Der Oltener als solcher
Die junge Grundschullehrerin hat eine große Chance vergeben. Die »Internationale Stellenvermittlung für Schweizer Lehrkräfte« bot ihr einen Job als Erzieherin zweier Kinder in New York an. Aber sie gab der alleinerziehenden Mutter – immerhin Humphrey Bogarts Witwe Lauren Bacall – einen Korb und belegte lieber einen Englischkurs in Oxford. Ob sie das je bereut hat? Sicher nicht, denn auf dem Weg nach Britannien lernte sie ihren späteren Ehemann kennen. Davon haben auch wir Heutige noch etwas, denn der gemeinsame Sohn, 1961 in der Normandie geboren, heißt Alex Capus und versorgt uns immer wieder mit so amüsanten wie geistreichen literarischen Reizen.
1966 zogen Mutter und Sohn in das Provinzstädtchen Olten im Kanton Solothurn an der Grenze zum Aargau, wo Capus noch heute – ein halbes Jahrhundert später also – seinen Wohnsitz hat. Aber ist er deshalb schon ein Oltener?
Natürlich nicht. Zwischen ihm und diesem wohl nur vererbbaren Ehrentitel liegen unüberwindliche Hindernisse. Schon seine Arbeit (genauer: »deine Schriftstellerei, die du als deine Arbeit bezeichnest«), dann seine fünf Buben (»Schon wieder ein Kind!« ... »Hast du eigentlich eine Fabrik zu Hause?«) und sein undezidierter Kleidungsstil (»einfach irgendwas«) machen ihn für Ur-Oltener zu einer Spezies besonderer Art. Selbst sein Vorname passt nicht recht: Sechs seiner Nachbarn legen die Messlatte; sie heißen alle Urs.
Aber gelitten ist er in diesem aufrechten Kreis im »helvetisch-gutbürgerlichen West End« von Olten schon. Am Abend trifft man sich auf dem Kiesplatz am Stadtrand, grillt, trinkt Bier, kippt dazu schwarz gebrannten Birnenschnaps und plaudert über Gott und die Welt. Was er dabei aufschnappte – wenn nicht Volkes, so doch sozusagen Urs' Stimme –, veröffentlichte Capus vermischt mit eigenen Essays zwischen 2011 und 2013 als wöchentliche Kolumne im »Stadtanzeiger Olten« unter dem Titel »Mein Nachbar Urs«. Der Hanser-Verlag hat jetzt siebzehn der Texte in einem Bändchen versammelt.
In weiser Voraussicht – man weiß ja, was von Zugezogenen zu erwarten ist – hat sich einer der sechs Urse schon im Vorfeld jegliche Berichterstattung über ihn verbeten. Da waren's nur noch fünf. Aber seine Skepsis gegenüber einem, der den Nachbarn aufs Maul schaut, eigene Ansichten dagegen hält und dann noch alles schwarz auf weiß veröffentlicht, ist begründet und gehört zu einem Oltener wie der Velohelm.
Der Oltener an sich strebt nach Perfektionismus und Risikominimierung (ach was: »Jedes Risiko ausschalten. Ausmerzen. Eliminieren«); daher trägt er atmungsaktive Mammutregenjacken, Schutzhelm und Handschuhe, wenn er auf seinem Velo mit doppelten Scheibenbremsen vorn und hinten unterwegs ist. Das »Lottervelo« des Schriftstellers dagegen baut mit seinen eher dekorativen Bremsen auf »Menschlichkeit und Gottvertrauen« und ist damit ebensowenig systemkonform wie die wuschelige Haartracht des Velozipedisten.
Auf political correctness und feine Differenzierung achtet im Urs-Kreis keiner. Da erörtert ein Urs, wie dem der ausbleibenden Sonneneinstrahlung auf die Haut geschuldeten Vitamin-D-Mangel muslimischer Burka-Trägerinnen abgeholfen werden könne (auch Nonnen sind betroffen); man räsonniert über Elektrovelos als »Auswuchs des Jugendlichkeitswahns« und Liegevelos, die nur von »kleinmütigen, besserwisserischen Pedanten« gefahren werden; ein anderer Urs zieht munter über chinesische Ein-Kind-Eltern her, die ihr »vergöttertes Elfenwesen« rund um die Uhr »begackern und begluckern«, was die Selbstmordrate unter chinesischen Lehrern in die Höhe treibt.
Gut ein Viertel der etwa siebzehntausend Einwohner des Verkehrsknotenpunktes sind Ausländer – Spanier, Jugoslawen, Italiener, Albaner, Türken, Griechen, Belgier, Holländer. Sie wohnen im East End und feiern im Bahnhofsviertel, wenn »das bürgerliche Alt-Olten jenseits der Aare seine Zipfelmütze überzieht und schlafen geht«, und sie sind immer wieder Gegenstand interessanter Kommentare und Analysen. Die Urssche Kernthese besagt, dass »die Ausländer« vor allem ihr gegenseitiger Hass verbinde. »Ausländerfeindliche Volksinitiativen hätten deutlich bessere Chancen, wenn die Ausländer Stimmrecht hätten.« Sie würden sich gegenseitig aus dem Land werfen und die Schweizer allein zurücklassen. Aber um »die Ausländerfeindlichkeit der Ausländer zu korrigieren«, sind die Schweizer »zum Glück« noch da. Sie verbieten nur das, was »nicht allzu sehr schadet«, beispielsweise Minarette, »die es eh kaum gibt«, und sagen, wenn's grundsätzlich xenophob wird, »doch immerhin knapp Nein«. »Das nennt man staatspolitische Reife.«
Egal über welches Thema sich Urs eins bis fünf mit ihrem Nachbarn auseinandersetzen: Für uns Zuhörer sind Überraschungen, angehaltener Atem und Schmunzeln garantiert. Capus gibt die Dialoge derart trocken und spitz pointiert wieder, dass es zum Lachen ist; der Ironieanteil bleibt freilich schwer messbar, denn auch Nicht-Urs Capus kann durchaus Urssche Töne anschlagen.
Der überwiegende Teil der kleinen Texte ist jedoch essayistischer Natur. Capus beackert Allerweltsthemen aus aller Welt, aber alle irgendwie mit Olten verbandelt. Darüber plaudert er vom Hölzchen bis zum Stöckchen, flicht Fakten und Episoden aus Politik, Handel und Wandel, seiner Familienhistorie inklusive Freizeit und weiten Reisen ein und beweist beeindruckende Belesenheit. Da verschlug es Oltener Bürger in die Ferne und in den Krieg, es gab einen liebenswerten Großvater in Frankreich und eine persönliche Begegnung des Autors mit Prinz Charles und unzählige andere kurzweilige Geschichten, die manchem Urs missfallen könnten, von den anderen aber mit Humor genossen werden.
Charme und stilsichere Süffisanz machen die Lektüre zum amüsanten Genuss; wir staunen und lächeln. Capus ist unkonventionell, manchmal frech, kein Weltverbesserer, aber ein sympathischer, gebildeter und wohlwollender Verfechter von Freiheit und gesundem Menschenverstand; einer, der sich eher schmunzelnd zurücknimmt als auf den Tisch haut.
Rote Fußgängerampeln beispielsweise ignoriert er gern, wenn weit und breit kein Auto in Sicht ist. Damit, kritisieren die Ursen, gebe er Kindern ein schlechtes Vorbild. Dem Ideal des »gesetzestreuen Citoyen« hält Capus entgegen, dass Kinder »zu mündigen, selbstverantwortlichen Bürgern« würden, wenn sie lernen, sich »einen eigenen Überblick über die tatsächliche Bedrohungslage zu verschaffen«. Und wie gewohnt erweitert sich der Urs-Diskurs ins Lustig-Abstruse, vor allem beim Blick über den Zaun: Überall leben die Menschen noch, obwohl sie Ampelrot missachten (Frankreich) oder es gar keine funktionierenden Ampeln gibt (Italien). »Umerziehung« aber gebe es nur in China und der Schweiz (und auf gewisse Weise in Deutschland, wo der Autofahrer Vollgas gebe, wenn ein Fußgänger bei Rot die Straße überquert).