
Der Kalte Krieg, frisch aufgebrüht
Sieben Männer sprechen Todesurteile über Menschen, die möglicherweise nie festgenommen oder verhört wurden, geschweige denn ein ordentliches Gerichtsverfahren erhielten; vielleicht kennt man nicht einmal ihr Aussehen. Ihre Exekution wird wahrscheinlich aus heiterem Himmel erfolgen – in Gestalt einer Explosion, ausgelöst von einer unbemannten Drohne, oder der Salve eines hocheffizienten Killerkommandos.
Der ›kurze Prozess‹ findet jeden Dienstag im Oval Office statt. (›Kurz‹ ist er freilich nur in menschenrechtlicher Dimension; zeitlich und organisatorisch kann er sich über Monate hinziehen.) Der US-Präsident, der Direktor der CIA, der Vier-Sterne-General, der das Joint Special Operations Command (JSOC) befehligt, und vier weitere Männer ähnlichen Kalibers überprüfen dann die aktuelle »Todesliste«, löschen Namen, fügen neue hinzu. Es geht um Feinde Amerikas, die ausgeschaltet werden sollen, ehe sie (weiteren) tödlichen Schaden anrichten können. Ihre Verurteilung förmlich der Justiz zu überlassen ist nicht erwünscht; der Rechtsweg wäre zu langwierig und unsicher, was das Ergebnis betrifft.
Im Frühjahr 2014 [sic!] wird der Spitzenplatz der Liste neu besetzt. Name und Gesicht des Mannes: unbekannt. Nur seine Stimme und seine übers Internet verbreiteten Hasspredigten identifizieren ihn. So erhält er die Bezeichnung »der Prediger«, und das muss genügen.
»Der Prediger. Identifizieren. Lokalisieren. Eliminieren.«, schreibt der Präsident auf ein Papier – fertig ist die EXORD, die »präsidentiale Exekutivorder«, die dann auf dem Schreibtisch »seines leitenden Menschenjägers« landet und die finale Automatik der »strafenden Gerechtigkeit Amerikas« in Bewegung setzt. So einfach geht das. Den erheblich komplexeren Rest regelt dann »der Spürhund«, ein Lieutenant Colonel des U.S. Marine Corps, von dem man nichts außer seinem Codenamen weiß.
Frederick Forsyths neuester Thriller »The Kill List« (übersetzt von Rainer Schmidt) ist, wie man dem Prolog entnehmen kann, an den realen Fall des islamistischen Extremisten Anwar al-Awlaki angelehnt. Man nimmt an, dass dieser Imam mit US-amerikanischer und jemenitischer Staatsbürgerschaft als Anwerber für al-Qaida tätig war, bis ihn im September 2011 eine US-amerikanische Drohne im Jemen liquidierte. Besiegt war die tödliche Bedrohung durch den Terror damit freilich nicht, wie wir wissen, und auch Forsyths Fiktion wird von der grausamen Realität überholt. Denn kurz nach dem Erscheinungstermin überfallen am 21. September 2013 Al-Shabaab-Milizen ein Einkaufszentrum in der kenianischen Hauptstadt Nairobi; mehrere hundert Menschen werden verletzt, 67 sterben.
Eben diese »Harakat al-Shabaab al-Mujahideen« spielen eine große Rolle in Forsyths Plot. (Manche leiten aus der Koinzidenz fiktionaler Darstellung und realer Ereignisse besondere Kompetenzen des Autors ab.) Die militante extremistische Bewegung stammt aus Somalia und wird von dortigen Piraten-Warlords finanziert. Zur ideologischen Aufpeitschung der Truppe, Rekrutierung neuer Mitglieder und religiösen Festigung der Selbstmord-Attentäter fühlen sich muslimische Hassprediger berufen, die einer ultraradikalen Auslegung des Korans folgend zum Morden im Namen Allahs aufrufen.
Damit »der Spürhund« den (fiktionalen) Prediger aufspüren kann, müssen Geheimdienste eingespannt und koordiniert werden. Was sie an hoch technisierten Überwachungssystemen auf Erden und im Himmel (Satelliten, Drohnen) aufzubieten haben, kennt der normal Sterbliche allenfalls aus Kino oder Fernsehen. Sicher hat Forsyth nicht nur, wie unsereiner, »Homeland« verfolgt, sondern durfte aus zuverlässigeren Quellen recherchieren. Jedenfalls profitieren seine Leser davon und erhalten beachtliche Einblicke in diese verborgene Welt.
Der britische Erfolgsautor entwickelt seine Handlung im gewohnt faktenorientierten, emotionsarmen Sprachstil. Zunächst lesen wir über Schul- und militärische Ausbildung des »Spürhunds«, dessen Werdegang bereits in der Familientradition verankert ist: Schon Großvater und Vater dienten als Offiziere der amerikanischen Streitkräfte ihrem Vaterland.
Dann folgen wir dem jungen U.S. Marine in den »War on Terrorism«. Forsyth hält sich an die Chronologie der historischen Ereignisse, die in den Anschlägen des 11. September 2001 gipfelten und Briten und Amerikaner ins Reich der Taliban führten. In Afghanistan ist der Offizier an der stillen Ausspähung Osama bin Ladens ebenso beteiligt wie beispielsweise an der »Operation Anaconda«, einer grauenhaften Schlacht, die US-Streitkräfte zusammen mit alliierten afghanischen Milizen und multinationalen Spezialeinheiten fochten, um al-Qaida- und Taliban-Einheiten zu vernichten. Forsyth schildert insbesondere, wie bei einem Einsatz mehrerer Chinook-Helikopter einer von einer raketengetriebenen gegnerischen Granate getroffen wird und ein US Navy Seal aus dem Hubschrauber rutscht. Packend gestaltet er, wie patriotische Männer anschließend in einer heroischen Aktion dem Kameraden zu Hilfe zu kommen und ihn aus der Mitte der al-Qaida-Kämpfer zu retten versuchen, was jedoch in einem Desaster endet.
Welch ungeheure Macht das Wort eines radikalen Predigers auszuüben vermag, erlebt der »Spürhund« hautnah. Sein Vater, ein General, gerät in ein Attentat, bei dem ein amerikanischer Senator umkommt. Der Täter, ein zweiundzwanzigjähriger Student einer technischen Hochschule in Michigan, war amerikanischer Staatsbürger. Bis sechs Monate zuvor war er niemandem aufgefallen, trug Jeans und Blouson wie alle anderen jungen Leute. Binnen kurzem aber veränderte sich sein Äußeres: Er ließ seinen Bart wachsen und hüllte sich in lange Gewänder. Von seinen Dozenten verlangte er Unterrichtspausen, damit er beten könne – fünf Mal am Tag. Nach dem Anschlag findet man in seiner Wohnung neben den Studienunterlagen nur islamische Texte in arabischer Sprache sowie Videos von furchteinflößenden Predigten auf Englisch: Ein maskiertes Gesicht, von dem nur Mund und glühende bernsteinfarbene Augen zu erkennen sind, fordern den Zuschauer in flammenden Worten auf, sich Allah vollständig zu unterwerfen, »Ihm zu dienen, für Ihn zu kämpfen, für Ihn zu sterben ... für Ihn zu töten«. Wer als »schahid«, als »Märtyrer« stirbt, dem öffnen sich die Pforten zu »Allahs Paradies«.
War der Auftrag für den »Spürhund«, diesen Prediger auszuschalten, bis hierhin ein Dienste an seinem Staate, so wird sie nach der schweren Verletzung seines Vaters zu einer persönlichen »Vendetta«, und konsequenterweise endet der Roman auch mit einem filmreifen Showdown von Mann zu Mann ...
Forsyths treue Leserschaft weiß, was sie erwartet; Erstleser sollten es wissen, ehe sie sich den Kampfthriller »Die Todesliste« kaufen.
Forsyth, der Erfolgsautor, beschränkt sich auf die mitreißende Gestaltung der unzweifelhaft höchst aufregenden Handlungsoberfläche, und dieses Handwerk beherrscht er perfekt. Spannende Recherchen, unheimliche Begegnungen in exotischem Ambiente, gefährliche Aktionen in feindlichem Gebiet und immer wieder neue Verwicklungen und Komplikationen werden jeden Leser faszinieren. Doch in dieser Welt gibt es nur zwei Farben: schwarz und weiß, verkörpert in den Kontrahenten »der Prediger« und »der Spürhund«. Der Gute hat die quasi heilige Pflicht, den Bösen auszuradieren, um das Böse auf Erden zurückzudrängen. Fragen, die dieses schlichte Weltbild möglicherweise ins Wanken bringen könnten, kommen nicht auf den Tisch. Dass die amerikanisch-britische Selbstgerechtigkeit im globalen Kampf gegen den Terror die Menschenrechte umschifft und als unvermeidlich hinnimmt, dass auch ein paar unschuldige Nachbarn umkommen, wenn sie per ferngesteuerter HiTech-Bombe ein »Terrornest« hochgehen lassen, ist hier kein Thema.
Forsyth, der Ex-Pilot der Royal Air Force, macht kein Hehl aus seiner Begeisterung für amerikanische Waffen-, Sicherheits- und Flugsysteme. So bewundernswert die Ingenieurleistungen dahinter auch sind, dürfen wir nicht vergessen, dass vor allem der Einsatz unbemannter Kampfdrohnen unseren Planeten in Kriege neuer Dimensionen und mit ungekannten moralischen Fragestellungen führt. Zwar haben UNO-Generalversammlung und UNO-Menschenrechtsrat im Jahr 2014 dazu Resolutionen gefasst, doch die USA haben sie nicht unterschrieben, und die NATO enthielt sich.
Forsyth, der ehemalige Kriegsberichterstatter, heroisiert die lebensgefährlichen Einsätze der Männer im Kampfgebiet, die durch personell, technisch und finanziell schier grenzenlos ausgestattete Geheimdienstorganisationen perfekt vorbereitet und selbst über Kontinente hinweg punktgenau unterstützt werden. Dass die Soldaten, wie man aus inzwischen wissenschaftlich zuverlässig aufgearbeiteten früheren Kriegen (beide Weltkriege, Vietnam, »Desert Storm«) weiß, dabei von Ängsten zerfressen und für den Rest ihres Lebens psychisch und physisch gezeichnet werden können, findet in Forsyths Universum keinen Platz.
Übrigens darf im ganzen Roman keine einzige handlungsrelevante Frau mitspielen. Auch in dieser Hinsicht war »Homeland« schon weiter.