Rezension zu »Der Zorn der Einsiedlerin« von Fred Vargas

Der Zorn der Einsiedlerin

von


Können Spinnenbisse Menschen töten? Angesichts dreier Todesfälle muss sich Jean-Baptiste Adamsberg mit seinem Team dieser Frage widmen und begibt sich auf eine weite Reise in die Welten der Ängste, der Mythen, des Mittelalters.
Kriminalroman · Limes · · 507 S. · ISBN 9783809026938
Sprache: de · Herkunft: fr

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Magellan mit Spinnen im Nebel

Rezension vom 07.01.2019 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Dem einen gefällt’s, dem anderen weniger – wofür gälte das nicht? Aber die Art, wie Frédérique Audoin-Rouzeau ihre Kriminal­romane anlegt, polarisiert gründlich. Die Autorin mit dem Künstler­namen Fred Vargas will nicht einfach einen Plot um ein Verbrechen entwickeln, sondern ein viel­schich­tiges Kunstwerk gestalten, in dem sie neben den Früchten ihrer blühenden Vorstel­lungs­kraft auch ihr reiches Wissen als studierte Histori­kerin, Mittel­alter­archäo­login und Archäo­zoolo­gin unterbringt. An ihrem markanten Stil scheiden sich die Meinungen der Leser. Die einen – darunter Jury­mitglie­der vieler Literatur­preise – schätzen genau diese überbor­dende Fantasie, je anregender, frappie­render und poetischer, desto besser. Die anderen klappen das Buch zu, weil sie sich auf der Suche nach Spannung fragen, was all die geistigen Exkursionen zu Mythen und Legenden, in die Geschichte und die Wissen­schaften mit der Lösung eines Falls zu schaffen haben sollen, und schier verzweifeln an ausufernden Hand­lungs­arabes­ken, in denen Eingebungen und Zufälle eine größere Rolle spielen als die reine Vernunft.

Voilà, hier ist nun auch für deutschsprachige Leserinnen und Leser die neueste création von Fred Vargas, »Quand sort la recluse« Fred Vargas: »Quand sort la recluse« bei Amazon, die Waltraud Schwarze übersetzt hat. Es geht darin um ein wahres Spinnennetz von außer­gewöhn­lichen Todesfällen, denen sich die Brigade criminelle des 13. Pariser Arron­disse­ments widmen muss. Aber oh je, was sind das für Käuze! Ihr Chef ist Jean-Baptiste Adamsberg, ein wortkarger Nicht­raucher, der seinem Sohn gelegent­lich eine Packung kauft, damit er sich eine Zigarette borgen kann, und der zwei Armband­uhren trägt, von denen keine geht. Seine Mitarbeiter sind nicht minder skurrile, mit Sonder­barkei­ten behaftete Wesen: Commandant Adrien Danglard, sein Stellver­treter, verfügt über ein eidetisches Gedächtnis, ein anderer ist Dyslektiker und kaum des Schreibens mächtig, einer leidet an Hypersomnie und schläft alle drei Stunden ein, und Lieutenant Voisenet frönt seiner heimlichen Leiden­schaft, der Ichthyo­logie, auch im Büro, wo er schon mal eine verstorbene Muräne im Gefrier­beutel unter seinem Schreib­tisch­stuhl lagert – länger als erträglich.

Ohne Adamsbergs Genius ist die Truppe selbst bei schlich­testen Mordfällen überfordert. Deswegen muss er eine kurze Auszeit auf einer isländi­schen Insel vorzeitig abbrechen, als daheim ein dicker SUV die aus­gespro­chen hübsche Laure Carvin, 37, überrollt. War’s der Ehemann oder der Geliebte? Für Adamsberg ein Klacks. Ebenso mühelos fällt ihm zu, wo Voisenet im Internet unterwegs ist. Offenkundig forscht er seit Wochen über Spinnen und deren Gifte. Denn an drei Orten sind alte Männer am Biss einer Braunen Ein­siedler­spinne (Loxosceles reclusa) gestorben. Adamsberg packt das Thema wie der Stich einer Tarantel. Er wittert eine Mordtat. Seine Kollegen belächeln nur müde, was sein Bauchgefühl ihm mitteilt, und der arrogante Danglard, Wikipedia auf zwei Beinen, verweigert ihm aus Protest jede Unter­stützung. Nichts spreche dafür, dass ein einziges Spinnlein einem Menschen den Garaus machen könne, und so sei dies kein Fall für die Kriminal­polizei.

Doch Ratio und Logik sind nicht Adamsbergs Werkzeuge. Trotzig hängt er seiner spinnerten Theorie bewusst geplanter Morde mittels acht­beiniger Auftrags­killer alleine nach. Dabei stößt er auf eine Horrorstory aus den Vierziger­jahren. In einem Waisenhaus terrori­sierte eine Jungen­gruppe – die »Einsiedler­spinnen­bande« – die Mitbewohner. Mädchen wurden geschändet, Jungen mit Spinnen­bissen derart malträtiert, dass entzündete Körperteile amputiert werden mussten. Warum sollten die Opfer jetzt nicht subtile Rache nehmen an ihren damaligen Quäl­geistern?

Kaum ist Adamsberg auf der vermeintlich richtigen Spur angelangt, bremst ihn seine Schöpferin aus. Denn die wenigen noch lebenden Opfer erweisen sich als unschuldig. Folglich muss der Mann sich neu orientieren, und das gelingt seinem Hirn nun einmal am besten in dichtem Nebel. So weit, so gut ist die Handlung bisher plausibel und fesselnd gediehen. Eine gute Volte in eine andere Ermittlungs­richtung birgt schließlich immer das Potenzial für Veränderung, Unerwar­tetes, erneuerte Spannung.

Doch dann folgen gut zweihundert Seiten voller abstruser Gasblasen, die durch Adamsbergs Gehirn­windun­gen geistern. Der Chef­ermittler selbst vergleicht seine unermüd­liche Spurensuche mit den Irrfahrten Magellans, des portugie­sischen Welter­kunders, der nicht aufgab, bis er die Passage vom Atlantik in den Pazifik gefunden hatte. Wie die südame­rikani­schen Winde die Nussschale des Seefahrers wirft die Autorin uns Leser durch tobende Gewässer, bis der Kapitän, wenn man es kaum mehr für möglich hält, das knarrende Schiff erfolgreich durch die Meerenge steuert und einen sicheren Hafen erreicht.

Während der langen Reise durchqueren wir finstere Wälder des Mittel­alters, begegnen Reklusen (frommen Einsied­lerinnen, die sich einmauern ließen, um nur auf Gott konzentriert zu sein) und »unreinen«, mit Makeln behafteten Frauen (wie unehelich oder behindert Geborene oder Opfer von Gewalttaten), die aus der Gemein­schaft ausge­schlos­sen waren. Weggesperrt in engen Verschlägen oder dunklen Erdlöchern sollten sie Buße tun für ihre Sünden, bis der Tod den mittler­weile dem Wahnsinn Verfallenen Erlösung brachte. Wir erfahren Bedrü­ckendes wie die Geschichte zweier Mädchen, deren Vater sie jahrelang auf dem Dachboden gefangen hält, an fremde Männer vermietet und selbst verge­waltigt. Und natürlich leiden wir mit Arachno­phobi­kern. Leiden muss auch der empfindsame Ermittler Adamsberg, den eigene trauma­tische Kindheits­erinnerun­gen einholen.

Fred Vargas’ neues Opus – Adamsbergs elfter Fall – bietet bei geruhsam fortschrei­tender Krimi­handlung fünfhundert Seiten guter Unter­haltung, wenn man denn Freude hat an all den skurrilen bis abwegigen Einfällen dieser Autorin und ihrer surrealen, geradezu märchen­haften Welt. Action ist ihr fremd, ihre Stärke sind die amüsanten Wortge­plänkel, ob tiefsinnig, intellek­tuell oder schräg, eine dichte, stimmige Atmosphäre, interes­sante Themen (wie die Spinnen­kunde und die historische Unter­drü­ckung der Frauen). Dazu erzählt sie in den Haupt- und Neben­strängen höchst spannende Geschichten und führt sie am Ende zu einer logisch überzeu­genden Lösung. Wer mitraten will, tut gut daran, selbst kleinste Details zu Protokoll zu nehmen, und wird am Ende mit ganz unerwar­teten Aha-Effekten belohnt.


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