Die Frau in zwei Welten
Bald wird Iskender aus der Haft entlassen. Vierzehn Jahre saß er im Gefängnis, denn er hatte einen »Ehrenmord« begangen. Bis seine Schwester Esma ihn in Shrewsbury abholt, muss sie sich gedanklich auf die so unwirkliche wie unerträgliche Situation vorbereiten, und sie muss die Geschichte ihrer Mutter Pembe fertiggestellt haben, eine Familiengeschichte, deren Geheimnis sie bis heute vor ihren siebenjährigen Zwillingstöchtern verborgen hielt. »Die Wahrheit in Schleier zu hüllen, sie so tief in der Normalität zu vergraben, dass man sich nach einer Weile kaum selbst mehr daran erinnern kann, ist bei uns eine Familientradition ... Jetzt mache ich dasselbe bei meinen Kindern.«
Der Roman »Honour« der Türkin Elif Shafak (Übersetzung: Michaela Grabinger) setzt mit dem Ende der inhaltlichen Entwicklung im September 1992 in London ein. Sie beginnt 1945 in einem entlegenen kurdischen Dorf ohne Straßen, Elektrizität, Arzt oder Schule, unerreichbar für Nachrichten aus dem Rest der Welt. Als die Zwillingsschwestern Pembe und Jamila dort geboren werden, ist ihre Mutter (Esmas Großmutter) verzweifelt. Warum hat Allah ihr als guter Muslimin nach sechs Töchtern noch immer keinen Sohn geschenkt? Doch ihr Ehemann glättet die Wogen und findet einen Kompromiss bei der Namensgebung: Die Mädchen sollen nicht als Kader (»Schicksal«) und Yeter (»Genug«) lebenslang die Unzufriedenheit ihrer Mutter bezeugen (und womöglich »Seinen Zorn« auf die Familie lenken), sondern Pembe Kader (»rosarotes Schicksal«) und Jamila Yeter (»genug Schönheit«) heißen.
Neben den unergründlichen Fügungen des Schicksals lenken seit jeher Allahs Gesetze das Leben der kleinen Dorfgemeinschaft, und dazwischen operieren die drei Dorfältesten. Sie sinnen den lieben langen Tag im Teehaus »über die Rätsel des göttlichen Willens« und beobachten, kommentieren, beurteilen und bestimmen insbesondere das Wesen der Frauen. »Würde« und »Sittsamkeit« sei deren einziger schützender »Schild« gegen »Schande« und »Frevel«. Die Kategorie »Scham« betrifft freilich einzig und allein die jungen Mädchen und Frauen. Als Gott die Menschen erschuf, gestaltete er die Männer als überlegenes Geschlecht und gewandete sie in Schwarz, die Frauen aber in Weiß »aus ganz hellem Batist«. Jedes kleinste Staubkörnchen darauf fällt ins Auge, so dass »Befleckte« (die sich außerehelich einem Mann hingaben) sogleich entdeckt und ausgestoßen werden. Ein Mann dagegen hat nichts zu verlieren außer seiner »Ehre«, und dies widerfährt ihm, wenn seine Frau ihm »Schande« bereitet.
Was bleibt den Frauen in einem so engen System, bedroht und mit ihren Ängsten alleingelassen, als im Aberglauben und bei den Geistern Schutz vor dem Bösen zu suchen? Wenn eine von ihnen einen Fehler begangen hat, schwach geworden ist, so schieben sie die Schuld daran auf den Zauber der »Dschinns«, Hausgeister, die Frauen »verhexen«.
In großen Zeitsprüngen und aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt »Ehre« den dramatischen Lebensweg der Zwillinge Pembe und Jamila und dabei auch von Eltern, Kindern, Verwandten und Bekannten, die den Verlauf beeinflussen. Der junge Adem zum Beispiel verguckt sich in Jamila, aber nachdem sie entführt wurde, blieb ihre Jungfernschaft ungeklärt, weswegen er sicherheitshalber lieber Pembe heiratet.
Die Wege der Schwestern trennen sich, so dass wir uns mal in Jamilas Hütte in einem Dorf an den Ufern des Euphrat befinden, mal bei Pembe in London. Jamila bleibt unverheiratet, arbeitet als Hebamme und Heilerin und ist ihren Mitmenschen ebenso hilfreich wie unheimlich. Pembe, die entwurzelte Kurdin, zieht in der britischen Weltstadt ihre drei Kinder Esma, Iskender und Yunus groß und lernt Armenviertel, Drogenmilieu, kommunistische Hausbesetzer und das Gefängnis kennen, wo ihr Sohn seine Haft verbüßt.
Als Mädchen schaute Pembe voller Zuversicht in die Zukunft, wollte in die Welt hinaus und strebte nach Höherem; jetzt lebt sie mit ihrer Familie in einer düsteren, siffigen Kellerwohnung – »zwar nicht genug Licht, aber jede Menge Feuchtigkeit«. In ihren verkommenen Quartieren bleiben die Immigranten unter sich, und in diesem muslimischen Mikrokosmos werden die Regeln ihrer Herkunftskultur viel extremer ausgelebt als in der türkischen Heimat. Wieder engen sie im Namen von Sitte und Anstand besonders die Frauen ein. Hier tragen mehr Frauen den »Hidschab« als in Istanbul; hier ist »Feminismus wie ein Schneemann in der Sahara. Man braucht ihn nicht.« Denn, so rühmen sich die Männer, »wir respektieren unsere Mütter, Schwestern und Ehefrauen.«
Wirklich glücklich werden die Zugewanderten nicht. Adem sucht sein Heil im Glücksspiel, verliebt sich in eine russische Striptänzerin, verlässt seine Familie. Pembe muss einen Job finden. Sie arbeitet als billige Haushaltshilfe bei reichen Eheleuten, deren Villa sie in Ordnung hält und die sie auf miese Weise ausnutzen. Wie viele andere Immigrantinnen muss sie erleben, dass sie nichts als Arbeitstiere sind, oft von Rassisten diffamiert, nie als Gast behandelt. »Die Briten waren immer höflich. Sie spuckten einem so zuvorkommend ins Gesicht, dass man fast damit rechnete, zusätzlich ein Taschentuch gereicht zu bekommen.« Am schlimmsten ist, dass Pembe ihre Kinder oft allein lassen muss. Was sie über Tag so treiben, mit wem sie Umgang haben, bekommt die Mutter nicht mit. Ein wenig Trost, Halt und Zuspruch findet sie bei einem älteren Herrn, mit dem sie sich ein paar Mal trifft.
Ohne platte Schuldzuweisungen oder moralische Verurteilung macht die Autorin deutlich, welch fatale Rolle das strenge Patriarchat in der islamischen Gesellschaft spielt und dass diejenigen, die darunter am meisten zu leiden haben, gleichzeitig seine Fortführung bewirken. Es sind die Frauen selber, die den traditionellen Ehrbegriff hochhalten und sich ihm unterwerfen, und es sind die Mütter, die ihre Söhne zu Patriarchen heranziehen. Auch Pembe liebt »ihren Sultan, ihren Löwen, ihren Augapfel« abgöttisch, verwöhnt ihn, lässt ihm alles durchgehen und betet für ihn.
Statt seines Vaters rückt Iskender an die Stelle des Familienoberhaupts. Damit ist er für die »Ehre« der Familie verantwortlich. Sein Onkel und ein muslimischer Prediger signalisieren ihm, dass diese gefährdet sei, denn die harmlosen Treffen seiner Mutter sind nicht unbemerkt geblieben und werden übereifrig als »Sünden« ausgelegt. In kaum misszuverstehenden Andeutungen reden die beiden Männer dem Jungen ein, dass er die »Schande« abwenden und die »Ehre« der Familie wiederherstellen müsse. Die Katastrophe ist unabwendbar ...
»Ehre« ist ein breit angelegtes Familienepos, das vier Jahrzehnte und zwei Welten umspannt. Im Mittelpunkt steht eine Entwurzelte, die in eine fremde Kultur verschlagen wird, in der sie heimatlos bleibt, die sie als verkehrt empfinden muss: Was in ihrer Heimat ein gewöhnliches Bauernessen ist (Couscous), wird hier als Spezialität gerühmt; was für sie zentrale Werte sind (Ehre, Schande), wird hier auf die leichte Schulter genommen. Aus Unverständnis, Gegensätzen und Konflikten resultiert das Unglück, das über die Familie kommt und weder durch die tief verwurzelte Liebe zwischen den Zwillingsschwestern noch durch ihre Opferbereitschaft aufgehalten werden kann.
»Ehre« ist ein sanfter, empathischer, anrührender Roman. Die phantastische Fabulierkunst der Autorin entführt uns in eine Märchenwelt voller Poesie aus Tausendundeiner Nacht (Adem sagte, »manche Liebe sei wie ein gleißender Stern, der den Menschen zuzwinkere und ihr Herz selbst in schlechten Zeiten mit Freude und Hoffnung erfülle«.). Dann wieder entwickeln Handlung und Dialoge einen unheimlichen, kraftvollen Sog, der jeden Leser aufwühlt und mitreißt. Viele der geschilderten Ereignisse nehmen einen drastischen Verlauf und lassen uns erschüttert zurück, wie etwa das Kapitel »Der Strick«, in dem Pembes ältester Schwester Hediye nach einem Fehltritt ein Seil serviert wird wie eine Mahlzeit, als wortlose Aufforderung, die Familie von ihrer schmachvollen Anwesenheit zu befreien.
»Ehre« erzählt von der Kraft der Grundsätze, Traditionen und Bräuche des Islam. Seine althergebrachten Werte und Weisheiten gelten wenig in einer individualistischen, an Freiheit, Flexibilität und Fortschritt orientierten westlichen Gesellschaft und können dort kaum nachvollzogen werden: »Je weniger ein Mann besaß, umso größer war der Wert seiner Ehre.« »Ein Mann, den man um seine Ehre gebracht hatte, war ein toter Mann.« Am Ende des Romans ist kein hoffnungsvoller Schimmer am Horizont zu sehen. Die beiden Welten bleiben unvereinbar.
Kein Wunder, dass die Bücher der Autorin Elif Shafak in der Türkei ein breites Lesepublikum finden, von Politik und Religionsvertretern jedoch scharf kritisiert werden.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Sommer 2014 aufgenommen.