junge und Alte, die hier und da, mal als zentrale, mal als Neben­figuren mit­mischen, machen das Kern­personal von Corsig­nano aus. Dazu gehört Agnese, mit nur 39 Jahren ver­storben und am 19. Juli 1999 in einer turbulent verun­glück­ten Zere­monie beerdigt, ganz wie es manche nach ihrem lädierten Leu­mund erwar­tet hatten. Neben ihrem Mann Salvo hinter­lässt sie einen unglaub­lich reifen sech­zehn­jähri­gen Sohn Walter, der zahl­reiche Film­klassiker bis in die Details kennt und mit seinem sieben Jahre älteren Freund Fabrizio erörtert – in der Nacht des Begräb­nisses ist es »Der Mann, der Liberty Valance erschoss« (ein John-Ford-Western von 1962 mit John Wayne). Andrea Bui und Durante Salvani sind ein weiteres Paar befreun­deter Jungen. Andreas Vater Amedeo betreibt den örtlichen Waffen­laden und bringt sich durch riskante Aktionen an den Rand des Ver­der­bens.

In einer Art spiraligen Großstruktur vollzieht sich geruhsam in zwei Etappen (Mitte Juli 1999 und von De­zember 1999 bis November 2000) eine komplexe, gut durch­mischte commedia umana. Menschen werden geboren und sterben, lieben und hassen, ver­achten und schätzen, betrügen und ver­raten einander, töten sich selbst und andere, vor allem aber reden sie viel. Ihre Leiden­schaften werden befeuert von der Liebe in all ihren Spiel­arten, der Jagd (einer eben­falls weit ver­brei­teten italie­nischen Passion), dem Glücks­spiel und dem Tratsch. Der all­wissende und all­gegen­wärtige Erzähler ist immer dicht am Gesche­hen, das mal tragische, mal komische Züge aufweist, mal durch Spannung, mal durch Nach­denk­lich­keit besticht.

Freundlicherweise erleichtert uns der Autor den Einstieg durch eine voran­ge­stellte Land­karte und einige genea­logische Steck­brief­chen. Später täuschen pedan­tische Fakten­angaben immer wieder vor, der Erzähler könne all die Ereig­nisse in einem irgend­wie be­schaffe­nen univer­salen System ein­norden, in dem die zah­len­mystische Kon­stella­tion otto / trentatré eine schick­sal­hafte Rolle zu spielen scheint (»otto minuti e trentatré secondi«, »otto virgola trentatré«, »delle otto e trentatré del mattino del 23 marzo 1984« …). Doch nein – alles Ironie. Stets wird gleich wieder relati­viert (»centimetro in più, centimetro in meno«).

Bald merkt man ohnehin, dass die uns geläufigen Ordnungs­prinzipien (Chrono­logie, Ver­wandt­schafts­grade, Orte, Ursache und Wirkung …) zur Orien­tierung gar nicht so lebens­not­wendig sind, wie sie uns er­scheinen. Irgend­wann gibt man es auf, ihnen auf der Spur zu bleiben, und folgt einfach nur den Ariadne-Fäden, die Meacci wie besessen vor sich hin spinnt, als könne er einfach nicht anders: in end­losen Sätzen, Hin- und Her­schwenks, Paren­thesen, Ara­besken, An­spie­lungen, laut­getreu ver­schrift­lich­ten Dia­lekt­wen­dungen, eigen­willigen Akzen­tuie­run­gen und diversen Text­sorten (Zeitungs­artikel, Dreh­buch, Poli­zei­proto­koll, Radio­inter­view …).

Was der ungewöhnlichen Rhapsodie Rückgrat verleiht, ist eine zusätz­liche und inno­vative Per­spek­tive: die eines aufge­weckten Wild­schweins. Seiner rötlichen Nacken­fell­zeich­nung verdankt es den Namen Cinghia­rossa, und dieser kräftige, wiss­begie­rige Eber ist die eigent­liche Haupt­person des Romans. Agneses Beer­di­gung leitet sein Schlüssel­erlebnis ein; in der Nacht vom 19. zum 20. Juli 1999 wird er hören, wie Tom Doniphon (John Wayne) Ransom Stoddard (James Stewart) ermuntert: »Ripènsaci, amico. Ripènsaci.«, und alles wird sich für ihn ändern.

Cinghiarossa – oder besser Apperbohr, wie der Name in cinghia­lese, der Wild­schwein­sprache, lautet – beob­achtet und belauscht seit Längerem – erst zufällig, dann syste­matisch –, was die Menschen (gli Alti sulle Zampe) so bewegt, wenn sie auf dem Friedhof feierlich bei­sammen­stehen, sich mitten in der Nacht auf einem Wald­park­platz in einem Klein­wagen lieben, in ihren Häusern vor den Fernseh­geräten (sassi lu­minosi) disku­tieren, wie sie Vorräte anlegen, Werk­zeuge verwenden, Zäune repa­rieren, ihr Gemein­wesen organi­sieren. Der Schlüssel zu all dem ist die Sprache. Über die Wort­bedeu­tungen erschlie­ßen sich ihm komplexe, abstrakte Zu­sam­men­hänge, das Bewusst­sein von Iden­tität, Ver­gäng­lich­keit, Ge­schichte, Leben und Tod. »Ripènsaci, amico.« – kann man also längst Ge­schehe­nes neu denken? Er muss lernen, mit Un­sicher­heiten, Zweifeln und Wider­sprüchen umzu­gehen.

Sa solo che da quel momento in poi – questo pensiero gli è entrato dentro la testa prima in modo embrionale, poi s’è scaldato con il fuoco laminato e incerto di tutta una serie di chiari­fica­zioni – non può più tornare indietro. Comprende istin­tiva­mente l’idea di un prima e di un dopo.

... tutta la forza che i secoli gli hanno dato più questa im­provvisa consape­volezza che gli è piovuta addosso possono renderlo invincibile: è questa la parola, niente lo può più fermare, perché lui è una massa che i secoli hanno plasmato a forma di cinghiale, epperò ora da tutta quell’idea comune e vaga di cinghiale lui si è scoperto un apperbohr. Anzi no: Apperbohr, eccolo il cinghiale che assomma tutti gli altri [ …] e li rende uno, lui può essere in­vincibile.

alle volte, come in questo momento, riesce difficile anche a lui trovare la parola giusta, alle volte gli sembra che qual­cuno abbia cambiato le etichette delle parole (etichetta l’ha scoperta da poco, passando davanti al negozio dell’Alta sulle Zampe che chiamano Rosalba, e fioraia, a Corsigna­no). Alle volte gli sembra che esistano parole giuste dai si­gni­ficati sbagliati (la parola è signi­ficati) – e che è vero anche il contrario.

Leider ist Apperbohr zu einer tragischen, isolierten Existenz verurteilt. Den corsigna­nesi entgeht nicht, dass die cignàli letzthin auf­sässiger geworden sind (»E’ non ci si capisce più niente nemmeno co’ ‘lloro.«), aber dass ein Eber sie studiert, können sie natür­lich nicht ahnen. Kluger­weise hält er bei allem Wissens­drang den ge­bote­nen Abstand zu den Menschen, ihren Hunden und Gewehren.

Von seinen Artgenossen entfremdet sich Apperbohr. Es gelingt ihm nicht, sie aus ihrem Zustand un­schul­diger Un­mündig­keit zu führen. So ver­zwei­felt sich der vier­beinige Prome­theus müht, ihnen das Feuer seiner Er­kennt­nis in ein­fachen Kon­zepten und im eigenen Idiom – einer äußerst vokal­armen Grunz­sprache mit ges­tischen Kom­ponen­ten, die in einem »Hand­buch« im Anhang vor­gestellt und streng wissen­schaft­lich analy­siert wird – ver­fügbar zu machen, so unzu­reichend sind ihre intel­lektuel­len Kapa­zitäten, so gering ist ihr Interesse.

Apperbohrs Unterredungen mit seiner Lebensgefährtin und die Aus­einander­setzun­gen mit der Horde um Rudel­führung und Strategien sind faszi­nierende Studien, ein Ringen um Er­kennt­nis, Wahrheit und Sprache wie schon seine Versuche, das mensch­liche Treiben und Denken zu erfassen. Vernied­lichender Ver­mensch­lichungs­kitsch ist nicht zu finden – allen­falls ein Hauch vom Mythos des ›edlen Wilden‹. Das Tal des Flüss­chens Nardile ist ein Idylle-Topos wie die »Lich­tung der Hirsche« (»la Radura dei Graar-Ar«), wo die Wild­schwein-Männer ihre Rivali­täten einmal gar in Penta­metern aus­fechten (»Quèllo che dìci mi tròva col cuòre in tumùlto / O Amìco mio càro e sodàle di tànte battàglie!«).

Obwohl das gesamte Werk ein leichter Humor, eine leichte Ironie durchzieht, ist die Lektüre nicht immer leichtfüßig. Manchmal dehnt sich die Zeit in der Provinz schier endlos, und manch­mal hätte der Rotstift des Lektors Meaccis elemen­taren Drang zu schreiben gern rigoroser bremsen können. Aber was Fantasie­reichtum, sprach­liche Präzi­sion und Krea­tivität und die Multi­dimen­siona­lität der intel­lektuel­len Anre­gun­gen betrifft, ist dieses origi­nelle, unter­halt­same und geist­reiche Buch un­schlag­bar. Millesimo di secondo in più o in meno; gra­fema segnato o pensato in meno, o in più.


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