Apperbohr versteht schon
Dies ist wohl das schrägste Stück Belletristik, das seit längerer Zeit in Italien erschienen ist. Beim Premio Strega 2016 eroberte es den vierten Platz. In über fünfzig Kapiteln erzählt hier ein begnadeter Fabulierer eine ganze Region, entwirft ein paar Dutzend Charaktere unterschiedlichster Couleur, philosophiert über Gott und die Welt und führt uns nebenbei vor Augen, wie Erkennen, Denken, Kommunizieren und Sprechen funktionieren. Nicht zuletzt gewinnen wir Einblicke in eine bislang komplett unterschätzte Geisteswelt – die der Wildschweine.
Corsignano ist ein (fiktives) Dorf, wie es viele gibt in der abgelegenen, bergigen und waldreichen Region an der Grenze zwischen der Toskana und Umbrien. Touristen finden nicht hierher. Die beeindruckende Landschaft ist wild und unberührt und zeitlos in ihrem jahreszeitlichen Wechsel. Die ursprünglichen Bewohner der dichten Forste – Schwarz- und Rotwild, Vögel und Insekten – leben ungestört, werden nur zur Jagdsaison aufgeschreckt. Auch die corsignanesi sind eine relativ geschlossene Gesellschaft. Die verwandtschaftlichen Verflechtungen greifen tief, jeder kennt jeden, Geheimnisse haben eine begrenzte Lebensdauer. Über allem wölbt sich, stets zum Greifen nah, der Himmel des endlosen Universums und rückt die Dimensionen und Relativitäten zurecht.
Diesen Mikrokosmos porträtiert Autor Giordano Meacci (Jahrgang 1971) mit bewundernswert ausdauernder Akribie und ausufernder Kreativität. Erklären zu wollen, was in diesem Buch alles passiert, ist ein hoffnungsloses Unterfangen. Viele Kapitel erzählen in sich geschlossene Geschichten, aber manche Handlungsfäden durchziehen mehrere Kapitel. Etwa ein Dutzend Protagonisten, Junge und Alte, die hier und da, mal als zentrale, mal als Nebenfiguren mitmischen, machen das Kernpersonal von Corsignano aus. Dazu gehört Agnese, mit nur 39 Jahren verstorben und am 19. Juli 1999 in einer turbulent verunglückten Zeremonie beerdigt, ganz wie es manche nach ihrem lädierten Leumund erwartet hatten. Neben ihrem Mann Salvo hinterlässt sie einen unglaublich reifen sechzehnjährigen Sohn Walter, der zahlreiche Filmklassiker bis in die Details kennt und mit seinem sieben Jahre älteren Freund Fabrizio erörtert – in der Nacht des Begräbnisses ist es »Der Mann, der Liberty Valance erschoss« (ein John-Ford-Western von 1962 mit John Wayne). Andrea Bui und Durante Salvani sind ein weiteres Paar befreundeter Jungen. Andreas Vater Amedeo betreibt den örtlichen Waffenladen und bringt sich durch riskante Aktionen an den Rand des Verderbens.
In einer Art spiraligen Großstruktur vollzieht sich geruhsam in zwei Etappen (Mitte Juli 1999 und von Dezember 1999 bis November 2000) eine komplexe, gut durchmischte commedia umana. Menschen werden geboren und sterben, lieben und hassen, verachten und schätzen, betrügen und verraten einander, töten sich selbst und andere, vor allem aber reden sie viel. Ihre Leidenschaften werden befeuert von der Liebe in all ihren Spielarten, der Jagd (einer ebenfalls weit verbreiteten italienischen Passion), dem Glücksspiel und dem Tratsch. Der allwissende und allgegenwärtige Erzähler ist immer dicht am Geschehen, das mal tragische, mal komische Züge aufweist, mal durch Spannung, mal durch Nachdenklichkeit besticht.
Freundlicherweise erleichtert uns der Autor den Einstieg durch eine vorangestellte Landkarte und einige genealogische Steckbriefchen. Später täuschen pedantische Faktenangaben immer wieder vor, der Erzähler könne all die Ereignisse in einem irgendwie beschaffenen universalen System einnorden, in dem die zahlenmystische Konstellation otto / trentatré eine schicksalhafte Rolle zu spielen scheint (»otto minuti e trentatré secondi«, »otto virgola trentatré«, »delle otto e trentatré del mattino del 23 marzo 1984« …). Doch nein – alles Ironie. Stets wird gleich wieder relativiert (»centimetro in più, centimetro in meno«).
Bald merkt man ohnehin, dass die uns geläufigen Ordnungsprinzipien (Chronologie, Verwandtschaftsgrade, Orte, Ursache und Wirkung …) zur Orientierung gar nicht so lebensnotwendig sind, wie sie uns erscheinen. Irgendwann gibt man es auf, ihnen auf der Spur zu bleiben, und folgt einfach nur den Ariadne-Fäden, die Meacci wie besessen vor sich hin spinnt, als könne er einfach nicht anders: in endlosen Sätzen, Hin- und Herschwenks, Parenthesen, Arabesken, Anspielungen, lautgetreu verschriftlichten Dialektwendungen, eigenwilligen Akzentuierungen und diversen Textsorten (Zeitungsartikel, Drehbuch, Polizeiprotokoll, Radiointerview …).
Was der ungewöhnlichen Rhapsodie Rückgrat verleiht, ist eine zusätzliche und innovative Perspektive: die eines aufgeweckten Wildschweins. Seiner rötlichen Nackenfellzeichnung verdankt es den Namen Cinghiarossa, und dieser kräftige, wissbegierige Eber ist die eigentliche Hauptperson des Romans. Agneses Beerdigung leitet sein Schlüsselerlebnis ein; in der Nacht vom 19. zum 20. Juli 1999 wird er hören, wie Tom Doniphon (John Wayne) Ransom Stoddard (James Stewart) ermuntert: »Ripènsaci, amico. Ripènsaci.«, und alles wird sich für ihn ändern.
Cinghiarossa – oder besser Apperbohr, wie der Name in cinghialese, der Wildschweinsprache, lautet – beobachtet und belauscht seit Längerem – erst zufällig, dann systematisch –, was die Menschen (gli Alti sulle Zampe) so bewegt, wenn sie auf dem Friedhof feierlich beisammenstehen, sich mitten in der Nacht auf einem Waldparkplatz in einem Kleinwagen lieben, in ihren Häusern vor den Fernsehgeräten (sassi luminosi) diskutieren, wie sie Vorräte anlegen, Werkzeuge verwenden, Zäune reparieren, ihr Gemeinwesen organisieren. Der Schlüssel zu all dem ist die Sprache. Über die Wortbedeutungen erschließen sich ihm komplexe, abstrakte Zusammenhänge, das Bewusstsein von Identität, Vergänglichkeit, Geschichte, Leben und Tod. »Ripènsaci, amico.« – kann man also längst Geschehenes neu denken? Er muss lernen, mit Unsicherheiten, Zweifeln und Widersprüchen umzugehen.
Sa solo che da quel momento in poi – questo pensiero gli è entrato dentro la testa prima in modo embrionale, poi s’è scaldato con il fuoco laminato e incerto di tutta una serie di chiarificazioni – non può più tornare indietro. Comprende istintivamente l’idea di un prima e di un dopo.
... tutta la forza che i secoli gli hanno dato più questa improvvisa consapevolezza che gli è piovuta addosso possono renderlo invincibile: è questa la parola, niente lo può più fermare, perché lui è una massa che i secoli hanno plasmato a forma di cinghiale, epperò ora da tutta quell’idea comune e vaga di cinghiale lui si è scoperto un apperbohr. Anzi no: Apperbohr, eccolo il cinghiale che assomma tutti gli altri [ …] e li rende uno, lui può essere invincibile.
alle volte, come in questo momento, riesce difficile anche a lui trovare la parola giusta, alle volte gli sembra che qualcuno abbia cambiato le etichette delle parole (etichetta l’ha scoperta da poco, passando davanti al negozio dell’Alta sulle Zampe che chiamano Rosalba, e fioraia, a Corsignano). Alle volte gli sembra che esistano parole giuste dai significati sbagliati (la parola è significati) – e che è vero anche il contrario.
Leider ist Apperbohr zu einer tragischen, isolierten Existenz verurteilt. Den corsignanesi entgeht nicht, dass die cignàli letzthin aufsässiger geworden sind (»E’ non ci si capisce più niente nemmeno co’ ‘lloro.«), aber dass ein Eber sie studiert, können sie natürlich nicht ahnen. Klugerweise hält er bei allem Wissensdrang den gebotenen Abstand zu den Menschen, ihren Hunden und Gewehren.
Von seinen Artgenossen entfremdet sich Apperbohr. Es gelingt ihm nicht, sie aus ihrem Zustand unschuldiger Unmündigkeit zu führen. So verzweifelt sich der vierbeinige Prometheus müht, ihnen das Feuer seiner Erkenntnis in einfachen Konzepten und im eigenen Idiom – einer äußerst vokalarmen Grunzsprache mit gestischen Komponenten, die in einem »Handbuch« im Anhang vorgestellt und streng wissenschaftlich analysiert wird – verfügbar zu machen, so unzureichend sind ihre intellektuellen Kapazitäten, so gering ist ihr Interesse.
Apperbohrs Unterredungen mit seiner Lebensgefährtin und die Auseinandersetzungen mit der Horde um Rudelführung und Strategien sind faszinierende Studien, ein Ringen um Erkenntnis, Wahrheit und Sprache wie schon seine Versuche, das menschliche Treiben und Denken zu erfassen. Verniedlichender Vermenschlichungskitsch ist nicht zu finden – allenfalls ein Hauch vom Mythos des ›edlen Wilden‹. Das Tal des Flüsschens Nardile ist ein Idylle-Topos wie die »Lichtung der Hirsche« (»la Radura dei Graar-Ar«), wo die Wildschwein-Männer ihre Rivalitäten einmal gar in Pentametern ausfechten (»Quèllo che dìci mi tròva col cuòre in tumùlto / O Amìco mio càro e sodàle di tànte battàglie!«).
Obwohl das gesamte Werk ein leichter Humor, eine leichte Ironie durchzieht, ist die Lektüre nicht immer leichtfüßig. Manchmal dehnt sich die Zeit in der Provinz schier endlos, und manchmal hätte der Rotstift des Lektors Meaccis elementaren Drang zu schreiben gern rigoroser bremsen können. Aber was Fantasiereichtum, sprachliche Präzision und Kreativität und die Multidimensionalität der intellektuellen Anregungen betrifft, ist dieses originelle, unterhaltsame und geistreiche Buch unschlagbar. Millesimo di secondo in più o in meno; grafema segnato o pensato in meno, o in più.