Rezension zu »Alles ist möglich« von Elizabeth Strout

Alles ist möglich

von


Neun personell und thematisch verwobene, einfühlsame Erzählungen zeichnen die trostlosen Porträts von Bewohnern einer abgehängten Region, die von vielen Missständen geprägt ist und keine Perspektiven bietet.
Belletristik · Luchterhand · · 256 S. · ISBN 9783630875286
Sprache: de · Herkunft: us

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Tristesse in Midwest USA

Rezension vom 10.01.2019 · 12 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Amgash, Illinois, ist eine fiktive Kleinstadt im Mittleren Westen der USA, wie es in der Realität viele gibt. Das Land­schafts­bild ist ein­schlä­fernd monoton. Soweit das Auge reicht, erstrecken sich gigantische Mais- und Soja­bohnen­felder, aus denen hier und da ein paar Windräder hervor­stechen. Wer hierher geboren wurde, muss viel Kraft aufbringen, um dem Einerlei zu entrinnen. Wer sie nicht hat, muss sich mit der Ödnis und manchem Übel abfinden.

Den Menschen von Amgash widmet sich Elizabeth Strout wie eine feinfühlige Analyti­kerin. In neun Erzählungen durch­leuchtet sie den Seelenzu­stand mehrerer Personen und findet keinen intakt. Jeder hier hat sein Päckchen zu tragen, und die Belastungen, Makel und Wunden umfassen die ganze Bandbreite des Vorstell­baren. Manches Schicksal ist selbst verschuldet, viele aber wurden bereits mit dem Eintritt ins Leben aufgeladen. Wer hier in eine Unter­schicht­familie geboren wurde, hat weniger Chancen auf Aufstieg, Glück und eine erfüllende Partner­schaft als anderswo.

Die neun Kapitel sind durch den Schauplatz und mehrere Personen miteinander zu einem Romanganzen verflochten, wobei jeweils eine andere im Mittelpunkt steht. Die wichtigste ist Lucy Barton, in gewisser Weise der Zentral­charak­ter – und doch weitgehend rätselhaft. Als handelnde Figur ist sie selten präsent; ihr Wesen erschließt sich uns bis zum Schluss aus dem, was die vielen anderen Personen – Nachbarn und Mitschüler aus alten Zeiten ebenso wie Leute, die sie nur vom Hörensagen oder aus den Medien kennen – mit den ver­schiedens­ten Intentionen über sie erzählen, berichten, tratschen, vermuten, lügen.

Im Eingangsstück (»Das Zeichen«) werden ihr tristes familiäres Milieu und ihre schwere Jugend vorgestellt, so wie der Hausmeister ihrer Schule sie aufspürt. Doch eigentlich geht es darin um das Schicksal dieses alten Mannes, der auf siebzig Jahre zurück­blickt. Aus Unacht­sam­keit verlor er in der Mitte seines Lebens durch ein grausames Feuer sein gesamtes Hab und Gut, einen vom Vater geerbten gut gehenden Milch­betrieb. Er bezieht ein kleines Haus in Amgash und findet eine Anstellung als Hausmeister der Schule. Über drei Jahrzehnte sieht er nun die Kinder kommen und gehen und schnappt ihre Gespräche auf. So erfährt er, was in dem Städtchen vor sich geht, »von betrunkenen Müttern, fremd­gehen­den Vätern« und schwangeren Schüle­rinnen. Ein Mädchen sticht für ihn aus der Durch­schnitts­meute heraus. Während sich selbst die Lehrer von dem verlausten »Gesocks« der bitterarmen Familie Barton fernhalten, kümmert er sich um Lucy, gibt ihr zu essen, tröstet sie, baut sie auf. Sie schafft es schließlich aufs College, geht nach New York und wird eine berühmte Schrift­stelle­rin – die einzige American-Dream-Karriere, die Amgash je gesehen hat.

Nur in »Schwester« steht Lucy selbst mit im Zentrum der Handlung. Soeben hat sie einen auto­biografi­schen Roman über ihre Kindheit ver­öffent­licht und stellt ihn bei Lesungen quer durch die Staaten vor. Sie habe darin, so schreibt eine empathische Leserin aus Amgash, die Klein­stadt­seele, das trostlose Lebens­gefühl, die Ent­täuschun­gen, die Scham über Armut, Missbrauch und Herz­losig­keit ihrer Herkunft wahrhaftig eingefangen. »Lucy Barton wusste, was Scham hieß … Sie hatte diese Scham hinter sich gelassen.«

Spontan macht Lucy einen Abstecher nach Amgash, um siebzehn Jahre nach ihrem Ausbruch ihre Geschwister Pete und Vicky wiederzu­sehen. Der Heimat­besuch wird zum Desaster. Lucy muss feststellen, dass sich seither nichts an ihren Lebens­umstän­den verändert hat und Bruder und Schwester ihr deren Ver­öffent­lichung verübeln. Ihre Welten sind unvereinbar geworden, und Lucy flieht erneut.

Die Pulitzerpreisträgerin Elizabeth Strout verwebt in »Anything Is Possible« Elizabeth Strout: »Anything Is Possible« bei Amazon (übersetzt von Sabine Roth) die unter­schied­lichs­ten Schicksale und familiären Dramen im Mikrokosmos ihrer fiktionalen Kleinstadt miteinander zu einem fein verästelten, filigranen Nerven­gewebe. Jede einzelne Episode wirft diverse Schlag­lich­ter auf Schick­salsmo­mente, mal zurück in die Vorge­schichte einer Person, mal auf ihre aktuelle Lebens­situa­tion, mal auf andere Figuren, deren Erlebnisse, Emp­findun­gen, Ansichten und Gedanken dann in einer eigenen Erzählung vorgestellt werden.

Der Romantitel »Alles ist möglich« erweist sich in seiner Mehr­deutig­keit als Täuschung wie die Verheißung des ame­rikani­schen Traums von Glück und Erfolg. Er suggeriert dem Optimisten, dass jeder Mensch mit gleichen Chancen ins Leben aufbreche. Der Roman widerlegt dies allerdings und dreht die Aussicht zynisch ins Gegenteil: Zum Schlechten hin sind keine Grenzen gesetzt. Die meisten Figuren ziehen mit ihrem schwerem Gepäck die Waagschale nach unten, und dort gibt es kein Fangnetz. Nur wenige können auf ihrem Weg etwas beschei­denes Glück einsammeln, das aber vom fragilen Schicksal stets wieder einkassiert werden kann.

Ein vielschichtiges, berührendes, nachdenklich stimmendes, sprachlich dichtes Buch.


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