Rezension zu »Heilige und andere Tote« von Jess Kidd

Heilige und andere Tote

von


Als Sozialbetreuerin Maud ihre neue Stelle bei einem verwahrlosten Witwer antritt, trifft sie auf ein Ensemble außergewöhnlicher Figuren aus dem Diesseits und dem Jenseits, der Realität und der Spiritualität, dem Reich der Lebenden und der Toten, christlichen Märtyrertums und weltlichen Verbrechens.
Belletristik · Dumont · · 382 S. · ISBN 9783832198909
Sprache: de · Herkunft: gb

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Sozialhilfe für Greise und Geister

Rezension vom 22.01.2019 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Drei Tage hielt Sam Hebden durch, dann floh er aus Bridlemere. Der Hausherr half nach, indem er den Mann mit einem Hurling-Schläger vom Grundstück scheuchte. Maud Drennan, vom Sozial­dienst als Nachfol­gerin entsandt, weiß das, lässt sich aber nicht so schnell entmutigen.

Was sie in der viktorianischen Villa vorfindet, macht sie allerdings sprachlos: ein unbe­schreib­lich versiffter Messie-Haushalt, bevölkert von Asseln, Spinnen und einer Horde namenloser Katzen inklusive deren allgegen­wärtiger Notdurft. In der vermüllten Küche illustriert eine »zusammen­gerollte tote Maus in einer Teetasse« den morbiden Charme des Anwesens. Der Privat­bereich des Eigentümers befindet sich hinter einer un­über­wind­baren Großen Mauer von aufge­stapel­ten Zeit­schriften, und ein un­überseh­barer Zettel warnt zudring­liche Fremde, dass der Zutritt untersagt ist. Wer dahinter residiert, das hat Maud aus dem Be­treuungs­plan des Sozial­dienstes entnommen: »Mr Cathal Flood, Künstler im Ruhestand, Maschinen­bauinge­nieur und Kurio­sitäten­händler«.

Seit seine geliebte Frau Mary vor einem Vierteljahrhundert bei einem Unfall zu Tode kam, hat Mr Flood, inzwischen 80, sich und sein Haus dem natürlichen Verfall überlassen. Als Maud zu ihm in sein Horror­kabinett vordringt, wallt ihr die geballte Ladung seines Unwillens entgegen, denn dass hier jemand ausmisten wolle, ist in seinen Augen nicht nur ein völlig unnötiges Unterfangen, sondern vor allem eine inakzep­table Zumutung. Doch seine Be­leidigun­gen und Flüche können Maud, um die dreißig Jahre jung und mit einem sonnigen Gemüt gesegnet, nichts anhaben.

Nach einer Woche ist das Eis zwischen den beiden ein bisschen angetaut. Mr Flood hat Maud zum Beispiel von seiner verstor­benen Schwester Ruth berichtet, die nach einem Wespen­angriff schwermütig wurde und mit den Toten redete. Überhaupt stößt sie auf seltsame Anzeichen, dass sich in diesem feind­seligen Haus schreck­liche Ereignisse zugetragen haben müssen und die Familie etliche »Leichen im Keller« haben mag. Dass der Hausherr etwa über den Unfalltod seiner geliebten Frau Mary rein gar nichts preisgibt, interpre­tiert Maud als Vertuschung eines Verbrechens.

Bald taucht in der prekären Zweisamkeit Dr. Gabriel Flood auf, der Sohn des streitbaren Griesgrams. Obwohl seit Jahren offene Feindschaft zwischen beiden herrscht, hat er seinem Vater wohlwollend Wohnrecht bei best­mögli­cher Betreuung in Bridlemere zuerkannt, bis eine Unter­brin­gung im Senioren­heim unum­gäng­lich wird. Doch Maud fragt sich, ob Gabriels wahres Ansinnen nicht dahin zielt, den Alten schnellst­möglich abzu­schieben.

Muss Maud an ihrem neuen Arbeitsplatz nicht sogar um ihre eigene Sicherheit fürchten? Einmal flüchtet sie auf die Toilette und erlebt selbst dort Unwirk­liches. Aus dem Spülkasten hört sie ein Ächzen, das Klopapier entrollt sich, die Wandlampen leuchten kurz auf, der Deckel des Spülkastens öffnet sich, Wasser­fontä­nen ergießen sich in den Raum, und schon ist der Grusel­klamauk wieder vorüber, still ruht der Raum. Zurück­geblie­ben ist eine Milch­flasche, darin ein verun­stalte­tes Foto zweier kleiner Kinder. Wer wollte da nicht das Weite suchen wie Mauds Vorgänger Sam Hebden?

In ihrer Verunsicherung vertraut sich Maud ihrer Vermieterin Renata an. Die feingeistig-sensible Sechzig­jährige (»ein New-Age-Schmetter­ling«, ehemals Assistentin eines Magiers und holistische Privat­detek­tivin) wird selbst von Angst­phobien gequält und verlässt deswegen nicht mehr ihren Lebensraum (»eine Mischung aus Bordell und Boudoir«). Aber sie ermutigt Maud, trotz der Gefahren in »Blaubarts Schloss« auszuharren und weiterzu­forschen, bis sie die Geheimnisse und Verbrechen dieser Familie aufgeklärt hat. Frisch in ihrem Berufsethos bestärkt, wird sich Maud von den Geistern und Dämonen Bridlemeres nicht vertreiben lassen.

Die Britin Jess Kidd begeisterte das Lesepublikum 2016 mit ihrem Debütroman »Himself«, in dem Fantasie und Esprit überborden (2017 auf Deutsch: »Der Freund der Toten« [› Rezension]). Jetzt haben Klaus Timmermann und Ulrike Wasel auch den im Februar 2018 erschienen Nachfolger »The Hoarder« Jess Kidd: »The Hoarder« bei Amazon übersetzt, und auch dieser skurrile Roman birst vor unge­wöhn­lichen, eigen­willi­gen Einfällen, die einer nie ver­siegen­den Quelle der Kreativität zu entspringen scheinen. Auf zunächst ganz plausiblen Spuren lockt uns die Autorin immer tiefer in den Irrgarten ihres witzig-abstrusen Plots, der von einem Ensemble außer­gewöhn­licher Figuren aus diversen Sphären bevölkert ist und dessen Windungen und Rätsel einen un­widersteh­lichen Sog entfalten.

Wer sich auf diese Autorin einlässt, muss bereit sein, sich in die Hängematte ihrer Fantastik fallen zu lassen, und darauf verzichten, alles mit dem Verstand erklären zu wollen. Denn in ihrer Welt erwarten uns para­psycho­logische Phänomene, märchen­hafte Mysterien und zynische Heilige. In einem parallelen Hand­lungs­strang erzählt die Protago­nistin von ihrer Kindheit, als sie gern in Großmutters »illustrier­tem Heiligen­kompen­dium« schmökerte und für sich ein angenehmes Kloster­leben in der Gemein­schaft dies- und jenseitiger Frommer erträumte. Nun erwachen sämtliche Märtyrer, die sie in dem Buch kennenge­lernt hatte, zum Leben, umgeben sie, plaudern zwanglos und leichthin mit ihr, geben ihr Ratschläge, wissen aber auch, wann es an der Zeit ist, sich wieder in ihre spiritu­ellen Sphären zu­rückzu­ziehen.


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