Das Haus Österreich
Großes hatte Ernst Lothar im Sinn, als er diesen Roman verfasste: »allen denen, die es nicht oder nicht genug kannten, einen Bilderbogen Österreichs in die Hand zu geben, der den Versuch unternahm, hinter die Fassade zu schauen und mit dem Bild die Schatten zu zeigen.« Ohne nationalistisch gefärbte Beschönigung noch verbitterte Abrechnung sollte es ein differenziertes Porträt von Österreichs Entwicklung seit dem Zerfall des Habsburgerreiches über den »Anschluss« bis in den nationalsozialistischen Vorkriegsalltag werden, das die dunklen Realitäten deutlich zeichnet, aber auch »mit einer Hand [...] auf die Grundlagen der österreichischen Ewigkeit zeigt«. Sein intendiertes Publikum waren Amerikaner und Briten, denn er schrieb das Buch im Exil in den USA, wo es 1944 in englischer Übersetzung erstveröffentlicht wurde.
Obwohl in Lothars Heimatland bereits 1948 verfilmt, erschien der Roman dort erstmals 1963 (bei Zsolnay). Da waren, seit die Alliierten 1945 »ein neues, freies Österreich« verhießen hatten, fast zwanzig Jahre ins Land gezogen und hatten auch »schwarze Schatten« geworfen. So erweiterte der Autor für die deutschsprachige Erstausgabe sein Nachwort: Damals »mussten Amerika und England erinnert werden, was Österreich ist; heute muss man Österreich daran erinnern.«
Literarisch besticht an diesem Roman noch heute das Konzept, die Protagonisten als Repräsentanten der wichtigsten gesellschaftlichen Phänomene allesamt in einem prächtigen Wiener Stadtpalais anzusiedeln. Seine Positionierung – im ersten Bezirk, dem »Herz von Wien«, der Hauptstadt – verweist auf seine höhere Bedeutung als »das Haus Österreich [...]. Es steht auf den ewigen Grundlagen der Menschennatur, wo sie am erden- und himmelsnächsten bleibt.« Man liest also synchron auf mehreren Ebenen: die Familie, das Haus, das Land.
Der Klavierfabrikant Alt, »kaiserlich-königlicher Hoflieferant«, errichtete das Gebäude an der Ecke Seilerstätte und Annagasse 1790/91 als Wohn- und Geschäftshaus mit Parterre, Mezzanin und drei Stockwerken. Indem sich die angesehene Großbürgerfamilie vergrößert und verzweigt, wird es umgebaut und erweitert. Ehe die Handlung am 9. Mai 1888 einsetzt, nimmt uns der Erzähler an die Hand, geleitet uns über sechs Seiten von Tür zu Tür, von Stockwerk zu Stockwerk, als würden wir ein großes Puppenhaus bestaunen, und gewährt uns erste Eindrücke von den Höhenflügen und Abgründen einer feinen Sippe – ein kleines Meisterwerk an pointierten Porträts voller zarter, charmanter, ironischer Spitzen und Seitenhiebe.
Ein harmloses Spielzeug ist es freilich nicht, was der Autor präsentiert: »Sie wohnten, sie wohnen in einem widerspruchsvollen, zwielichtigen, verwinkelten, unsinnig-sinnlichen, herrlich schönen, gefährlichen, im Zentrum stehenden, tief unterkellerten, dämonischen Haus.« Dessen Haupteingang schmückt der titelgebende »Engel mit der Posaune«. Weder mit den Adelswappen noch den Berufsemblemen der Nachbarhäuser ist er verwandt, auch künstlerisch kein Meisterwerk. Als reiner Zierrat ist er funktionell unabhängig genug, um im Wandel der Zeitläufte symbolische Botschaften zu übermitteln, mal triumphierend, mal mahnend, mal jubilierend, mal strafend zu blasen.
Die miteinander verwandten, verschwägerten und verschwippten Bewohner sind alles andere als ein Ensemble. Kurzweilig und amüsant wird erzählt, wie jeder seine eigenen Interessen verfolgt, sie einander in die Quere kommen und kräftig übereinander herziehen .
Als Franz Alt, der Enkel des Erbauers, seine Verlobte Henriette Stein (»Hetti«) zu ehelichen gedenkt, ist es vorbei mit der Beschaulichkeit der vergangenen hundert Jahre. Er mutet der Familie einen missliebigen Fremdkörper zu und schockt sie mit der unerhörten Absicht, das Haus um eine vierte Etage aufzustocken. Derlei Veränderungen wohnt hier gleich etwas Umstürzlerisches inne – am Horizont dräuen dunkle Wolken Unheil.
Das Pikante an Franz' Heirat ist, dass die jüdische Professorentochter (eine rein fiktionale Figur) zuvor eine Liebesbeziehung mit keinem Geringeren als dem Erzherzog Rudolf unterhalten hatte. Trotz manchen Tuschelns weiß der Bräutigam von nichts und die Affäre soll auch Hettis ewiges Geheimnis bleiben. So heiß und aufrichtig die gegenseitige Liebe war, eine gemeinsame Zukunft mit dem Kronprinzen – Sohn von Kaiser Franz Joseph I. und Kaiserin Elisabeth (»Sisi«) und auf Druck des Vaters mit Stephanie von Belgien verheiratet – kam niemals in Frage. Daher entschied sich Henriette für den sicheren Hafen einer gutbürgerlichen Ehe mit einem Fabrikanten. Am Tag ihrer Vermählung erschießt sich der unglückliche Erzherzog auf Schloss Mayerling – ihretwegen, glaubt Henriette. Den Mann an ihrer Seite verschmäht sie lebenslang.
In der Familie Alt wird Henriette nie wirklich aufgenommen. Argwöhnisch belauern alle, was die extravagante, eigenwillige Dame unternimmt. Ein folgenreicher Seitensprung macht sie endgültig zur Persona non grata. Doch fügen würde Henriette sich niemals. Beharrlich und ausdauernd erträgt sie ihre isolierte Rolle, an der sie nichts zu ändern vermag.
Historische Begebenheiten zwischen Politik, Tragik und Tratsch (»über Persönlichkeiten des Allerhöchsten Hauses«) verwebt der Autor glaubwürdig mit den fiktiven Erlebnissen seiner Figuren. Gleich zur Einweihungsfeier des Hauses 1791 präsentiert ein international bejubelter Star seine neueste Oper, betitelt »Die Zauberflöte«. Leider hinterlässt der Komponist, während er seine Klavierversion darbietet, rein äußerlich »ein Bild des Jammers und der Unordnung«. Im Erzählfluss bilden die Leiden des jungen Kronprinzen und Henriette Steins Rolle darin ein frühes Spannungselement, dem später weitere, teils sehr grausame Ereignisse folgen.
Die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn zerfällt. Hans und Hermann, die Söhne von Henriette und Franz, ziehen in den Ersten Weltkrieg. Nach dessen Ende ist die k. u. k. Monarchie beseitigt, das Reich zerschlagen. Freie Republiken werden ausgerufen, Wien wird sozialdemokratisch regiert.
Am traditionsreichen Familienunternehmen hat keiner der beiden Söhne ein sonderliches Interesse. Hermann schließt sich der NSDAP an und entwickelt sich zu einem überzeugten, gefährlichen Faschisten. Sein Bruder Hans hatte künstlerische Ambitionen, musste sich jedoch an der Kunstgewerbeschule »ungenügende Arbeiten« bescheinigen lassen – ebenso wie sein Mitbewerber »Hitler Adolf«. Nach dem Krieg führt er die Klavierfabrik fort, ohne sich bei seinen Arbeitern sonderliches Ansehen verschaffen zu können. Notgedrungen öffnet sich der noch immer überzeugte Monarchist sozialdemokratischen Ideen. Mit seiner Ehegattin, der Jüdin Selma Rosner, zieht eine kokette, selbstbewusste und diskussionsfreudige junge Frau ins Haus. Als Schauspielerin feiert sie große Erfolge am Burgtheater.
Franz Alt, die Spiegelfigur zu Kaiser Franz Joseph, ist traumatisiert aus dem Krieg zurückgekehrt. Beider Österreich gibt es nicht mehr, beider Welt ist untergegangen, beider persönlicher Glanz verblichen. Der einstige Fabrikant, auf offener Straße von einem Proleten angepöbelt und zunehmend auf Henriettes Pflege angewiesen, verlässt das Haus Seilerstätte 10 nicht mehr. Der Ex-Majestät bleibt nichts, als in einem der vielen unbeheizten Zimmer von Schloss Schönbrunn vereinsamt den baldigen Tod zu erwarten.
Nach Franz' Tod wünscht Henriette als 73-jährige Witwe aus dem Haus auszuziehen. Doch da haben sich die Verhältnisse zum wiederholten Male verschlimmert: Jetzt verschaffen sich die Nazi-Vollzugsbeamten Eintritt und übernehmen mit ihren robusten Methoden die gesamte Firma. Die erzählte Handlung endet 1938.
Ernst Lothar (1890-1974) war ein vielseitig begabter Mann. Der promovierte Jurist machte Karriere im Handelsministerium, veröffentlichte ab 1911 Gedichte, Erzählungen, Novellen, ein Theaterstück und mehrere Romane, war Mitbegründer der Salzburger Festspiele und später Regisseur und Theaterdirektor. Nach dem »Anschluss« Österreichs 1938 emigrierte er nach Amerika. Dort schrieb er fünf Romane in englischer Sprache, von denen »The Angel with the Trumpet« den größten Erfolg erzielte. Nach dem Krieg leistete er Großes für den Wiederaufbau der Theaterkultur in Österreich, u.a. als Regisseur am Burgtheater und in Salzburg.
»Der Engel mit der Posaune« ist ein umfangreicher, traditionell angelegter Roman. Die Stofffülle – komplexe Charaktere, zahlreiche Episoden, die vielschichtigen Verquickungen mit den historischen Entwicklungen in bewegten Zeiten – ist überwältigend und erlaubt tiefe Einblicke in das Lebensgefühl der Epoche. Automobile etwa sind für Franz Alt nichts als »moderner Schwindel« und lebensgefährliche »Marterwerkzeuge«. Wie offenbar schon seit Menschengedenken verfallen die Sitten (vor allem bei den Frauen: Sie tragen kurze Röcke und Kurzhaarfrisuren, fahren Ski, erscheinen im kaiserlichen Theater in Bluse statt Festkleidung). Wenigstens in der Seilerstätte 10 hält man an den gewohnten Traditionen fest. »Wie vor zwanzig Jahren« – Kriegsheimkehrer Hans kann es kaum fassen – sitzt die Familie Alt hochherrschaftlich am fein gedeckten Tisch, und ein Diener serviert die Speisen.
So wird der Leser auf anspruchsvolle und vielfältige Weise gut unterhalten. Henriettes inner- und außereheliche Liebesgeschichten touchieren schon mal das Triviale, aber die familiären Ränke, die in den mysteriösen Tod ihrer Schwiegertochter, der »Roten« Selma, münden, entwickeln sich spannend wie ein Krimi. Die geschilderten Ereignisse aus Krieg und Nationalsozialismus schließlich bieten reichlich Dramatik und Tragik.
Lothars kultivierte Sprache klingt heute stellenweise leicht pathetisch (»Wenn er nur nicht immer ›Mutter‹ sagen wollte!«); andererseits beschwingt viele Dialoge ein gut transkribierter Wiener Tonfall (»Geh, lass di'net lumpen – du kannst dir's ja pumpen – Geh, Schorscherl, gölt – s'is so gut wie bestöllt ...«).