Rezension zu »Der Mann, der das Glück bringt« von Catalin D. Florescu

Der Mann, der das Glück bringt

von


Belletristik · C.H. Beck · · Gebunden · 327 S. · ISBN 9783406691126
Sprache: de · Herkunft: de

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Zwei Schicksalskreise

Rezension vom 10.06.2016 · 3 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Der Zufall führt eine Frau und einen Mann in einem New Yorker Keller­lokal zusam­men. Sie kommen ins Gespräch, verab­reden sich erneut, erzählen einander von ihren Familien, trennen sich wieder. Sie sind nicht verwandt, ihre Wurzeln liegen auf zwei Konti­nenten in zwei grund­ver­schie­denen Kulturen. Schick­sal­haft erscheint ihre Begeg­nung dennoch. Beide sind mehr oder weniger bewusst bestrebt, Wünsche ihrer Vorfahren zu erfüllen.

Catalin Dorian Florescu, in Zürich lebender Schriftsteller rumänischen Ursprungs (1967 in Timișoara geboren), hat sie zu­sammen­geführt. Der uner­schöpf­liche Fabu­lierer und starke Gestalter webt aus den beiden Erzäh­lungen einen un­glaub­lich reich­haltigen, farb­kräftigen Bild­teppich, der das Kalei­doskop eines ganzen Jahr­hunderts und zweier Regio­nen, die konträrer nicht sein könnten, umfasst. Unendlich viele histo­rische Ereig­nisse unter­füttern die privaten Fami­lien­ge­schich­ten und geben ihnen Weite.

Obwohl Florescu die beiden Erzählungen hübsch alternierend arrangiert, ist die Struktur des Gesamt­strangs kom­pliziert, da nicht nur die Schau­plätze und Zeiten wechseln, sondern auch diverse wei­tere Er­zähl­situa­tionen refe­riert werden. Oben­drein über­höht er die Schick­sal­haftig­keit des Ge­schehens durch aller­lei Sym­bolik und Zahlen­spiele: Die beiden Erzähler begegnen einander exakt am 11. Sep­tember 2001, als die WTC-Türme ein­stürzen; eine große Liebe endet gewalt­sam mit einer Feuers­brunst im Jahr 1911. Die beiden Ströme, die die Schau­plätze durch­fließen – der East River und die Donau –, werden als passive Levia­thane charak­terisiert, die »Abfälle, Aus­schei­dun­gen ... Ver­zwei­felte, Müde, Verrückte« und »die Toten« auf­neh­men.

Dabei stehen im Mittelpunkt aller Auf­merk­samkeit durch­weg die kleinen Leute. Sie kämpfen dies­seits wie jen­seits des Atlantiks ums nackte Über­leben und bleiben doch chancen­los, in der auf­blühenden, bereits hekti­schen Metro­pole New York ebenso wie in den archai­schen Dorf­gemein­schaf­ten Rumä­niens an den stillen Ufern des mäch­tigen Donau­stroms, in der Haupt­stadt eines unge­brems­ten Kapita­lismus ebenso wie in Ceau­scescus besonders depri­mieren­der Aus­prägung eines stalinis­tischen Unter­drückungs­staates, dem Armen­haus Europas. Während sich die Welt für die Gewinner energisch und profitabel weiter dreht, fallen die einfachen Menschen unauf­haltsam zurück, geraten unter die Räder. Florescu bewahrt ihre Kraft, ihren Mut und ihren Opti­mis­mus vor dem Ver­gessen­werden.

Der erste Erzählstrang setzt 1899 ein, als sich ein halbwüchsiger Waisen­junge mehr schlecht als recht am East River zwischen Bowery und Broadway durch­schlägt. New York ist die Stadt der Ver­hei­ßung und über­schwemmt mit euro­päi­schen Aus­wande­rern und Flücht­lingen – Iren, Italiener, Deutsche, Juden aus dem Osten, alle erhoffen sich hier beschei­denen Wohl­stand, Sicher­heit und Frei­heit für ihre Tradi­tionen, Reli­gionen und Riten. Wer seine wirt­schaft­lichen Träume schon erfüllen konnte, zieht in die nörd­lichen Stadt­viertel und demonstriert stolz seinen Erfolg. Über den Broad­way wandeln Frauen in Samt und Seide und Männer im Pelz mit Zobel­kragen. Die meisten Immi­granten aber bleiben so arm, wie sie immer ge­wesen waren.

Der vierzehnjährige Junge weiß nicht, wo er herkommt (»vielleicht stammte er vom Mond«), und hat kei­nen Namen. Als sein einziger Freund, ein gali­zischer Juden­bengel, im Schlaf erfriert, über­nimmt er nicht nur dessen Mantel, sondern auch dessen Iden­tität. Berl, wie er sich später nennt, kennt sein Terri­torium, das Ghetto, wie seine Westen­tasche. Mit ein paar anderen Straßen­jungen schläft er in einem kalten, drecki­gen Keller­loch und muss jeden Cent, den er als Zei­tungs­junge und mit Gelegen­heits­jobs verdient, an einen nur wenige Jahre älteren Bully und König im Geld­machen abgeben. Für seinen ewig knur­renden Magen bleibt nichts übrig.

Kurz bevor ihn der Hungertod ereilt, wendet sich Berls Schicksal. Der alte Jude Herschel findet ihn und päppelt ihn in seiner Wohnung auf. Herschel verdient gutes Geld, indem er im Keller seines Miets­hauses Gänse züchtet. Wenn Berl sich nützlich macht und brav die jüdi­schen Gebete und Riten erlernt, kann er »das Geschäft einmal über­nehmen«. Aner­kennung findet Berl jedoch auch für seine wunder­bare Stimme. Die schwan­geren Frauen, die in der Wohnung gegen­über ein- und ausgehen, schwärmen für den jungen »Mann, der das Glück bringt«, sie mit seinen Liedern Zeit und Elend vergessen lässt. Sobald sie in aller Heim­lich­keit ent­bunden haben, nimmt man ihnen das Neuge­borene weg, ohne sie wissen zu lassen, was mit ihm geschieht. So weinen die Frauen ständig, vor Schmerzen, vor Trauer oder vor Glück. Berl, ihr kleiner »Caruso«, sieht sich derweil schon in den großen Varietés auftreten, um berühmt und reich zu wer­den. Hundert Jahre später träumt sein Enkel Ray noch den­selben Traum, wenn er das über­schau­bare Publi­kum einer Keller­bar mit seiner Ein-Mann-Gesangs­show unterhält.

Der zweite Erzählstrang führt uns ins rumänische Mündungsdelta der Donau, »das Ein­ge­weide Europas«. Es ist der Sommer 1919, doch die sumpfige, fisch- und vogel­reiche Land­schaft ist seit Menschen­gedenken unver­ändert, einsam, von Gott vergessen. Im »aus der Zeit gefal­lenen« Dorf Uzlina lebt Leni mit ihrem Mann Iulian und dem gut­mütigen, mit ein­fachem Geist geseg­neten Jugend­lichen Vanea, dem Ange­hörigen einer russi­schen Minder­heit, den sie in ihrer Familie aufge­nom­men haben.

Leni ist zum vierten Mal schwanger. Wie jeder Frau in Hoffnung fällt es ihr leicht, elemen­tare Fehler zu vermei­den, die ihr Unge­bore­nes gefähr­den könnten. Nie würde sie in den Ofen pusten oder sich einen Woll­faden um den Nacken legen. Aber nach drei Fehlge­burten will Leni dieses Mal alles richtig machen und hat sich nach allen Regeln über­liefer­ter Künste gegen böse Geister und Teufel in jeg­licher Gestalt ge­wapp­net. Als die Zeit der Nieder­kunft naht, befreien rituelle Wa­schungen und Be­schwö­rungs­for­meln sie von Sünden, dann heißt es sich schonen und gut ernähren, nicht Lehm, Verputz, Kreide und Salz­klumpen essen und Ziegel­steine lecken wie vormals.

Unter solch archai­schen Um­stän­den wird 1920 das sehn­süchtig erwar­tete Glücks­kind geboren. Ein Sohn, der beim Fisch­fang helfen könnte, ist es nicht, aber eine gesunde Tochter ist gut genug, um Strümpfe zu stopfen, zu kochen und den Haus­halt sauber zu halten. Sie erhält den Namen Elena wie ihre Mutter und wird ihn später an ihre Tochter, die Erzäh­lerin, weiter­geben.

Die kleine Elena ist ein anstelliges, wiss­begie­riges Kind. Bald zieht es sie weg aus der häus­lichen Enge. Im Nach­bar­dorf kommt sie bei einem alten Friseur unter, und es eröffnet sich ihr sogar eine winzige Chance, nach New York zu heira­ten. Doch eine furcht­bare Krank­heit macht alle Träume zunichte. Die Hoff­nungs­trägerin, der kein Glück beschie­den war, verbringt den gesamten Rest ihres Lebens in der Isolation einer Lepra­station.

Der Erzählerin war ihre Mutter so verhasst, dass sie sie in der Aus­sät­zigen­kolonie niemals aufsuchte. Als sie 1961 geboren wurde, nahm man der schwer­kranken Frau das Kind sogleich ab und gab es in die Hände von Pflegeeltern. So wuchs Elena – die dritte – bei regime­treuen Kommu­nisten, Arbei­tern und in desolaten Heimen auf. Jetzt ist ihre Mutter verstorben, und Elena soll den letzten Wunsch der Frau, die sie niemals kennen­gelernt hat, erfüllen: Sie soll ihre Asche nach New York bringen und über der Stadt ihrer ver­lorenen Sehn­süchte ver­streuen. Es ist der 11. Sep­tem­ber 2001, und die Schick­sals­kreise schließen sich.

Die beiden episodenreichen Erzählstränge sprechen den Leser emotional sehr unter­schied­lich an. Groß­vaters Über­lebens­kampf in der pulsie­ren­den Millio­nen­stadt, deren farben­frohes Alltags­getriebe detail­reich ge­schil­dert wird, ist von einer eiser­nen Zuver­sicht des Indivi­duums beseelt, die weder Armut noch Härte noch Nieder­schläge erschüt­tern zu können scheinen. Dem­gegen­über lässt das Elend im rumä­nischen Donau­delta, wie es uns über drei Genera­tionen hinweg erzählt wird, schier ver­zwei­feln. Hier wird jede Hoff­nung schon von Anfang an erstickt – durch Eng­stirnig­keit und Aber­glauben der schuld­los rück­ständi­gen Be­wohner, durch un­säg­liche Armut, durch ein brutales Unter­drückungs­system, durch ent­setz­liche Krank­heiten, denen die ge­schun­denen Menschen hilflos ausge­liefert bleiben.


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