Das Geschenk
von Sebastian Fitzek
Milan Berg hat (neben vielen aktuellen Nöten) ein Langzeitproblem an der Backe: Er ist Analphabet. Fatal, dass ein Mädchen in Lebensgefahr ausgerechnet ihm einen Hilferuf schreibt.
Das Böse im Blut
Welcher Begriff kommt heutzutage wohl jedem als erster in den Sinn, wenn das Stichwort »Weihnachten« fällt? Das wird der sein, mit dem Sebastian Fitzek seinen neuesten Thriller betitelt hat. Er korrespondiert auch trefflich mit der Saison, in der das Buch in den Schaufenstern präsentiert wird. Immer dichtere Menschenscharen werden sich in den nächsten Wochen in den Buchhandlungen tummeln, mit nur einem verzweifelten Gedanken im Kopf: »Ein Geschenk muss her!« Und was liegt da näher als den Gegenstand zu ergreifen, auf dem die erlösenden Worte prangen: »Das Geschenk«.
Hoffentlich ist sich jeder Spontankäufer im Klaren darüber, was er da unter den Weihnachtsbaum zu legen gedenkt. Bei manch zart besaitetem Patenkind oder Großmütterchen könnte das literarische Schätzchen blankes Entsetzen auslösen. Denn dieser Autor kennt keine Hemmungen. Seine Werke sind durch und durch blutrünstig, grausam und schamlos. Nach kaum drei Seiten hat man schon die erste Massenvergewaltigung hinter sich gebracht – die schauderliche Begrüßung für den Protagonisten in der JVA Berlin-Tegel. Dreihundertfünfzig Seiten haben er und wir noch vor uns.
Glücklicherweise kann der abgebrühte Kleinkriminelle Milan Berg (28) die in Aussicht gestellte Fortführung seiner Folterqualen abwenden, indem er den zudringlichen Mitbewohnern seine Vorgeschichte auftischt. Empfindsamen Fitzek-Novizen verschafft das eine Verschnaufpause ohne neuerliche Sadismen, während abgebrühte Fans sich vorerst langweilen werden. Milan sitzt wegen einer infamen Verbrechensmasche ein. Erst wählt er sorgfältig ein Opfer aus, dann ruft er es an. Als vorgeblicher Polizist warnt er es vor einem Psycho, der dem Kommissariat leider durch die Lappen gegangen sei. Schließlich taucht er mit übergestülpter Sturmhaube auf, nimmt sein Opfer als Geisel und erpresst ein Lösegeld.
Doch bei Andra Sturm gerät er an die Falsche. Die Kellnerin im »All-American Diner« ist gut vorbereitet, als Milan sie kurz vor Feierabend bei der Abrechnung überrascht. Kurzerhand brät sie ihm den bereitgehaltenen Baseballschläger über den Schädel – aus Milans Sicht »Liebe auf den ersten Hit«. Im wahren Leben hätte Andra jetzt die Polizei gerufen, aber in Fitzeks Fiktion kommen sich die beiden näher. »Ein hübscher Kerl wie du mit so einer kreativen Intelligenz. Wieso machst du so einen Scheiß und hast keinen normalen Beruf?« Das sind Andras erste Worte, als Milan auf dem Büro-Sofa wieder zu sich kommt, und sie treffen den Nagel auf den Kopf.
Denn mit »kreativer Intelligenz« hat sich Milan seit Schulzeiten durchs Leben gemauschelt. Sein Hauptanliegen: vertuschen, dass er weder lesen noch schreiben gelernt hat. Die Hausaufgaben ließ er von Mitschülern anfertigen, vor Diktaten drückte er sich, mit Formularen konnte er nichts anfangen, auf Bewerbungen musste er verzichten. Mangels Zugang zu Hartz IV und richtigen Jobs versuchte er, seinen bescheidenen Lebenswandel auf die krumme Tour zu finanzieren.
Mit Andra könnte sich sein Schicksal wenden. Sie setzt sich bei ihrem Chef für ihn ein, und der, beeindruckt von Milans fotografischem Gedächtnis, stellt ihn tatsächlich ein. Aber die große Chance, sich jetzt endlich mutig als Analphabet zu outen und sein Manko zu beheben, vermag Milan nicht zu ergreifen. Die jahrelange Scham hatte sich »wie ein Tattoo … in seinem Gemüt festgesetzt«.
Leider hat sein Unvermögen schlimme Folgen auch für andere. An einer roten Ampel hält ihm ein Mädchen im Auto nebenan einen beschriebenen Zettel entgegen. Obwohl er die »Hieroglyphen« nicht entziffern kann, signalisiert ihm die offensichtliche Panik der etwa Dreizehnjährigen, dass sie sich tödlich bedroht fühlt. Ein »gemeinsames Band, gewebt aus psychischen Grausamkeiten«, verbindet ihn mit ihr. Er informiert Andra über seinen Verdacht, eine Entführung beobachtet zu haben, und die beiden gehen der Sache nach.
Damit nimmt die Handlung des Psychothrillers gewaltig Fahrt auf. Zwischendurch erfahren wir, aus unterschiedlichen Perspektiven zurückblickend, Szenen aus Milans Kindheit. Es sind verstörende Details über Tierquälerei, Vergewaltigung, Brandstiftung und Mord, die suggerieren, dass in ihm das Böse schlechthin stecke. In seinem eigenen Gedächtnis wabern jene Ereignisse nur nebelverhangen, zumal er zeitweise im Koma gelegen hatte. Mit jeder Episode aus der Vergangenheit und jeder neuen Wendung in der Gegenwart gesellen sich neue Personen, neue Motive, neue Handlungsfäden hinzu, um sich am Ende irgendwie zu einem Charakterbild zusammenzufügen – oder im Nirwana zu verlieren. Dem Leser schwirrt jedenfalls der Kopf, aber schlimmer ergeht es Milan, der im Zentrum dieses Strudels zum Spielball aller geworden ist. Die einen wollen helfen, die anderen haben Böses im Sinn.
Übrigens – das sei doch noch richtiggestellt – hat der Titel mit Weihnachten nichts zu schaffen. Vielmehr überreicht ein geheimnisvoller Alter eines Abends im »All-American Diner« unserem Protagonisten eine kleine Pappschachtel mit Pillen darin als »Geschenk«. Wenn Milan das Medikament täglich einnehme, »werden Sie vielleicht wieder lesen können«, sagt er dazu. So verrückt der Mann Milan erscheint, so gibt ihm doch zu denken, dass er seinen Namen und sein Geheimnis kennt. Dann erinnert sich Milan an ein Abenteuerbuch aus seiner Jugendzeit. Es erzählte von zwei Kindern, die eine codierte Sprache aus Buchstaben und Zahlen erfanden. Milan und seiner damaligen Jugendfreundin gefiel das, und sie benutzten das Buch und den Code, um vertraulich miteinander zu kommunizieren.
Sebastian Fitzeks Markenzeichen findet man auf vielen Seiten und in allen Handlungssträngen. Es sind seine fantasievoll detaillierten Ausführungen über körperliche Qualen, psychopathische Obsessionen, zugerichtete Leichen, allesamt irrwitzige Szenen für des Lesers Kopfkino. Wozu etwa sammelte der Opa einst auf seinen Waldspaziergängen lebende Zecken ein? Darauf muss man erst einmal kommen: Wenn Oma ihren Haushalt nicht richtig in Ordnung hielt, strafte er sie, indem er ihr die Tierchen ins Müsli rührte. War ein Hemd schlecht zusammengefaltet, fesselte er seine Angetraute, klebte ihre Augenlider oben fest und platzierte die Biester auf ihre Augenäpfel.
Spätestens bei solch aberwitzigen Delikatessen sadistischer Fantasie ahnt man, dass der Autor nicht ernst meinen kann, was er da an Unvorstellbarem zu Papier bringt. Vielmehr, so scheint es, amüsiert er sich selbst am meisten bei dem raffinierten Spiel, das er mit seinen Lesern treibt. Die treuen Fans wollen mit allen Sinnen in Welten eingetaucht werden, die man glücklicherweise nicht in unserer Realität verorten muss, und sie genießen dort einen Schauder, den andere Leser nicht nachvollziehen können und wollen. Es handelt sich aber nur um ein oberflächliches Dekor, hinter dem nichts weiter steckt – weder ein literarisches noch ein gesellschaftsbezogenes Konzept. Im Nachwort verklausuliert Fitzek die Namen derer, denen er Dank schuldet, im Code seines Protagonisten und wünscht uns »viel Spaß« beim Dechiffrieren, fügt aber gleich hinzu, dass sich ja doch nur »arme Irre« dieser Mühe unterziehen würden.
Jedem Fitzek-Neuling, der dieses »Geschenk« unterm Baum findet oder es sich tapfer gönnt, sei eine robuste Ader für dessen eigenwillige Ironie gewünscht. Sie ist nicht jedermanns Sache.