Alles ist möglich
von Elizabeth Strout
Neun personell und thematisch verwobene, einfühlsame Erzählungen zeichnen die trostlosen Porträts von Bewohnern einer abgehängten Region, die von vielen Missständen geprägt ist und keine Perspektiven bietet.
Tristesse in Midwest USA
Amgash, Illinois, ist eine fiktive Kleinstadt im Mittleren Westen der USA, wie es in der Realität viele gibt. Das Landschaftsbild ist einschläfernd monoton. Soweit das Auge reicht, erstrecken sich gigantische Mais- und Sojabohnenfelder, aus denen hier und da ein paar Windräder hervorstechen. Wer hierher geboren wurde, muss viel Kraft aufbringen, um dem Einerlei zu entrinnen. Wer sie nicht hat, muss sich mit der Ödnis und manchem Übel abfinden.
Den Menschen von Amgash widmet sich Elizabeth Strout wie eine feinfühlige Analytikerin. In neun Erzählungen durchleuchtet sie den Seelenzustand mehrerer Personen und findet keinen intakt. Jeder hier hat sein Päckchen zu tragen, und die Belastungen, Makel und Wunden umfassen die ganze Bandbreite des Vorstellbaren. Manches Schicksal ist selbst verschuldet, viele aber wurden bereits mit dem Eintritt ins Leben aufgeladen. Wer hier in eine Unterschichtfamilie geboren wurde, hat weniger Chancen auf Aufstieg, Glück und eine erfüllende Partnerschaft als anderswo.
Die neun Kapitel sind durch den Schauplatz und mehrere Personen miteinander zu einem Romanganzen verflochten, wobei jeweils eine andere im Mittelpunkt steht. Die wichtigste ist Lucy Barton, in gewisser Weise der Zentralcharakter – und doch weitgehend rätselhaft. Als handelnde Figur ist sie selten präsent; ihr Wesen erschließt sich uns bis zum Schluss aus dem, was die vielen anderen Personen – Nachbarn und Mitschüler aus alten Zeiten ebenso wie Leute, die sie nur vom Hörensagen oder aus den Medien kennen – mit den verschiedensten Intentionen über sie erzählen, berichten, tratschen, vermuten, lügen.
Im Eingangsstück (»Das Zeichen«) werden ihr tristes familiäres Milieu und ihre schwere Jugend vorgestellt, so wie der Hausmeister ihrer Schule sie aufspürt. Doch eigentlich geht es darin um das Schicksal dieses alten Mannes, der auf siebzig Jahre zurückblickt. Aus Unachtsamkeit verlor er in der Mitte seines Lebens durch ein grausames Feuer sein gesamtes Hab und Gut, einen vom Vater geerbten gut gehenden Milchbetrieb. Er bezieht ein kleines Haus in Amgash und findet eine Anstellung als Hausmeister der Schule. Über drei Jahrzehnte sieht er nun die Kinder kommen und gehen und schnappt ihre Gespräche auf. So erfährt er, was in dem Städtchen vor sich geht, »von betrunkenen Müttern, fremdgehenden Vätern« und schwangeren Schülerinnen. Ein Mädchen sticht für ihn aus der Durchschnittsmeute heraus. Während sich selbst die Lehrer von dem verlausten »Gesocks« der bitterarmen Familie Barton fernhalten, kümmert er sich um Lucy, gibt ihr zu essen, tröstet sie, baut sie auf. Sie schafft es schließlich aufs College, geht nach New York und wird eine berühmte Schriftstellerin – die einzige American-Dream-Karriere, die Amgash je gesehen hat.
Nur in »Schwester« steht Lucy selbst mit im Zentrum der Handlung. Soeben hat sie einen autobiografischen Roman über ihre Kindheit veröffentlicht und stellt ihn bei Lesungen quer durch die Staaten vor. Sie habe darin, so schreibt eine empathische Leserin aus Amgash, die Kleinstadtseele, das trostlose Lebensgefühl, die Enttäuschungen, die Scham über Armut, Missbrauch und Herzlosigkeit ihrer Herkunft wahrhaftig eingefangen. »Lucy Barton wusste, was Scham hieß … Sie hatte diese Scham hinter sich gelassen.«
Spontan macht Lucy einen Abstecher nach Amgash, um siebzehn Jahre nach ihrem Ausbruch ihre Geschwister Pete und Vicky wiederzusehen. Der Heimatbesuch wird zum Desaster. Lucy muss feststellen, dass sich seither nichts an ihren Lebensumständen verändert hat und Bruder und Schwester ihr deren Veröffentlichung verübeln. Ihre Welten sind unvereinbar geworden, und Lucy flieht erneut.
Die Pulitzerpreisträgerin Elizabeth Strout verwebt in »Anything Is Possible« (übersetzt von Sabine Roth) die unterschiedlichsten Schicksale und familiären Dramen im Mikrokosmos ihrer fiktionalen Kleinstadt miteinander zu einem fein verästelten, filigranen Nervengewebe. Jede einzelne Episode wirft diverse Schlaglichter auf Schicksalsmomente, mal zurück in die Vorgeschichte einer Person, mal auf ihre aktuelle Lebenssituation, mal auf andere Figuren, deren Erlebnisse, Empfindungen, Ansichten und Gedanken dann in einer eigenen Erzählung vorgestellt werden.
Der Romantitel »Alles ist möglich« erweist sich in seiner Mehrdeutigkeit als Täuschung wie die Verheißung des amerikanischen Traums von Glück und Erfolg. Er suggeriert dem Optimisten, dass jeder Mensch mit gleichen Chancen ins Leben aufbreche. Der Roman widerlegt dies allerdings und dreht die Aussicht zynisch ins Gegenteil: Zum Schlechten hin sind keine Grenzen gesetzt. Die meisten Figuren ziehen mit ihrem schwerem Gepäck die Waagschale nach unten, und dort gibt es kein Fangnetz. Nur wenige können auf ihrem Weg etwas bescheidenes Glück einsammeln, das aber vom fragilen Schicksal stets wieder einkassiert werden kann.
Ein vielschichtiges, berührendes, nachdenklich stimmendes, sprachlich dichtes Buch.