Eintritt und Ausbruch
Mädchen und Frauen tragen lange Röcke. Hosen sind ihnen untersagt. Nach der Heirat verbergen sie ihr Haar unter Perücken. Die Herren sind in lange schwarze Mäntel gewandet. Unter ihren breitkrempigen schwarzen Hüten kringeln Ohrlocken hervor. Die meisten Männer tragen einen dichten, dunklen Vollbart.
Der Schauplatz solch exotisch entrückt anmutenden Lebens ist Golders Green mitten in London, Großbritanniens multikultureller Kapitale, das Jahr ist 2008. Scheinbar unbeeinflusst von ihrer quirligen Umgebung, von technischen Hypes, modischen Trends, globalisierter Transparenz und weltanschaulicher Vielfalt leben orthodoxe Juden auch äußerlich deutlich sichtbar nach ihren strengen traditionellen Vorschriften und Bräuchen in einer abgeschotteten Gemeinschaft.
In dieser Welt »verliebten sich die Menschen nicht«. Wenn Chani Kaufman, 19, bald den ein Jahr älteren Baruch heiraten wird, dann nicht aus Liebe, sondern weil eine kompetente Expertin die beiden zueinander geführt hat. Die Vermittlerin kennt alle Gemeindemitglieder, wählt aus, wer adäquat zueinander passt, stößt erste Begegnungen an, fädelt die Partie ein und profitiert gehörig bei Erfolg. »Falling in love« stellt Chani sich vor, »als sei die Liebe ein Bottich voll siedender Flüssigkeit«.
Den Mann, mit dem sie den Rest ihres Lebens teilen soll, hat Chani erst drei Mal gesehen, und dabei störte sie durchaus manches Detail an ihm. Doch soll sie den Kandidaten wieder einmal ablehnen wie die anderen zuvor? Alle Männer suchen doch einfach ein frommes Mädchen, das den religiösen Geboten gemäß den Haushalt führt und ansonsten nicht auffällt, und viele ihrer Freundinnen haben sich bereits verloben lassen. Als Letzte, schlimmstenfalls als unverheiratete Jungfer übrigzubleiben, das wäre allerdings ganz unerträglich.
Also hat Chani »Ja« gesagt, guten Willens, Baruch als Ehefrau nicht zu enttäuschen. Doch was sie tatsächlich erwartet, ist ihr völlig unklar. Sie betet, dass Baruch sich weder als Langweiler noch als prügelndes Monster erweisen möge. Am meisten fürchtet sie die Hochzeitsnacht. Um deren Schleier ein wenig zu lüpfen, richtet sie ihre drängendsten Fragen zur rätselhaften Intimität an eine Expertin, ihre Mutter. Doch obwohl die acht Töchter geboren hat, weicht sie aus. Sie ist mit den jüngeren Geschwistern und der Führung eines großen Haushalts permanent überlastet.
Auch den Weg des braven, frommen Musterschülers Baruch Levy haben andere schon vorgegeben. Seine Eltern, wohlhabende und geachtete Unternehmer, wünschen, dass ihr »Wunderkind« zur Krönung des familiären Ansehens Rabbi werde. Dazu soll er an einer Jerusalemer Elite-Talmudschule studieren. Nun ist ihm bei einer Hochzeitsfeier in der Synagoge ein Mädchen von anmutiger Gestalt aufgefallen. Durch ein Guckloch in der Trennwand zwischen dem Männer- und dem Frauenbereich hat er heimlich ein Auge auf sie geworfen und Gefallen an ihr gefunden.
Doch vor jeder weiteren Annäherung muss Baruch zunächst seine Mutter einweihen – eine schwer zu nehmende Hürde, denn Mrs Levy hat auch klare Vorstellungen, wen ihr Sohn heiraten soll (New Yorker Finanzadel) und wen bestimmt nicht (bettelarme osteuropäische Dorfrabbiner-Abkömmlinge wie die Kaufmans). Sie wird nichts unversucht lassen, um Baruchs Verbindung mit Chani zu vereiteln.
Trotz aller Widerstände und hinterhältigen Machenschaften, die Mrs Levy auffahren kann, werden der gute Baruch und die selbstbewusste Chani im November 2008 ein Paar. Die mehrtägige Hochzeitszeremonie bildet den Rahmen des Romans. Im Binnenteil verfolgen wir zwei gewissermaßen gegenläufige Entwicklungen. Einerseits nähern sich Baruch und Chani einander an bis zu ihrer Heirat, andererseits entfernen sich zwei andere, reifere Ehepartner voneinander, bis ihre langjährige Ehe zerbricht. Was Rebecca Reuben und Chaim Zilberman geschah, könnte als Menetekel für die junge Verbindung zwischen Baruch und Chani aufgefasst werden.
Rebecca lernt Chaim 1981 in Jerusalem kennen. Die anfangs turbulente Studentenbeziehung büßt ihre lebensfrohe Gelöstheit ein, während Chaim sich der Tora widmet. Sein Studium der strengen religiösen Gesetze und Rituale verändert ihn selbst und beeinflusst das gemeinsame Leben und ihre Zweisamkeit. Eine Phase frischen Glücks bringt ihnen die Geburt eines Sohnes. Doch als dieser nach nur drei Jahren bei einem tragischen Unfall umkommt und Rebecca bei Chaim weder Herzensgüte noch seelischen Beistand findet, stürzt sie in eine innere Leere. Bevor ihre Ehe ganz zerbricht, entfliehen sie dem Ort der furchtbaren, traurigen Erinnerungen und widmen sich weit weg einer neuen Aufgabe. Als Rabbi und Rebbetzin übernehmen sie die Gemeinde Golders Green in London.
Aus Liebe hat Rebecca viel aufgegeben, Mini- gegen »Teppichkehrer«-Rock eingetauscht, die »Droge Spiritualität« geschluckt, und doch hat sie es nie geschafft, dort anzukommen, wo Chaim sich befindet. Nach außen hin tut sie, was von ihr erwartet wird, doch in ihr tobt ein »Tumult«, keimt Rebellion. Sie empfindet ihr Leben immer stärker als »Heuchelei«, als »Versteckspiel«. Im Kleiderschrank war noch bis vor kurzem ein Fernsehgerät verschlossen. Nun hat Chaim dieses »Fenster der Sünde«, »eine offene Kloake«, »Sodom und Gomorra in den Häusern« endgültig aus dem Haus verbannt, nachdem Rebecca es ab und zu heimlich hervorgeholt hatte. Jetzt gebietet der »heilige Ehemann an ihrer Seite«, dass Rebecca das Einkaufen mit dem Fahrrad zu unterlassen habe – es sei nicht »angemessen« für eine Rebbetzin.
Ausgerechnet diese in sich gespaltene Frau bereitet Chani auf die baldige Hochzeit und ihr späteres Eheleben vor, soll ihr die wichtigsten orthodoxen Gesetze erläutern. Etwa, dass das »rituell unreine« Menstruationsblut eine »Art Tod« bedeutet. Käme der Mann damit in Berührung, »würde er seine Seele mit Leblosigkeit beschmutzen«. Daher sind die reinigenden Tauchgänge im Frauenbad der bedeutendste »Eckpfeiler« der Ehe.
Mit warmherzigem Verständnis und vielen Prisen feiner Ironie beschreibt die Autorin ihre Figuren, porträtiert sie differenziert und in unterschiedlichem Licht, um ihre vielfältigen Züge hervortreten zu lassen, die liebenswürdigen ebenso wie die fragwürdigen, die tragischen wie die komischen und tragikomischen. Wir lesen wunderbare Szenen – amüsante wie die, als das ärmliche Ehepaar Kaufmann mit Tochter Chani zwecks Kennenlernen zum Abendessen in die noble Levy-Residenz geladen ist (»vergoldete Tapeten« und Dienstboten), und aufschlussreiche, die uns den jüdischen Alltag näher bringen, etwa vom Sabbath (»Schabbes«), dem jüdischen Ruhetag. Für die Hausfrau ist dies allerdings der Horrorarbeitstag schlechthin, denn es obliegt ihr, für »zehn Leute, fünf davon Gäste«, ein reichhaltiges Mahl vorzubereiten.
Eve Harris legt auf diese subtil humorvolle Weise Enge, Kleingeist und Zwänge bloß, die das Leben in einer ultrakonservativen, streng geregelten hierarchischen Gemeinschaft dominieren, den einen als Leitplanken auf dem Weg in ein besseres Jenseits, den anderen als Fesseln in einer diesseitigen Hölle. Bittersüß berühren die Eheszenen zwischen Rebecca und Chaim. Selbst in lebensbedrohlichen Situationen findet der Rabbi seine Orientierung in der Religion. Genau daran allerdings verzweifelt die Rebbetzin. Zwischen Freiheitsdrang und dem Postulat der Selbstaufgabe befindet sie sich in einem tragischen Konflikt, denn eine sozial anerkannte Existenz mit Chaim und den drei Kindern ist nur zu haben, wenn sie sich den orthodoxen Regeln ergibt.
»The Marrying of Chani Kaufman« , von Kathrin Bielfeldt großartig frisch, farbenfroh und lebendig übersetzt, ist ein faszinierender Roman, der ungewohnte Einblicke in eine fremde, unzeitgemäß erscheinende, abgeschottete Welt gestattet, die seit vielen Jahrhunderten den Zeitläuften widerstanden zu haben scheint und mitten unter uns und doch im Verborgenen gelebt wird. Zum leichteren Verständnis jiddischer Ausdrücke und kultureller Besonderheiten ist am Ende des Buches ein ausführliches Glossar beigefügt.
Die Autorin Eve Harris (1973 in London geboren) ist mit beiden Welten vertraut. Die Tochter polnisch-israelischer Eltern unterrichtete zwölf Jahre lang an katholischen und jüdisch-orthodoxen Mädchenschulen in London und Tel Aviv. Ihr Debütroman stand auf den Auswahllisten für den Man Booker Prize 2013 und die National Jewish Book Awards 2014.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2016 aufgenommen.