Ein Hummerleben
von Erik Fosnes Hansen
Der dreizehnjährige Sedd erzählt vom Leben im Grand Hotel seiner Familie in den Bergen Norwegens. Es sind die Achtzigerjahre, und der Tourismus verändert sich grundlegend. Sein Großvater kann die alte Kultiviertheit nur mit Mühe aufrechterhalten.
Was vom Glamour übrig bleibt
Alle Hoffnungen ruhen auf Sedgewick, genannt Sedd. Der Junge wird das Hotel, das die Familie Zacchariassen seit Jahrzehnten führt, eines Tages übernehmen. Das prachtvolle Anwesen ist ihr Stolz, dazu ein Leuchtturm feiner Kultur und gehobenen Lebensstils hier oben in der Bergeinsamkeit Norwegens.
Als Erwachsener schaut Sedd mit leiser Ironie zurück auf das Jahr 1982, ein Schicksalsjahr in doppelter Hinsicht. Dem Dreizehnjährigen bringt es belastende Erkenntnisse und beendet die Zeit seiner kindlichen Unschuld. Im Hotelbetrieb wird immer deutlicher, wie sich der Tourismus verändert und Veränderungen fordert.
Den Großeltern, die Souveräne des Hauses, ist wohl bewusst, dass nicht mehr alles zum Besten steht, dass es nicht einfach weitergehen kann wie bisher, dass sie mitten in einem Umbruch agieren und sich anpassen müssen. Das aber fällt schwer, wo edles Mobiliar, Schwimmbad, Sauna und Minigolfanlage bereitstehen, wo exquisite Gerichte und Getränke auf den Tisch kommen, wo man zu Glanzzeiten internationale Gäste ehrte, indem man an den Fahnenstangen ihre Nationalflaggen hisste, und wo die distinguierte Gesellschaft (zumindest die ältere Generation) noch immer gern (wenn auch seltener) für Feierlichkeiten einkehrt.
Seinen Zenith erlebte das mondäne Traditionshaus in den Fünfziger- und Sechzigerjahren – »die Leute liefen uns nur so die Bude ein« und die Mitarbeiter zur Service-Höchstform. Die fürstlichen »Meeresfrüchte-Büffets« des Küchenchefs Jim waren das Highlight jeder anständigen Berghochzeit. Danach bezauberte Großmutter Elisabeth – gebürtige Wienerin, benannt nach der schönsten Kaiserin aller Zeiten und Expertin in allen royalen Angelegenheiten Europas – das verwöhnte Publikum durch »Meisterwerke der österreichischen Mehlspeisen- und Konditorenküche« wie durch ihren Charme. Inzwischen wollen die Leute trotz Strudel nicht mehr im Gebirge frieren, sondern reisen lieber dahin, wo »ewiger Sommer« herrscht: in den »verteufelten Süden«.
Während Großmutter an eine »Übergangsphase« glaubt, weiß Großvater es besser: Die Gäste bleiben aus und lassen sich leider auch durch ausgeklügelte Sonderangebote nicht in Scharen locken. Ein paar »herrschaftliche Hochzeiten auf Sparflamme« im Jahr, spitz gerechnete all-inclusive-Festpreis-Pakete mit Einheitsmenü, Blumenschmuck, Livemusik, Übernachtung und amerikanischem Straßenkreuzer, reichen kaum aus, alle Angestellten auf Dauer zu halten.
Überdies haben sich die Geschmäcker gewandelt. War Hummer einst die Krönung jeder Tafel, so gilt sein Koch jetzt als herzloser Mörder. Jeder sensible Gast, der sich angesichts des Tieres auf der Speisekarte empört abwendet, nimmt ein Stückchen von der ohnehin schmalen Gewinnspanne weg. »Wir brauchen jeden einzelnen Gast«, hämmert Großvater allen immer wieder ein. Doch das Schiff sinkt unaufhaltsam, und kein Kapitän kann es retten, schon gleich nicht, indem er die Tatsachen ignoriert. Die erwischen auch Sedd kalt, als der Fotohändler ihm unvermittelt enthüllt, dass es jetzt aus sei mit den Einkäufen »auf Großvaters Rechnung«.
Gleich die erste Szene des Romans ist ein Menetekel. Es ist Winter, Feriengäste gibt es keine im Hotel. Vielmehr haben die Großeltern besondere Gäste aus der Umgebung geladen, denen sie Dank für langjährige gute Zusammenarbeit schulden. »Sie waren gerade beim Kuchen angelangt, da sackte Bankdirektor Berge am Tisch zusammen und fing an zu sterben.« Sedd beobachtet das unwirkliche Geschehen aus respektvoller Distanz von der Küchentür aus, ehe er mit den anderen dem Sterbenden zu Hilfe eilt. Der Junge ist (als Jugendrotkreuzler) der Einzige, der kompetent Erste Hilfe leisten kann, aber die Herzmassage ist kräftezehrend, die Mund-zu-Mund-Beatmung kostet ihn Überwindung, und so bleiben seine Bemühungen ebenso erfolglos wie die Jims, des Küchenchefs. So gern der Großvater noch richtungsweisende Gespräche über die Zukunft des Ortes, die große Politik, über Wertpapiere und Kredite geführt hätte, das Schicksal hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht, die schluchzende Frau Berge muss beruhigt, die Gesellschaft aufgelöst werden.
Sedd ist ein braver, aufmerksamer, gehorsamer und begabter Junge. Seinen Großeltern, die ihn liebevoll erziehen, bringt er stets Respekt entgegen. Im Hotelbetrieb lernt er früh, Verantwortung zu übernehmen: Am Empfang hält er Ordnung im Postkartenständer, er hilft Gästen auf ihr Zimmer, er geht Jim in der Küche zur Hand. Doch sein exotisch-fremdländischer Teint sorgt für Unsicherheit in seinem Selbstbild. Lange hängen undurchdringliche Nebelschleier gleich denen über den umliegenden Bergen über allem, was mit seinem »Zustandekommen«, seiner »Provenienz«, seiner Mutter (die sich früh abgesetzt hat) und der Herkunft seines Vaters (der schon vor seiner Geburt verstarb) zu tun hat. Großmutters aufmunternde Kommentare (er solle Gott für sein »erfreuliches Äußeres« danken) und ihre variierenden Erklärungen rufen bei ihm nur »beträchtliche Verwirrungen« hervor. Erst Jim sorgt, des Eiertanzes müde, der »über seine Stellenbeschreibung hinaus« gehe, für kurz und bündige Aufklärung: »Mein Vater sei kein Norweger, sondern Inder.«
So lässt der Autor seinen Protagonisten vom Hölzchen aufs Stöckchen erzählen und erzählen und erzählen. Manche seiner Geschichten sind eng mit der Familie und ihrem Hotel verknüpft, andere Lichtjahre entfernt davon. Oft kommt Komik auf, etwa wenn sich Sedd über Hausgäste auslässt. Alljährlich treffen sich beispielsweise die Bestattungsunternehmer im abgelegenen Nobelquartier, wo sie bei ihrer Weihnachtsfeier mal »so richtig die Sau rauslassen«. Überdies hat der Erzähler Freude am Detail. Wer seine Beschreibung der alljährlichen Frühjahrsputzaktion studiert hat (»Nifisk-Staubsauger, Teaköl der Marke Pallisto-Lux« usw.), könnte Herrn Direktor Zacchariassen glatt eine Initiativbewerbung als Aushilfe zusenden.
Mit seinem unterhaltsamen, sprachlich gediegenen und unaufgeregt voranschreitenden Roman »Et Hummerliv« (Übersetzung: Hinrich Schmidt-Henckel) versetzt uns Erik Fosnes Hansen an einen Ort, der aus der Zeit gefallen scheint. Der Gast ist König in dem altmodischen Grand Hotel, und zu seinem Wohl halten die Gastgeber fest an Tradition und Kultur alten Stils, an Diskretion und Contenance als oberstem Gebot für sie selbst. Damit fallen sie freilich der modernen Tourismusentwicklung zum Opfer, bei der Preis, aalglatte Dienstleistermentalität, Flexibilität und mediale Performance über Wohl und Wehe entscheiden.
Der Autor liebt alle seine Figuren gleichermaßen und würdigt jede, wie auch alle bedeutsamen Gegenstände, durch präzise Darstellungen, deren wohlige Wärme und leichte Melancholie sich auf den Leser übertragen. Sie werden untermalt von der Nostalgie der Musik der Zeit (Wencke Myhre) bis zurück in die Nachkriegsjahre (»Caprifischer«).
Auch wenn die Handlung tragisch endet, so hat das Romanende doch auch etwas Versöhnliches, zumindest für die Spezies, die bereits im Titel herausgestellt wird. Statt als gekochte Delikatesse auf teuren Tellern zu enden, dürfen die verschonten Krebstiere mit ihren kräftigen Scheren weiter unbesorgt über den norwegischen Meeresboden kriechen und sich ihres Hummerlebens erfreuen.