
Das außergewöhnliche Leben eines Dienstmädchens namens PETITE, besser bekannt als Madame Tussaud
von Edward Carey
Die bewegte, fast neunzigjährige Lebensgeschichte der Marie Tussaud. Das Kind aus schlichten, Leid geprüften Kreisen erlernt bei seinem Förderer das Modellieren in Wachs, erlebt im vor- und nachrevolutionären Paris eine Blütezeit und wagt in der zweiten Lebenshälfte einen Neuanfang in Großbritannien.
Figuren für die Ewigkeit
Schon sehr, sehr früh in seiner Urgeschichte hat der Mensch etwas vollbracht, was kein anderes Lebewesen je vermochte: ein Abbild seiner selbst zu formen. In einer kleinen Statuette aus Knochen, Holz, Keramik oder Stein seine eigene Art wiederzuerkennen muss eine magische Wirkung ausgeübt, ihrem Fertiger höchstes Ansehen verschafft haben. Schließlich schreiben viele Kulturen allein göttlichen Wesen zu, dass sie das Menschengeschlecht nach ihrem eigenen Bildnis erschaffen hätten. Als sich im Spätmittelalter das Individuum aus der Namenlosigkeit der Masse zu emanzipieren begann, wurde ein Porträt mit persönlichen Zügen zur Ikone des eigenständigen Egos.
In der Entwicklung des lebensgroß abbildenden Kunsthandwerks erreichte kein Maler und kein Bildhauer eine derart frappierende Wirkung wie die Ceroplastik, die Wachsbildnerei, und als ihre ungekrönte Königin gilt seit zweihundert Jahren die Elsässerin Marie Tussaud, geb. Grosholtz. Ihre Kunst ist heute, verknüpft mit ihrem Namen, zu einem weltumspannenden Geschäftsmodell ausgebaut, das im Kern noch immer auf das urzeitliche Staunen angesichts des Spiegelbildes setzt.
Die moderne Steigerung der getreuen Wachsfigur ist das Selfie, und wir zeigen uns geradezu süchtig nach immer neuer narzisstischer Selbstbetrachtung und Selbstbestätigung. Exklusiver als die ritualisierte Selbstinszenierung im Foto ist das Alter Ego aus dem 3D-Drucker, aber die ultimative Weise, sich selbst zu bestaunen, steht erst noch bevor: das Klonen.
Bald nachdem Marie Grosholtz 1761 im Elsass geboren wurde, beschäftigen ihre Mutter allerdings wesentlich konkretere Sorgen. Denn der Vater kommt schwer verwundet aus dem Siebenjährigen Krieg heim und stirbt bald. Um sich und ihr Kind durchzubringen, zieht sie nach Bern, wo sie eine Anstellung bei dem seltsamen, menschenscheuen Arzt Dr. Philipp Curtius findet. Aber sie verzweifelt an dessen Anforderungen. Aus dem nahegelegenen Spital werden ständig Körperteile und Organe von Verstorbenen angeliefert, nach denen er Anschauungsobjekte für Anatomiestudenten modelliert. Lieber nimmt sie sich das Leben, als ihm dabei zur Hand zu gehen.
An dem aufgeweckten, aufgeschlossenen Wesen der kleinen Waise (»ma Petite«) findet Dr. Curtius Gefallen und nimmt sie als Mündel unter seine Obhut. Sie interessiert sich für alles, was in der Werkstatt vor sich geht, und für die unzähligen anatomischen Objekte in den Regalen und Vitrinen. Damit sie sich im Abzeichnen üben kann, gibt er ihr Papier und Bleistift. Nicht zuletzt dank eines gelungenen Abgusses ihres Kopfes entwickelt sich Curtius’ Tätigkeit zu einem lukrativen Gewerbe, und schließlich lässt er mit dem Mädchen die Provinzstadt Bern hinter sich, um mit seinem außergewöhnlichen Kunsthandwerk Paris zu erobern.
Dr. Curtius mietet sich bei Charlotte Picot ein, wo er im Schneideratelier ihres verstorbenen Mannes seine Wachsköpfe fertigen kann – und bald Gefallen an der Frau findet. Marie, inzwischen elf Jahre alt, ist derweil der grausamen Willkür und den Demütigungen der Hausherrin ausgesetzt, die sie wie einen Fußabtreter behandelt. Curtius, ganz unter der Fuchtel Madame Picots, wagt nicht, ihr zur Seite zu stehen.
Erst als der Meister den rasant wachsenden Umfang der Aufträge kaum mehr bewältigen kann, macht er Marie, trotz heftiger Proteste der Witwe, zu seiner rechten Hand. Mehr und mehr Pariser strömen in das neu erworbene, größere Geschäftshaus, um den ausgestellten illustren Persönlichkeiten über alle Schwellen des Standes, der Ehrfurcht, des Schauders hinweg unverfroren in die Augen zu schauen: Voltaire, den Brüdern Montgolfier, Benjamin Franklin, ebenso wie dem Giftmörder Antoine-François Desrues und anderen. Unter den staunenden Besuchern ist auch Élisabeth, die vierzehnjährige Schwester des Königs Louis XVI. Auf ihre Initiative hin wird Marie zehn Jahre am Hof von Versailles leben, um der in Wuchs und Aussehen ähnlichen Prinzessin alles über den menschlichen Körper nahezubringen. Im Schloss ist sie dem Elend und der Brutalität der Stadt himmelweit entrückt, bleibt aber ihren Wurzeln verbunden.
Als ab 1789 die Revolution über Paris, das Königshaus und das Land hereinbricht, ändert sich für die Bürger trotz aller politischen Programmatik nichts. Willkür und brutale Unterdrückung regieren weiterhin. Adlige wie revolutionäre Köpfe rollen in Massen, und der Umsatz des Wachsbildners und seiner tüchtigen Gehilfin erreicht mit neuen Auftraggebern neue Gipfel. Doch dann legen persönliche Entwicklungen und die internationale Politik Marie und ihren beiden Söhnen einen Umzug nach London nahe. Als Napoleon wenige Jahre später die Kontinentalsperre gegen Großbritannien verhängt, steht fest, dass sie nie mehr in das verfeindete Frankreich zurückkehren können. Nach drei Jahrzehnten des Herumreisens mit ihrer Figurenausstellung eröffnet die Vierundsiebzigjährige endlich ihr eigenes Museum in London, wo sie 1850 stirbt.
Der englische Autor und Illustrator Edward Carey hat den ungewöhnlichen Lebensweg der historischen Madame Tussaud intensiv recherchiert und daraus ihre fiktive Autobiografie geschaffen. Was die lückenhafte Quellenlage nicht hergibt, ergänzt er mit seiner Vorstellungskraft. In seinem umfangreichen Roman »Little« erzählt Maria Grosholtz also selbst, was sie erlebt hat (haben könnte), erläutert detailliert die historischen und sachlichen Hintergründe und Techniken und fügt Hunderte kleiner Schwarz-Weiß-Zeichnungen (von Careys Hand) ein. Die Gestaltung der Kapitelköpfe lehnt der Autor ein wenig an die ausholenden Gepflogenheiten der Zeit an, aber der Sprachduktus ist der unserer Zeit.
Das Buch schenkt uns ein interessantes, spannendes und emotional bewegendes Lesevergnügen. Es lässt vor unserem inneren Auge ein lebhaft detailliertes Bild der Charaktere, des Alltagslebens und der Stadt Paris entstehen – mit ihren Straßen voller stinkendem Unrat, ihren Palästen, Hospitälern, Gefängnissen und windschiefen Holzhäusern, deren Bewohner ebenso heruntergekommen sind wie ihre Behausungen. Nicht nur Hunger, Elend und Krankheiten wie die Blattern quälen die Menschen, sondern auch manch verrohter Mitbürger wie etwa der Metzger, der seine Familie mit der Axt zerteilt und die Stücke als Schweinefleisch verkauft. Sprachlich besonders bemerkenswert sind die zahlreichen Darstellungen zur pingeligen Arbeitsweise der Modellierer und die Beschreibungen der Köpfe, Totenmasken und Figuren, die sie erschaffen. Edward Carey und sein Übersetzer Cornelius Hartz stehen in ihrer sprachlichen Leistung der bildnerischen der Ceroplastiker nicht nach.