Kühn hat Hunger
von Jan Weiler
Kommissar Martin Kühn, talentiert, einfühlsam und humorvoll, hat nichts zu lachen. Er hat den Mörder einer jungen Frau zu stellen, muss aber vor allem seine Rolle als Mann neu finden. Damit ist er heutzutage nicht allein.
Wann ist ein Mann ein Mann?
1984, als Herbert Grönemeyer seinen Hit »Wann ist ein Mann ein Mann?« lancierte, war die Männerwelt noch einigermaßen in Ordnung. In der real existierenden Gesellschaft saßen sie noch fest genug im Sattel, um selbstironische Leichtigkeit zuzulassen: »Männer sind furchtbar stark«, aber »weinen heimlich«. Mit der trivialen Formel »Außen hart und innen ganz weich« konnte Mann leben, dabei hatte die Frauenrechtebewegung längst die Axt an das Fundament maskulinen Selbstverständnisses gelegt. Ihre Protagonistinnen mussten mit harten Bandagen kämpfen, um überhaupt ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass Frauen in der Familie, der Arbeitswelt und im Staat nichts zu melden hatten, solange die Männer sie nicht mitspielen ließen.
Fünfunddreißig Jahre später ist die weibliche Emanzipation keineswegs perfektioniert, aber wenigstens institutionalisiert. Gleichstellungsbeauftragte, Quoten-, sogar Sprachregelungen und selbstbewusste Antidiskriminierungsaktionen mit breitem Rückhalt wie #MeToo haben verfestigte Rollenbilder ausgehebelt und sind der Männerdominanz auf den Pelz gerückt. Dabei ist das aus früheren Zeiten gewohnte, hierarchisch definierte »harmonische Zusammenleben« der Geschlechter in die Brüche gegangen und lässt die Männer orientierungslos zurück. Wann ist ein Mann heutzutage ein Mann?
Der Münchner Kommissar Martin Kühn steckt in genau dieser Krise. Er ist zum dritten Mal Protagonist in einem Roman von Jan Weiler – nach »Kühn hat zu tun« (2016) und »Kühn hat Ärger« [› Rezension] – und dazu ein Repräsentant seiner verunsicherten Männergeneration.
Dass er als Vertreter des »starken Geschlechts« nirgendwo mehr etwas zu sagen hat, macht ihm schwer zu schaffen. Er ist erst 45 Jahre alt, achtzehn davon mit Susanne verheiratet, fühlt sich eigentlich auf der Höhe der Zeit und muss doch erkennen, dass sich die Vorzeichen in seiner Ehe verändert haben. Die Zeiten seines »Patriarchats« sind längst vorüber. In den Augen seiner Kinder Nico und Alina ist er ein »analoger Greis«, der ein tristes Dasein ohne Internet, Mobiltelefon und Online-Kaufhäuser fristet. In familiärer Runde ist er ein geduldeter Langeweiler, dessen altbackene Witze allenfalls gnädig belächelt, eher aber mitleidlos bespöttelt werden. Kein Zweifel: Sein Weg führt abwärts, während Susanne an Selbstbewusstsein gewinnt und aufwärts strebt.
An diesem Befund konnte auch ein kleiner Seitensprung nichts ändern. Die Episode mit einer durchsetzungsstarken Kollegin hatte ihm zwar bewiesen, dass seine männlichsten Teile bei Bedarf noch parat stehen, doch zurück blieben ein »ambivalentes Schuldgefühl« sowie die Einsicht, dass es wohl vorbei ist mit dem Sex-appeal: schlaffe, fahle, neuerdings fleckige Haut, Haare an bisher Babypopo-sanften Stellen, unübersehbare »Biertitten« oberhalb der Bauchwölbung und auf der Nase ein Lesebrillengestell.
Aber Martin Kühn ist nicht der Typ, der seinen Platz so einfach räumt. Stärkung für sein Ego, für seine Attraktivität bei Susanne und für sein Ansehen im Kommissariat (wird er endlich befördert?) verspricht er sich von der »Ferdie-Caparacq-Diät«, die gerade international gehypt wird. Caparacq ist eine Galionsfigur traditionellen männlichen Rollenverständnisses. Er diagnostiziert in der heutigen Gesellschaft eine »Enteierung« des Mannes und eine »Verschwanzung« der Frau und leitet daraus einen Mix aus kernigen Ratschlägen und Diätplänen ab. Zwar fordern sie dem Manne äußerste Disziplin ab (»Weck die Bestie, Du Sau!« hat der Männerversteher sein Buch betitelt), doch lockt das Ziel, dass er am Ende aller Qualen ein selbstsicheres, attraktives Auftreten sowie seine naturgewollte Dominanz wiedererlangen werde.
Leider hält Martin Kühn nur wenige Tage durch, doch die Verhonepiepelung der Motivationskampagne ist genüsslich zu lesen. »Erfolg ist männlich. Sonst würde es Siefolg heißen.« Deswegen schaut Martin Kühn morgens in den Spiegel und brüllt sich mit dem Schlachtruf der Gleichgesinnten an (»Ho, hu, hu, Du geiler Typ«), ehe er zum Frühstück warmen Ingwertee schlürft. In der erbarmungslosen Hungerwüste mutiert der Mann zeitweise zum Wolf, bis er »kurz vor der Kernschmelze« klein beigibt.
Ehe wir’s vergessen – dies ist ja ein Krimi. Tatsächlich ist im Büro der Mord an einer jungen Tänzerin zu lösen. Während Kommissar Kühn und sein Team noch im Dunklen tappen, erfährt der Leser als Erster, wer die Täter sind und was ihr Motiv war. Der Autor nutzt auch den Kriminalfall, um sein gesellschaftliches Thema der Geschlechterrollen aus einer anderen, ziemlich brutalen Perspektive zu beleuchten. Es geht um »Incels«, Männer, die unfreiwillig im Zölibat (»involuntary celibate«) leben, weil sie keine weiblichen Sexpartner finden. Sie fühlen sich als »B-Ware« und »Unberührbare«, leben verunsichert und zurückgezogen allein oder bei Muttern. Sie sehnen sich nach Frauen, würden gern eine feste Beziehung eingehen und eine Familie mit Kindern gründen, wissen aber nicht, wie sie einen Kontakt herstellen können. Selbstsichere Frauen wirken auf sie einschüchternd, abweisend, abschreckend.
Bei solchen männlichen Mauerblümchen, so scheint es, haben sich die althergebrachten Geschlechterrollen invertiert. Nun bietet das Internet genügend Räume, wo Männer mit gestörtem Verhältnis zu Frauen ihre realen oder bloß eingebildeten Defizite kompensieren können, doch besteht dort die Gefahr, dass sie sich in einer Scheinwelt verfangen, den Abstand zur Realität vergrößern und sich im Extremfall zu gefährlichen Psychopathen entwickeln.
Jan Weilers Roman »Kühn hat Hunger« überzeugt auf vielfache Weise. Genau beobachtend seziert er unsere chaotisch aufgebrochene Gesellschaft, die keine Gewissheiten mehr zulässt, nicht einmal vermeintliche, fragwürdige oder überholte. So werden Frauen, die im Innersten gerne Hausfrau und Mutter sein wollen, in der Öffentlichkeit als rückständige, unterwürfige Opfer eines ungerechten Patriarchats hingestellt, während Berufstätige zwar als emanzipierter gelten, aber oft weniger verdienen als ein Mann in gleicher Position und in der Familie häufig zu wenig Entlastung finden. Der Stress, auf allen Feldern perfekt sein zu wollen, macht Frauen nachgewiesenermaßen krank.
Ebenso verunsichert sind die männlichen Wesen, denen sich Jan Weiler widmet. Indem er tief in ihre Seele schaut, scheinen seine Sympathien auf ihrer Seite, aber er schont sie nicht. Humorvoll, süffisant, bissig-satirisch bis klamaukhaft schildert der Autor den aller Pfründe beraubten Mann. Was der auch anstellt, es ist immer falsch. Er kann noch so tapfer kämpfen, am Ende verliert er. Verweichlichte Luschen stehen ganz unten, designte Machos ganz oben auf der Abschussliste moderner, emanzipierter Frauen. Die seien, schreibt Caparacq, »wie Kühlschränke … außen hart und innen kalt«.
In diesem hintersinnigen, unterhaltsamen Roman über Schein und Sein im ziemlich konfusen Gender-Konflikt im öffentlichen und privaten Leben unserer Gesellschaft wird jeder Leser und jede Leserin das eine oder andere miterleben, was auch ihr/ihm schon einmal zu schaffen gemacht hat. Ein paar thematisch komplementäre Krimi-Elemente fügen etwas Spannungswürze hinzu.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Herbst 2019 aufgenommen.