Rezension zu »Die Hochzeit der Chani Kaufman« von Eve Harris

Die Hochzeit der Chani Kaufman

von


Belletristik · Diogenes · · 464 S. · ISBN 9783257300208
Sprache: de · Herkunft: gb

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Eintritt und Ausbruch

Rezension vom 08.02.2016 · 64 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Mädchen und Frauen tragen lange Röcke. Hosen sind ihnen unter­sagt. Nach der Heirat ver­bergen sie ihr Haar unter Perücken. Die Herren sind in lange schwarze Mäntel gewandet. Unter ihren breit­krem­pigen schwarzen Hüten kringeln Ohr­locken hervor. Die meisten Männer tragen einen dichten, dunklen Vollbart.

Der Schau­platz solch exotisch entrückt anmutenden Lebens ist Golders Green mitten in London, Groß­bri­tan­niens multi­kultu­reller Kapitale, das Jahr ist 2008. Scheinbar unbe­ein­flusst von ihrer quirligen Umge­bung, von tech­nischen Hypes, modischen Trends, globali­sierter Trans­parenz und welt­anschau­licher Viel­falt leben or­tho­doxe Juden auch äußer­lich deutlich sichtbar nach ihren strengen tradi­tio­nellen Vor­schriften und Bräuchen in einer abge­schotte­ten Ge­mein­schaft.

In dieser Welt »verliebten sich die Menschen nicht«. Wenn Chani Kaufman, 19, bald den ein Jahr älteren Baruch heiraten wird, dann nicht aus Liebe, sondern weil eine kom­petente Expertin die beiden zuein­ander geführt hat. Die Vermitt­lerin kennt alle Ge­meinde­mit­glieder, wählt aus, wer ad­äquat zu­ein­ander passt, stößt erste Begeg­nungen an, fädelt die Partie ein und pro­fitiert gehörig bei Erfolg. »Falling in love« stellt Chani sich vor, »als sei die Liebe ein Bottich voll sie­den­der Flüssig­keit«.

Den Mann, mit dem sie den Rest ihres Lebens teilen soll, hat Chani erst drei Mal gesehen, und dabei störte sie durch­aus manches Detail an ihm. Doch soll sie den Kandi­daten wieder einmal ablehnen wie die ande­ren zuvor? Alle Männer suchen doch einfach ein frommes Mädchen, das den reli­giösen Geboten gemäß den Haushalt führt und an­sons­ten nicht auffällt, und viele ihrer Freun­dinnen haben sich bereits verloben lassen. Als Letzte, schlimms­ten­falls als un­ver­hei­ra­tete Jungfer übrig­zu­blei­ben, das wäre aller­dings ganz uner­träg­lich.

Also hat Chani »Ja« gesagt, guten Willens, Baruch als Ehefrau nicht zu ent­täu­schen. Doch was sie tat­säch­lich erwartet, ist ihr völlig unklar. Sie betet, dass Baruch sich weder als Lang­weiler noch als prü­geln­des Monster erweisen möge. Am meisten fürchtet sie die Hoch­zeits­nacht. Um deren Schleier ein wenig zu lüp­fen, richtet sie ihre drän­gends­ten Fragen zur rätsel­haften Inti­mität an eine Expertin, ihre Mutter. Doch ob­wohl die acht Töchter geboren hat, weicht sie aus. Sie ist mit den jüngeren Ge­schwis­tern und der Führung eines großen Haushalts perma­nent über­lastet.

Auch den Weg des braven, frommen Muster­schülers Baruch Levy haben andere schon vor­ge­ge­ben. Seine Eltern, wohl­habende und ge­ach­tete Unter­nehmer, wünschen, dass ihr »Wunder­kind« zur Krönung des fa­mi­liären Ansehens Rabbi werde. Dazu soll er an einer Jerusa­lemer Elite-Talmud­schule studieren. Nun ist ihm bei einer Hoch­zeits­feier in der Synagoge ein Mädchen von an­muti­ger Gestalt auf­ge­fal­len. Durch ein Guck­loch in der Trenn­wand zwischen dem Männer- und dem Frauen­bereich hat er heimlich ein Auge auf sie geworfen und Gefallen an ihr gefunden.

Doch vor jeder weiteren Annäherung muss Baruch zunächst seine Mutter ein­weihen – eine schwer zu neh­mende Hürde, denn Mrs Levy hat auch klare Vor­stel­lun­gen, wen ihr Sohn heir­aten soll (New Yorker Fi­nanz­adel) und wen bestimmt nicht (bettel­arme ost­euro­päi­sche Dorf­rabbi­ner-Ab­kömm­linge wie die Kauf­mans). Sie wird nichts unver­sucht lassen, um Baruchs Ver­bin­dung mit Chani zu vereiteln.

Trotz aller Widerstände und hinterhältigen Machen­schaften, die Mrs Levy auf­fahren kann, werden der gute Baruch und die selbst­be­wuss­te Chani im No­vem­ber 2008 ein Paar. Die mehr­tägige Hoch­zeits­zere­monie bildet den Rahmen des Romans. Im Binnen­teil ver­fol­gen wir zwei ge­wis­ser­maßen gegen­läufige Ent­wick­lun­gen. Einer­seits nähern sich Baruch und Chani ein­ander an bis zu ihrer Heirat, an­derer­seits ent­fernen sich zwei andere, reifere Ehe­partner von­ein­ander, bis ihre lang­jährige Ehe zerbricht. Was Rebecca Reuben und Chaim Zilber­man geschah, könnte als Mene­tekel für die junge Ver­bin­dung zwischen Baruch und Chani auf­ge­fasst werden.

Rebecca lernt Chaim 1981 in Jerusalem kennen. Die anfangs turbu­lente Stu­den­ten­be­zie­hung büßt ihre le­bens­frohe Gelöst­heit ein, während Chaim sich der Tora widmet. Sein Studium der strengen religiö­sen Ge­setze und Rituale ver­ändert ihn selbst und beein­flusst das gemein­same Leben und ihre Zwei­sam­keit. Eine Phase frischen Glücks bringt ihnen die Geburt eines Sohnes. Doch als dieser nach nur drei Jahren bei einem tragi­schen Unfall um­kommt und Rebecca bei Chaim weder Herzens­güte noch seeli­schen Bei­stand findet, stürzt sie in eine innere Leere. Bevor ihre Ehe ganz zer­bricht, ent­fliehen sie dem Ort der furcht­baren, trau­rigen Er­inne­rungen und widmen sich weit weg einer neuen Aufgabe. Als Rabbi und Reb­bet­zin über­nehmen sie die Ge­meinde Golders Green in London.

Aus Liebe hat Rebecca viel aufgegeben, Mini- gegen »Teppich­kehrer«-Rock einge­tauscht, die »Droge Spi­ri­tuali­tät« geschluckt, und doch hat sie es nie geschafft, dort anzu­kom­men, wo Chaim sich befindet. Nach außen hin tut sie, was von ihr erwar­tet wird, doch in ihr tobt ein »Tumult«, keimt Rebel­lion. Sie empfin­det ihr Leben immer stärker als »Heu­chelei«, als »Ver­steck­spiel«. Im Klei­der­schrank war noch bis vor kurzem ein Fern­seh­gerät ver­schlos­sen. Nun hat Chaim dieses »Fenster der Sünde«, »eine offene Kloake«, »Sodom und Gomorra in den Häusern« end­gültig aus dem Haus verbannt, nachdem Rebecca es ab und zu heimlich hervor­geholt hatte. Jetzt gebietet der »heilige Ehe­mann an ihrer Seite«, dass Rebecca das Ein­kaufen mit dem Fahrrad zu unter­lassen habe – es sei nicht »ange­messen« für eine Reb­bet­zin.

Ausgerechnet diese in sich gespaltene Frau bereitet Chani auf die baldige Hochzeit und ihr späteres Ehe­leben vor, soll ihr die wich­tigsten ortho­doxen Gesetze erläu­tern. Etwa, dass das »rituell unreine« Mens­trua­tions­blut eine »Art Tod« bedeutet. Käme der Mann damit in Be­rüh­rung, »würde er seine Seele mit Leb­losig­keit be­schmut­zen«. Daher sind die reini­genden Tauch­gänge im Frauen­bad der bedeu­tend­ste »Eck­pfeiler« der Ehe.

Mit warmherzigem Verständnis und vielen Prisen feiner Ironie beschreibt die Autorin ihre Figuren, por­trä­tiert sie diffe­ren­ziert und in unter­schied­lichem Licht, um ihre viel­fälti­gen Züge hervor­treten zu lassen, die liebens­würdi­gen ebenso wie die frag­würdi­gen, die tragi­schen wie die komi­schen und tragi­komi­schen. Wir lesen wunder­bare Szenen – amüsante wie die, als das ärmliche Ehepaar Kaufmann mit Tochter Chani zwecks Kennen­lernen zum Abend­essen in die noble Levy-Residenz geladen ist (»vergol­dete Tapeten« und Dienst­boten), und auf­schluss­reiche, die uns den jüdi­schen Alltag näher bringen, etwa vom Sabbath (»Schabbes«), dem jüdi­schen Ruhetag. Für die Hausfrau ist dies aller­dings der Horror­arbeits­tag schlecht­hin, denn es obliegt ihr, für »zehn Leute, fünf davon Gäste«, ein reich­halti­ges Mahl vor­zube­reiten.

Eve Harris legt auf diese subtil humorvolle Weise Enge, Klein­geist und Zwänge bloß, die das Leben in einer ultra­kon­serva­tiven, streng ge­regel­ten hierar­chi­schen Ge­mein­schaft domi­nie­ren, den einen als Leit­plan­ken auf dem Weg in ein besse­res Jen­seits, den anderen als Fes­seln in einer dies­seiti­gen Hölle. Bitter­süß berüh­ren die Ehe­szenen zwischen Rebecca und Chaim. Selbst in lebens­bedroh­lichen Situa­tio­nen findet der Rabbi seine Orien­tierung in der Reli­gion. Genau daran aller­dings ver­zwei­felt die Reb­bet­zin. Zwischen Frei­heits­drang und dem Postu­lat der Selbst­auf­gabe befin­det sie sich in einem tragi­schen Konflikt, denn eine sozial aner­kannte Exis­tenz mit Chaim und den drei Kindern ist nur zu haben, wenn sie sich den ortho­doxen Regeln ergibt.

»The Marrying of Chani Kaufman« Eve Harris: »The Marrying of Chani Kaufman« bei Amazon , von Kathrin Bielfeldt groß­artig frisch, farben­froh und leben­dig über­setzt, ist ein faszi­nie­ren­der Roman, der unge­wohnte Ein­blicke in eine fremde, un­zeit­ge­mäß er­schei­nen­de, abge­schot­tete Welt ge­stat­tet, die seit vielen Jahr­hun­der­ten den Zeit­läuf­ten wider­standen zu haben scheint und mitten unter uns und doch im Ver­bor­genen gelebt wird. Zum leich­teren Ver­ständ­nis jiddi­scher Ausdrücke und kultu­reller Be­son­der­heiten ist am Ende des Buches ein aus­führ­liches Glossar beige­fügt.

Die Autorin Eve Harris (1973 in London geboren) ist mit beiden Welten vertraut. Die Tochter polnisch-is­raeli­scher Eltern unter­rich­tete zwölf Jahre lang an katho­lischen und jüdisch-ortho­doxen Mäd­chen­schulen in London und Tel Aviv. Ihr Debüt­roman stand auf den Aus­wahl­listen für den Man Booker Prize 2013 und die National Jewish Book Awards 2014.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2016 aufgenommen.


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