Rezension zu »Jakobs Mantel« von Eva Weaver

Jakobs Mantel

von


Belletristik · Droemer · · Gebunden · 384 S. · ISBN 9783426199633
Sprache: de · Herkunft: gb

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Das Drama hinter der Bühne

Rezension vom 15.02.2014 · 2 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Mika ist stolz. Mit seiner Mutter Halina und Groß­vater Jakob Hern­steyn, liebe­voll »Tatuś« (Papa) genannt, lebt der gewitzte, wiss­begierige Junge in War­schau, dem »blü­hen­den Zentrum jüdi­scher Kultur«. (Sein Vater starb 1929; da war er drei Jahre alt.)

Im September 1939 ändert sich alles. Die Wehrmacht überrollt Polen, und die Besatzer beginnen mit »Prä­zi­sion und Kraft« ihr Ver­nich­tungs­werk gegen alles, was sie für »unwert« halten. Ersten Verboten und Vor­schrif­ten folgen schär­fere Maß­nah­men. Mika darf nicht mehr die Schule besuchen, Tatuś verliert seine Pro­fes­sur an der Uni­versi­tät. Die vor­ge­schrie­benen Arm­binden mit Da­vid­stern und neue »Kenn­karten« mit einem großen »J« brand­marken die Opfer der Unter­drückung. Im Sommer 1940 müssen sie ihre Woh­nun­gen räumen, um mit vier­hun­dert­tau­send Menschen in einen winzigen »Jüdi­schen Wohn­bezirk« um­ge­sie­delt zu werden. Dank Tatuś' Bezie­hun­gen zum »Juden­rat« erhalten die drei Personen eine Zwei­zim­mer­woh­nung mit kleiner Werkstatt.

Tatuś ist die Sanftmut in Person. Doch als deutsche Soldaten eine Frau zwingen, sich nackt aus­zu­zie­hen, über­steigt ihre De­müti­gung das Maß, das er ertragen kann. Er legt der Ent­blöß­ten schützend seinen großen Woll­man­tel um – und muss dafür mit seinem Leben bezahlen. Mika und seine Mutter schaffen es mit Mühe, den Mantel in Sicher­heit zu bringen. Denn seine zahl­reichen Taschen ber­gen Tatuś' Schätze – Pfeife, Brille, ein Gedicht­band, klebrige Bonbons, Füll­feder­halter, ein Stück Hasen­fell, Briefe, eine kleine Geige mit Bogen. Das wichtigste Objekt ist im Saum ein­genäht: Ein Schlüssel­chen öffnet Mika die geheime Tür zu Tatuś' Refugium, seiner Werk­statt. Hier hatte Tatuś gelebt, inmitten von selbst gefertigten Hand­puppen mit Papp­maché­köpfen in ver­schie­de­nen Stadien der Voll­endung. Hier stehen Leim und Lack, dort liegen Holz­leisten und Draht bereit, und neben Nadel und Faden warten halb­fertige Stoff­reste und Einzel­teile auf ihre Be­see­lung.

Mika findet Gefallen an der kleinen Welt, die sein Großvater erschaffen hat. In der engen Wohnung, die in­zwi­schen zwei weitere Familien und ihre Kinder beher­bergt, gibt er seine erste Vor­stellung. Dann traut er sich ins Waisen­haus und ins Kranken­haus, wo die TBC-Kranken bis zum bitteren Ende dahin­siechen. Über­all leuchten ihm die glück­lichen Augen von Kindern entgegen, die für einen Moment Hunger, Krankheit und Sterben vergessen können. Bald bittet man ihn, zu Geburts­tagen zu spielen, und schließ­lich kennt man ihn im ganzen Ghetto, den »Puppen­spieler von Warschau«.

Ein dummer Zufall treibt Mika in die Hände von Max, einem Wehr­machts­soldaten, der ihn in seine Truppen­unter­kunft mitschleppt. »Die Höhle des Teufels« ist voller besoffener, grölender »Ratten« von der Sorte, die seinen Groß­vater getötet hatte. Ausgerechnet hier soll der Junge einmal die Woche mit sei­nen Puppen zur all­ge­mei­nen Be­lus­ti­gung bei­tragen. Niemand im Ghetto, nicht einmal die Mutter, darf davon erfahren, und so führt Mika ein Doppel­leben: Er »unter­hielt Kinder, aber er fütterte auch das Un­ge­heuer, das sie alle ver­schlin­gen würde.«

Das Dilemma plagt ihn mit Albträumen und treibt ihn an: Seine Visionen, die »Ratten« zu be­kämp­fen, neh­men kon­kre­tere Formen an, und er schließt sich den Wider­ständlern an. Unter seinem Mantel ver­steckt, bringt er Klein­kinder auf die andere Seite der Mauer, wo sie in pol­ni­schen Familien in Sicher­heit sind. Später schmuggelt er Waffen und Spreng­stoff und nimmt am bewaff­neten Aufstand (April/Mai 1943) teil.

Dabei ist Mika wahrlich kein mutiger Held. Er weiß, dass er um sein Leben spielt, denn sobald keiner mehr über sein Puppen­spiel lacht, wird auch er nichts mehr zu lachen haben. Doch als »Nazi­unter­halter« ist er ein »Feigling« und »Lügner« und mag seinem Spiegel­bild nicht mehr in die Augen blicken. Scham und Wut belasten ihn mindestens so sehr wie die ständige Angst. In den Straßen begegnen ihm die vielen hung­rigen Waisen­kinder, sieht er Leichen und die Macht­haber, die Bestien, denen niemand entrinnen kann und denen niemand entgegen­tritt. Mika kann nicht begreifen, dass es jenseits der Mauer ein buntes, normales Leben gibt, dass dort Menschen leben, die anscheinend nicht wahr­nehmen, dass diesseits die Hölle auf Erden lodert. Sein Mantel, in dem er sich geborgen fühlt, und seine Puppen, die immer dann zu ihm sprechen, wenn ihn der Mut verlässt, geben ihm die äußere und innere Kraft durch­zu­halten.

Der zweite Teil des Romans (»Die Reise des Prinzen«) schildert die Ereig­nisse nach der Befreiung War­schaus im Januar 1945. Nun gilt das alt­testa­men­tari­sche »Auge um Auge, Zahn um Zahn«, und es wer­den Schuld­fragen thematisiert. Welche Schuld trugen »Mitläufer«, »Mittäter«, »Befehls­empfänger«?

Max, der Soldat, der Mika ein paar Jahre zuvor gedrängt hatte, mit »ein bisschen mehr ›Kasperl, hau drauf!‹« die Stimmung anzu­heizen, sitzt nun zusammen­gepfercht mit anderen Kriegs­gefan­genen der Roten Armee in den Güter­wagen, die kurz zuvor Juden zur systema­tischen Vernich­tung nach Treblinka gebracht hatten. Wer auf der tage­langen Fahrt nicht krepiert und den Marsch zum Gulag über­steht, den erwarten ent­beh­rungs­reiche Jahre in er­bar­mungs­losen Arbeits­lagern.

Was chancenlos erscheint, gelingt Max: Er flieht aus der Ge­fangen­schaft und schlägt sich durch, bis er drei Jahre später seine Familie in Nürn­berg wieder­sieht. Seinem Sohn Karl hat er über den weiten Weg ein Geschenk mit­ge­bracht, inzwischen verdreckt und un­an­sehn­lich: Es ist der Prinz, Mikas liebste Hand­puppe.

Mit dieser Figur im Gepäck wird Karls Tochter Mara 2009 nach New York fliegen. Dort schließt sich der Kreis der Rahmen­hand­lung am Kranken­bett des tod­kranken 83-jähri­gen Mika.

Nachdem er das Ghetto über­lebt hatte, schnürte Mika seine Hab­selig­keiten und all seine leid­vol­len Er­in­ne­run­gen in einen braunen Karton, wo sie für immer ver­borgen bleiben sollten. 1948 gelangte er mit dem Schiff nach Ellis Island, entschlossen, nie und nieman­dem aus der dunklen Zeit zu erzählen. Doch 2009 lässt ihn ein un­er­war­te­tes Ereignis bei einem Spazier­gang mit seinem drei­zehn­jähri­gen Enkel Daniel um­denken: »Ich will dir die Wahr­heit erzählen, ... wie es im Ghetto war ... dir, ... deiner Mutter und ... der ganzen Welt«.

Daniel soll das Paket öffnen, das all die Jahre un­be­ach­tet im Kleider­schrank ruhte. Ein scharfer, durch­drin­gen­der Geruch schlägt ihnen ent­gegen. Dann liegt vor ihren Augen der ab­ge­wetz­te schwarze Mantel mit all seinen ge­hei­men Taschen, den der »Puppenspieler von Warschau« einst getragen hatte.

Eva Weaver schildert das Leben im War­schauer Ghetto ein­dring­lich und realis­tisch. Mikas Ich-Per­spek­tive (im ersten der drei Teile) maxi­miert die Identi­fikation. Obwohl wir Er­wach­senen die his­to­rischen Fakten und die brutale Un­ent­rinn­bar­keit der Schick­sale kennen, fiebern wir mit und klam­mern uns an die Hoff­nung, dass Mika, seine Mutter, seine Tante Cara und Elli, seine erste Liebe, über­leben mögen.

»The Puppet Boy of Warsaw« Eva Weaver: »The Puppet Boy of Warsaw« bei Amazon(übersetzt von Werner Löcher-Lawrence) ist atmo­sphä­risch dicht und emo­tional intensiv – ein span­nen­der, ergrei­fender, be­drücken­der Roman, zwar in klarer und leicht zu lesender Sprache verfasst, doch keine leichte Kost.

In eine fiktionale Handlung ein­ge­bun­den erreicht Zeit­ge­schichte mehr Leser als Fach­bücher zum Thema, und viel­leicht bleiben fiktio­nale Schil­derun­gen auch ein­dring­licher im Ge­dächt­nis als Sach­texte. In­so­fern ist »Jakobs Mantel« als gute Lektüre für Jugend­liche zu empfehlen.

Nachtrag vom 16.4.2014: Ein weiteres, ebenfalls für Jugendliche geeignetes Buch mit einer spannenden und ergreifenden Handlung aus dem Warschauer Ghetto ist »28 Tage lang« von David Safier; lesen Sie hier meine Rezension.


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