Verlorene Kinder
Rosaleen Madigan schreibt Weihnachtskarten an ihre vier erwachsenen Kinder. Werden die Empfänger sich über ihre Grüße freuen? Werden sie womöglich das Bedürfnis verspüren, nach Hause zu kommen? Rosaleen, 76, macht sich keine Illusionen. Sie fügt ihrem Text ein Postskriptum an: »Ich habe beschlossen, das Haus zu verkaufen.« Das wird ihnen zu denken geben, das wird sie herbeilocken.
Die Madigans sind eine zentrifugale Familie. Rosaleen ist ihr Dreh- und Angelpunkt. Constance, Emmet, Dan und Hanna, alle in den Sechzigerjahren geboren, ließen das elterliche Haus in Ardeevin, County Clare (Irland), hinter sich, um irgendwo in der Ferne einen unabhängigen Lebensweg für sich zu finden. Nun ist es nichts Ungewöhnliches, dass der Nachwuchs flügge wird; die jungen Madigans jedoch sind Nestflüchter. Ihre Mutter ist egozentrisch, berechnend, theatralisch und besitzergreifend – »eine Frau, die nichts tat und alles erwartete«. Deshalb trachten die Kinder danach, sich ihrem Einfluss zu entziehen. Doch der hat seine fatale Wirkung längst getan: Alle Madigans sind liebes- und bindungsunfähig, eine Familie versehrter Charaktere.
Aus der psychologischen und räumlichen Grundkonstellation ergibt sich die Struktur des Familienromans »The green road« von Anne Enright, den Hans-Christian Oeser übersetzt hat. In den Kapiteln des ersten Teils (»Abschied«) steht jeweils eines der Kinder im Mittelpunkt der Handlung – ein Reigen, den Rosaleen mit ihrer Einladung zum Weihnachtsfest 2005 beschließt. Der zweite Teil (»Heimkehr«) erzählt, wie sich die Familie schließlich nach vielen Jahren wieder zu Hause versammelt.
Der Roman setzt über zwei Jahrzehnte zuvor ein. Die sechzehnjährige Hanna hat Käsetoasts für alle gemacht. Ihre Mutter ist nicht gut drauf. Sie kommt nur kurz zu Hanna in die Küche, um eine Wärmflasche mit heißem Wasser zu füllen. Dann zieht sie sich wieder in ihr Zimmer zurück. Solche Tage, an denen Rosaleen die »horizontale Lösung« bevorzugt, gab es in der Vergangenheit schon häufiger, doch dieses Mal hält der schlimme Zustand besonders lang an. Auslöser war Hannas älterer Bruder Dan. Nachdem er der Mutter zwei Wochen zuvor eröffnet hatte, dass er Priester werden wolle, musste Hanna ihr in der Apotheke des Onkels Schmerz- und Erkältungsmittel besorgen, um das Elend solcher familiärer Zukunftsperspektiven abzufedern.
1991 ist diese Phase bereits Vergangenheit. Dan, inzwischen »der entlaufene Priester«, lebt in New York seine Homosexualität voll aus. In der hippen Kunstszene der vibrierenden Metropole gibt man sich ohne Hemmungen Genuss und Lust hin. Der Preis dafür ist hoch, »damals im East Village, als alle im Sterben lagen«, und auch in Dans Freundeskreis gibt es jede Menge HIV-Infizierte und Aids-Tote. Der attraktive, von vielen Männern begehrte, aber kaltherzige Dan – einer, »der alles bot und alles verlangte« – hat zwar eine Affäre, hält sich aber eine Option zum weiblichen Geschlecht offen. (Die schonungslose Offenheit dieses Kapitels mit entsprechend deutlichem Vokabular wird im Übrigen manchen Leser peinlich berühren.)
Sechs Jahre später begleiten wir Rosaleens ältestes Kind in County Limerick zu einem Mammographietermin im Krankenhaus. Constance McGarth ist glücklich und reich verheiratet. Die McGarth-Sippe profitiert von Irlands wirtschaftlichem Boom jener Jahre. Als Mutter dreier Teenage-Kinder, die rund um die Uhr den Haushalt schmeißt, steckt die siebenunddreißigjährige Constance »mittendrin ... zwischen Brutpflege und Brustkrebs, zwischen Stillen und Sterben«. Für ihren stark übergewichtigen, schwabbeligen Körper empfindet sie nur Ablehnung und Verachtung. Ihre Ängste kann sie mit niemandem teilen. Ihr Mann Dessie vergisst solche »Dinge« wie Krebs stets, weil sie ihn »zu sehr ... ängstigten«, und ihre Mutter hat immer nur spitze Bemerkungen auf den Lippen (»Tu was!«, um als Frau attraktiv zu bleiben: »Lern reiten.«).
Weitere fünf Jahre später hat es Emmet, 37, nach Mali verschlagen. Jahrelang ist er vor seiner unerträglichen Mutter geflohen, von einem Land ins nächste. Als Entwicklungshelfer war er für eine Organisation der Welthungerhilfe ausgezogen, um eine »Welt zu retten, die noch immer nicht gerettet war«, und hat damit »sein Leben wie Wasser im Sand von Afrika vergossen«. Sein Berufsethos ist von Desinteresse ausgehöhlt; für das Elend und die Menschen hat er kaum Empathie. Gerade ruiniert er seine Beziehung zu einer Frau, die, während rundum Menschen verhungern, einen versifften, kranken Straßenköter aufpeppeln will.
Jetzt steht das Weihnachtsfest 2005 vor der Tür, und Rosaleen fragt sich, warum es niemanden gibt, der sie liebt. Selbst ihr Ehemann hatte in seinen letzten Lebensjahren »kaum noch etwas oder gar nichts mehr gesagt«, und sie weiß: »auch das war ihre Schuld«. Als Tochter eines Apothekers war es unter ihrem Stand gewesen, Pat Madigan, einen Landwirt, zu heiraten, und nie konnte sie ihren Dünkel, eine Bessere zu sein, ablegen. Im Gegenteil, sie kultivierte das Divenhafte bis zur Perfektion. Dazu gehörte zur passenden Gelegenheit eine theatralische Wehleidigkeit. Rosaleen »liebte eine gute Tragödie«, und bei Bedarf traten ihr »Tränen – echte Tränen in die Augen«. Mit der Zeit wurde aus ihr eine falsche, »spitzzüngige«, unnahbare Schlange, die »sich nur ungern berühren« ließ und ihren Kindern keine Liebe schenken konnte.
Von allen verlassen, lebt Rosaleen allein, gelangweilt, ohne Lebensinhalt in ihrem heruntergekommenen Haus in Ardeevin und grollt mit ihren »undankbaren« Kindern, die ihr die »Schuld« an allem anlasten. Am Weihnachtstag – zu »Rosaleens Fest« – spielt sie ihren letzten, miesen Trumpf aus. In bewährter Weise setzt sie auf Emotionen und die widersprüchlichen Ängste ihrer Kinder ...
Je nach Person und Charakter seziert die Autorin die einzelnen Familienmitglieder des Madigan-Clans in unterschiedlichen Tönen. Mal sehr gefühlvoll, mal radikal, mal ganz kühl und unsentimental, oft mit einer Prise spöttischen Humors rückt sie ihren Figuren auf die Pelle. Alle sind Erwachsene voller Abgründe, vermeintlich fern von den anderen und doch eng miteinander verbunden. Keiner konnte sich vom Elternhaus wirklich abnabeln, schon gar nicht von Rosaleen, deren unsichtbare Fäden die Kinder immer noch führen, da sie sie nie durchtrennen konnten. Rosaleen weiß, was es ist, worauf alle lauern: »Alle warteten nur darauf, dass Rosaleen starb«.
Anne Enright liefert eine literarisch meisterliche und psychologisch tiefgründige Analyse dieser desolaten Familie. Die Bausteine ihres Romans sind kleine Szenen, die wie Projektionen vergrößert werden, um seelenruhig alle Details intensiv auszuleuchten, einschließlich der dunklen Seiten der menschlichen Seele. So offenbart die Autorin die Charakterzüge ihrer Figuren in teils beklemmender Intensität, entblößt sie aber nicht bis zur Peinlichkeit.
Leider fehlt es oft an Hintergrundinformationen. Was zum Beispiel ist die Ursache für Rosaleens Entsetzen über den doch eigentlich ehrenwerten Berufswunsch ihres Sohnes? Auch Emmets Lebensweg lässt etliche Fragen offen. Natürlich kann dazu jeder nach Gutdünken selber spekulieren, aber bei zu vielen Leerstellen leidet die Geschlossenheit der Geschichte.