
Das Drama hinter der Bühne
Mika ist stolz. Mit seiner Mutter Halina und Großvater Jakob Hernsteyn, liebevoll »Tatuś« (Papa) genannt, lebt der gewitzte, wissbegierige Junge in Warschau, dem »blühenden Zentrum jüdischer Kultur«. (Sein Vater starb 1929; da war er drei Jahre alt.)
Im September 1939 ändert sich alles. Die Wehrmacht überrollt Polen, und die Besatzer beginnen mit »Präzision und Kraft« ihr Vernichtungswerk gegen alles, was sie für »unwert« halten. Ersten Verboten und Vorschriften folgen schärfere Maßnahmen. Mika darf nicht mehr die Schule besuchen, Tatuś verliert seine Professur an der Universität. Die vorgeschriebenen Armbinden mit Davidstern und neue »Kennkarten« mit einem großen »J« brandmarken die Opfer der Unterdrückung. Im Sommer 1940 müssen sie ihre Wohnungen räumen, um mit vierhunderttausend Menschen in einen winzigen »Jüdischen Wohnbezirk« umgesiedelt zu werden. Dank Tatuś' Beziehungen zum »Judenrat« erhalten die drei Personen eine Zweizimmerwohnung mit kleiner Werkstatt.
Tatuś ist die Sanftmut in Person. Doch als deutsche Soldaten eine Frau zwingen, sich nackt auszuziehen, übersteigt ihre Demütigung das Maß, das er ertragen kann. Er legt der Entblößten schützend seinen großen Wollmantel um – und muss dafür mit seinem Leben bezahlen. Mika und seine Mutter schaffen es mit Mühe, den Mantel in Sicherheit zu bringen. Denn seine zahlreichen Taschen bergen Tatuś' Schätze – Pfeife, Brille, ein Gedichtband, klebrige Bonbons, Füllfederhalter, ein Stück Hasenfell, Briefe, eine kleine Geige mit Bogen. Das wichtigste Objekt ist im Saum eingenäht: Ein Schlüsselchen öffnet Mika die geheime Tür zu Tatuś' Refugium, seiner Werkstatt. Hier hatte Tatuś gelebt, inmitten von selbst gefertigten Handpuppen mit Pappmachéköpfen in verschiedenen Stadien der Vollendung. Hier stehen Leim und Lack, dort liegen Holzleisten und Draht bereit, und neben Nadel und Faden warten halbfertige Stoffreste und Einzelteile auf ihre Beseelung.
Mika findet Gefallen an der kleinen Welt, die sein Großvater erschaffen hat. In der engen Wohnung, die inzwischen zwei weitere Familien und ihre Kinder beherbergt, gibt er seine erste Vorstellung. Dann traut er sich ins Waisenhaus und ins Krankenhaus, wo die TBC-Kranken bis zum bitteren Ende dahinsiechen. Überall leuchten ihm die glücklichen Augen von Kindern entgegen, die für einen Moment Hunger, Krankheit und Sterben vergessen können. Bald bittet man ihn, zu Geburtstagen zu spielen, und schließlich kennt man ihn im ganzen Ghetto, den »Puppenspieler von Warschau«.
Ein dummer Zufall treibt Mika in die Hände von Max, einem Wehrmachtssoldaten, der ihn in seine Truppenunterkunft mitschleppt. »Die Höhle des Teufels« ist voller besoffener, grölender »Ratten« von der Sorte, die seinen Großvater getötet hatte. Ausgerechnet hier soll der Junge einmal die Woche mit seinen Puppen zur allgemeinen Belustigung beitragen. Niemand im Ghetto, nicht einmal die Mutter, darf davon erfahren, und so führt Mika ein Doppelleben: Er »unterhielt Kinder, aber er fütterte auch das Ungeheuer, das sie alle verschlingen würde.«
Das Dilemma plagt ihn mit Albträumen und treibt ihn an: Seine Visionen, die »Ratten« zu bekämpfen, nehmen konkretere Formen an, und er schließt sich den Widerständlern an. Unter seinem Mantel versteckt, bringt er Kleinkinder auf die andere Seite der Mauer, wo sie in polnischen Familien in Sicherheit sind. Später schmuggelt er Waffen und Sprengstoff und nimmt am bewaffneten Aufstand (April/Mai 1943) teil.
Dabei ist Mika wahrlich kein mutiger Held. Er weiß, dass er um sein Leben spielt, denn sobald keiner mehr über sein Puppenspiel lacht, wird auch er nichts mehr zu lachen haben. Doch als »Naziunterhalter« ist er ein »Feigling« und »Lügner« und mag seinem Spiegelbild nicht mehr in die Augen blicken. Scham und Wut belasten ihn mindestens so sehr wie die ständige Angst. In den Straßen begegnen ihm die vielen hungrigen Waisenkinder, sieht er Leichen und die Machthaber, die Bestien, denen niemand entrinnen kann und denen niemand entgegentritt. Mika kann nicht begreifen, dass es jenseits der Mauer ein buntes, normales Leben gibt, dass dort Menschen leben, die anscheinend nicht wahrnehmen, dass diesseits die Hölle auf Erden lodert. Sein Mantel, in dem er sich geborgen fühlt, und seine Puppen, die immer dann zu ihm sprechen, wenn ihn der Mut verlässt, geben ihm die äußere und innere Kraft durchzuhalten.
Der zweite Teil des Romans (»Die Reise des Prinzen«) schildert die Ereignisse nach der Befreiung Warschaus im Januar 1945. Nun gilt das alttestamentarische »Auge um Auge, Zahn um Zahn«, und es werden Schuldfragen thematisiert. Welche Schuld trugen »Mitläufer«, »Mittäter«, »Befehlsempfänger«?
Max, der Soldat, der Mika ein paar Jahre zuvor gedrängt hatte, mit »ein bisschen mehr ›Kasperl, hau drauf!‹« die Stimmung anzuheizen, sitzt nun zusammengepfercht mit anderen Kriegsgefangenen der Roten Armee in den Güterwagen, die kurz zuvor Juden zur systematischen Vernichtung nach Treblinka gebracht hatten. Wer auf der tagelangen Fahrt nicht krepiert und den Marsch zum Gulag übersteht, den erwarten entbehrungsreiche Jahre in erbarmungslosen Arbeitslagern.
Was chancenlos erscheint, gelingt Max: Er flieht aus der Gefangenschaft und schlägt sich durch, bis er drei Jahre später seine Familie in Nürnberg wiedersieht. Seinem Sohn Karl hat er über den weiten Weg ein Geschenk mitgebracht, inzwischen verdreckt und unansehnlich: Es ist der Prinz, Mikas liebste Handpuppe.
Mit dieser Figur im Gepäck wird Karls Tochter Mara 2009 nach New York fliegen. Dort schließt sich der Kreis der Rahmenhandlung am Krankenbett des todkranken 83-jährigen Mika.
Nachdem er das Ghetto überlebt hatte, schnürte Mika seine Habseligkeiten und all seine leidvollen Erinnerungen in einen braunen Karton, wo sie für immer verborgen bleiben sollten. 1948 gelangte er mit dem Schiff nach Ellis Island, entschlossen, nie und niemandem aus der dunklen Zeit zu erzählen. Doch 2009 lässt ihn ein unerwartetes Ereignis bei einem Spaziergang mit seinem dreizehnjährigen Enkel Daniel umdenken: »Ich will dir die Wahrheit erzählen, ... wie es im Ghetto war ... dir, ... deiner Mutter und ... der ganzen Welt«.
Daniel soll das Paket öffnen, das all die Jahre unbeachtet im Kleiderschrank ruhte. Ein scharfer, durchdringender Geruch schlägt ihnen entgegen. Dann liegt vor ihren Augen der abgewetzte schwarze Mantel mit all seinen geheimen Taschen, den der »Puppenspieler von Warschau« einst getragen hatte.
Eva Weaver schildert das Leben im Warschauer Ghetto eindringlich und realistisch. Mikas Ich-Perspektive (im ersten der drei Teile) maximiert die Identifikation. Obwohl wir Erwachsenen die historischen Fakten und die brutale Unentrinnbarkeit der Schicksale kennen, fiebern wir mit und klammern uns an die Hoffnung, dass Mika, seine Mutter, seine Tante Cara und Elli, seine erste Liebe, überleben mögen.
»The Puppet Boy of Warsaw« (übersetzt von Werner Löcher-Lawrence) ist atmosphärisch dicht und emotional intensiv – ein spannender, ergreifender, bedrückender Roman, zwar in klarer und leicht zu lesender Sprache verfasst, doch keine leichte Kost.
In eine fiktionale Handlung eingebunden erreicht Zeitgeschichte mehr Leser als Fachbücher zum Thema, und vielleicht bleiben fiktionale Schilderungen auch eindringlicher im Gedächtnis als Sachtexte. Insofern ist »Jakobs Mantel« als gute Lektüre für Jugendliche zu empfehlen.
Nachtrag vom 16.4.2014: Ein weiteres, ebenfalls für Jugendliche geeignetes Buch mit einer spannenden und ergreifenden Handlung aus dem Warschauer Ghetto ist »28 Tage lang« von David Safier; lesen Sie hier meine Rezension.