Heilige und andere Tote
von Jess Kidd
Als Sozialbetreuerin Maud ihre neue Stelle bei einem verwahrlosten Witwer antritt, trifft sie auf ein Ensemble außergewöhnlicher Figuren aus dem Diesseits und dem Jenseits, der Realität und der Spiritualität, dem Reich der Lebenden und der Toten, christlichen Märtyrertums und weltlichen Verbrechens.
Sozialhilfe für Greise und Geister
Drei Tage hielt Sam Hebden durch, dann floh er aus Bridlemere. Der Hausherr half nach, indem er den Mann mit einem Hurling-Schläger vom Grundstück scheuchte. Maud Drennan, vom Sozialdienst als Nachfolgerin entsandt, weiß das, lässt sich aber nicht so schnell entmutigen.
Was sie in der viktorianischen Villa vorfindet, macht sie allerdings sprachlos: ein unbeschreiblich versiffter Messie-Haushalt, bevölkert von Asseln, Spinnen und einer Horde namenloser Katzen inklusive deren allgegenwärtiger Notdurft. In der vermüllten Küche illustriert eine »zusammengerollte tote Maus in einer Teetasse« den morbiden Charme des Anwesens. Der Privatbereich des Eigentümers befindet sich hinter einer unüberwindbaren Großen Mauer von aufgestapelten Zeitschriften, und ein unübersehbarer Zettel warnt zudringliche Fremde, dass der Zutritt untersagt ist. Wer dahinter residiert, das hat Maud aus dem Betreuungsplan des Sozialdienstes entnommen: »Mr Cathal Flood, Künstler im Ruhestand, Maschinenbauingenieur und Kuriositätenhändler«.
Seit seine geliebte Frau Mary vor einem Vierteljahrhundert bei einem Unfall zu Tode kam, hat Mr Flood, inzwischen 80, sich und sein Haus dem natürlichen Verfall überlassen. Als Maud zu ihm in sein Horrorkabinett vordringt, wallt ihr die geballte Ladung seines Unwillens entgegen, denn dass hier jemand ausmisten wolle, ist in seinen Augen nicht nur ein völlig unnötiges Unterfangen, sondern vor allem eine inakzeptable Zumutung. Doch seine Beleidigungen und Flüche können Maud, um die dreißig Jahre jung und mit einem sonnigen Gemüt gesegnet, nichts anhaben.
Nach einer Woche ist das Eis zwischen den beiden ein bisschen angetaut. Mr Flood hat Maud zum Beispiel von seiner verstorbenen Schwester Ruth berichtet, die nach einem Wespenangriff schwermütig wurde und mit den Toten redete. Überhaupt stößt sie auf seltsame Anzeichen, dass sich in diesem feindseligen Haus schreckliche Ereignisse zugetragen haben müssen und die Familie etliche »Leichen im Keller« haben mag. Dass der Hausherr etwa über den Unfalltod seiner geliebten Frau Mary rein gar nichts preisgibt, interpretiert Maud als Vertuschung eines Verbrechens.
Bald taucht in der prekären Zweisamkeit Dr. Gabriel Flood auf, der Sohn des streitbaren Griesgrams. Obwohl seit Jahren offene Feindschaft zwischen beiden herrscht, hat er seinem Vater wohlwollend Wohnrecht bei bestmöglicher Betreuung in Bridlemere zuerkannt, bis eine Unterbringung im Seniorenheim unumgänglich wird. Doch Maud fragt sich, ob Gabriels wahres Ansinnen nicht dahin zielt, den Alten schnellstmöglich abzuschieben.
Muss Maud an ihrem neuen Arbeitsplatz nicht sogar um ihre eigene Sicherheit fürchten? Einmal flüchtet sie auf die Toilette und erlebt selbst dort Unwirkliches. Aus dem Spülkasten hört sie ein Ächzen, das Klopapier entrollt sich, die Wandlampen leuchten kurz auf, der Deckel des Spülkastens öffnet sich, Wasserfontänen ergießen sich in den Raum, und schon ist der Gruselklamauk wieder vorüber, still ruht der Raum. Zurückgeblieben ist eine Milchflasche, darin ein verunstaltetes Foto zweier kleiner Kinder. Wer wollte da nicht das Weite suchen wie Mauds Vorgänger Sam Hebden?
In ihrer Verunsicherung vertraut sich Maud ihrer Vermieterin Renata an. Die feingeistig-sensible Sechzigjährige (»ein New-Age-Schmetterling«, ehemals Assistentin eines Magiers und holistische Privatdetektivin) wird selbst von Angstphobien gequält und verlässt deswegen nicht mehr ihren Lebensraum (»eine Mischung aus Bordell und Boudoir«). Aber sie ermutigt Maud, trotz der Gefahren in »Blaubarts Schloss« auszuharren und weiterzuforschen, bis sie die Geheimnisse und Verbrechen dieser Familie aufgeklärt hat. Frisch in ihrem Berufsethos bestärkt, wird sich Maud von den Geistern und Dämonen Bridlemeres nicht vertreiben lassen.
Die Britin Jess Kidd begeisterte das Lesepublikum 2016 mit ihrem Debütroman »Himself«, in dem Fantasie und Esprit überborden (2017 auf Deutsch: »Der Freund der Toten« [› Rezension]). Jetzt haben Klaus Timmermann und Ulrike Wasel auch den im Februar 2018 erschienen Nachfolger »The Hoarder« übersetzt, und auch dieser skurrile Roman birst vor ungewöhnlichen, eigenwilligen Einfällen, die einer nie versiegenden Quelle der Kreativität zu entspringen scheinen. Auf zunächst ganz plausiblen Spuren lockt uns die Autorin immer tiefer in den Irrgarten ihres witzig-abstrusen Plots, der von einem Ensemble außergewöhnlicher Figuren aus diversen Sphären bevölkert ist und dessen Windungen und Rätsel einen unwiderstehlichen Sog entfalten.
Wer sich auf diese Autorin einlässt, muss bereit sein, sich in die Hängematte ihrer Fantastik fallen zu lassen, und darauf verzichten, alles mit dem Verstand erklären zu wollen. Denn in ihrer Welt erwarten uns parapsychologische Phänomene, märchenhafte Mysterien und zynische Heilige. In einem parallelen Handlungsstrang erzählt die Protagonistin von ihrer Kindheit, als sie gern in Großmutters »illustriertem Heiligenkompendium« schmökerte und für sich ein angenehmes Klosterleben in der Gemeinschaft dies- und jenseitiger Frommer erträumte. Nun erwachen sämtliche Märtyrer, die sie in dem Buch kennengelernt hatte, zum Leben, umgeben sie, plaudern zwanglos und leichthin mit ihr, geben ihr Ratschläge, wissen aber auch, wann es an der Zeit ist, sich wieder in ihre spirituellen Sphären zurückzuziehen.