Der Zorn der Einsiedlerin
von Fred Vargas
Können Spinnenbisse Menschen töten? Angesichts dreier Todesfälle muss sich Jean-Baptiste Adamsberg mit seinem Team dieser Frage widmen und begibt sich auf eine weite Reise in die Welten der Ängste, der Mythen, des Mittelalters.
Magellan mit Spinnen im Nebel
Dem einen gefällt’s, dem anderen weniger – wofür gälte das nicht? Aber die Art, wie Frédérique Audoin-Rouzeau ihre Kriminalromane anlegt, polarisiert gründlich. Die Autorin mit dem Künstlernamen Fred Vargas will nicht einfach einen Plot um ein Verbrechen entwickeln, sondern ein vielschichtiges Kunstwerk gestalten, in dem sie neben den Früchten ihrer blühenden Vorstellungskraft auch ihr reiches Wissen als studierte Historikerin, Mittelalterarchäologin und Archäozoologin unterbringt. An ihrem markanten Stil scheiden sich die Meinungen der Leser. Die einen – darunter Jurymitglieder vieler Literaturpreise – schätzen genau diese überbordende Fantasie, je anregender, frappierender und poetischer, desto besser. Die anderen klappen das Buch zu, weil sie sich auf der Suche nach Spannung fragen, was all die geistigen Exkursionen zu Mythen und Legenden, in die Geschichte und die Wissenschaften mit der Lösung eines Falls zu schaffen haben sollen, und schier verzweifeln an ausufernden Handlungsarabesken, in denen Eingebungen und Zufälle eine größere Rolle spielen als die reine Vernunft.
Voilà, hier ist nun auch für deutschsprachige Leserinnen und Leser die neueste création von Fred Vargas, »Quand sort la recluse« , die Waltraud Schwarze übersetzt hat. Es geht darin um ein wahres Spinnennetz von außergewöhnlichen Todesfällen, denen sich die Brigade criminelle des 13. Pariser Arrondissements widmen muss. Aber oh je, was sind das für Käuze! Ihr Chef ist Jean-Baptiste Adamsberg, ein wortkarger Nichtraucher, der seinem Sohn gelegentlich eine Packung kauft, damit er sich eine Zigarette borgen kann, und der zwei Armbanduhren trägt, von denen keine geht. Seine Mitarbeiter sind nicht minder skurrile, mit Sonderbarkeiten behaftete Wesen: Commandant Adrien Danglard, sein Stellvertreter, verfügt über ein eidetisches Gedächtnis, ein anderer ist Dyslektiker und kaum des Schreibens mächtig, einer leidet an Hypersomnie und schläft alle drei Stunden ein, und Lieutenant Voisenet frönt seiner heimlichen Leidenschaft, der Ichthyologie, auch im Büro, wo er schon mal eine verstorbene Muräne im Gefrierbeutel unter seinem Schreibtischstuhl lagert – länger als erträglich.
Ohne Adamsbergs Genius ist die Truppe selbst bei schlichtesten Mordfällen überfordert. Deswegen muss er eine kurze Auszeit auf einer isländischen Insel vorzeitig abbrechen, als daheim ein dicker SUV die ausgesprochen hübsche Laure Carvin, 37, überrollt. War’s der Ehemann oder der Geliebte? Für Adamsberg ein Klacks. Ebenso mühelos fällt ihm zu, wo Voisenet im Internet unterwegs ist. Offenkundig forscht er seit Wochen über Spinnen und deren Gifte. Denn an drei Orten sind alte Männer am Biss einer Braunen Einsiedlerspinne (Loxosceles reclusa) gestorben. Adamsberg packt das Thema wie der Stich einer Tarantel. Er wittert eine Mordtat. Seine Kollegen belächeln nur müde, was sein Bauchgefühl ihm mitteilt, und der arrogante Danglard, Wikipedia auf zwei Beinen, verweigert ihm aus Protest jede Unterstützung. Nichts spreche dafür, dass ein einziges Spinnlein einem Menschen den Garaus machen könne, und so sei dies kein Fall für die Kriminalpolizei.
Doch Ratio und Logik sind nicht Adamsbergs Werkzeuge. Trotzig hängt er seiner spinnerten Theorie bewusst geplanter Morde mittels achtbeiniger Auftragskiller alleine nach. Dabei stößt er auf eine Horrorstory aus den Vierzigerjahren. In einem Waisenhaus terrorisierte eine Jungengruppe – die »Einsiedlerspinnenbande« – die Mitbewohner. Mädchen wurden geschändet, Jungen mit Spinnenbissen derart malträtiert, dass entzündete Körperteile amputiert werden mussten. Warum sollten die Opfer jetzt nicht subtile Rache nehmen an ihren damaligen Quälgeistern?
Kaum ist Adamsberg auf der vermeintlich richtigen Spur angelangt, bremst ihn seine Schöpferin aus. Denn die wenigen noch lebenden Opfer erweisen sich als unschuldig. Folglich muss der Mann sich neu orientieren, und das gelingt seinem Hirn nun einmal am besten in dichtem Nebel. So weit, so gut ist die Handlung bisher plausibel und fesselnd gediehen. Eine gute Volte in eine andere Ermittlungsrichtung birgt schließlich immer das Potenzial für Veränderung, Unerwartetes, erneuerte Spannung.
Doch dann folgen gut zweihundert Seiten voller abstruser Gasblasen, die durch Adamsbergs Gehirnwindungen geistern. Der Chefermittler selbst vergleicht seine unermüdliche Spurensuche mit den Irrfahrten Magellans, des portugiesischen Welterkunders, der nicht aufgab, bis er die Passage vom Atlantik in den Pazifik gefunden hatte. Wie die südamerikanischen Winde die Nussschale des Seefahrers wirft die Autorin uns Leser durch tobende Gewässer, bis der Kapitän, wenn man es kaum mehr für möglich hält, das knarrende Schiff erfolgreich durch die Meerenge steuert und einen sicheren Hafen erreicht.
Während der langen Reise durchqueren wir finstere Wälder des Mittelalters, begegnen Reklusen (frommen Einsiedlerinnen, die sich einmauern ließen, um nur auf Gott konzentriert zu sein) und »unreinen«, mit Makeln behafteten Frauen (wie unehelich oder behindert Geborene oder Opfer von Gewalttaten), die aus der Gemeinschaft ausgeschlossen waren. Weggesperrt in engen Verschlägen oder dunklen Erdlöchern sollten sie Buße tun für ihre Sünden, bis der Tod den mittlerweile dem Wahnsinn Verfallenen Erlösung brachte. Wir erfahren Bedrückendes wie die Geschichte zweier Mädchen, deren Vater sie jahrelang auf dem Dachboden gefangen hält, an fremde Männer vermietet und selbst vergewaltigt. Und natürlich leiden wir mit Arachnophobikern. Leiden muss auch der empfindsame Ermittler Adamsberg, den eigene traumatische Kindheitserinnerungen einholen.
Fred Vargas’ neues Opus – Adamsbergs elfter Fall – bietet bei geruhsam fortschreitender Krimihandlung fünfhundert Seiten guter Unterhaltung, wenn man denn Freude hat an all den skurrilen bis abwegigen Einfällen dieser Autorin und ihrer surrealen, geradezu märchenhaften Welt. Action ist ihr fremd, ihre Stärke sind die amüsanten Wortgeplänkel, ob tiefsinnig, intellektuell oder schräg, eine dichte, stimmige Atmosphäre, interessante Themen (wie die Spinnenkunde und die historische Unterdrückung der Frauen). Dazu erzählt sie in den Haupt- und Nebensträngen höchst spannende Geschichten und führt sie am Ende zu einer logisch überzeugenden Lösung. Wer mitraten will, tut gut daran, selbst kleinste Details zu Protokoll zu nehmen, und wird am Ende mit ganz unerwarteten Aha-Effekten belohnt.