Rezension zu »Rosaleens Fest« von Anne Enright

Rosaleens Fest

von


Familienroman · DVA · · Gebunden · 384 S. · ISBN 9783421047007
Sprache: de · Herkunft: gb

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Verlorene Kinder

Rezension vom 11.02.2016 · 3 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Rosaleen Madigan schreibt Weihnachtskarten an ihre vier erwach­senen Kinder. Werden die Emp­fänger sich über ihre Grüße freuen? Werden sie wo­mög­lich das Bedürf­nis verspüren, nach Hause zu kommen? Rosa­leen, 76, macht sich keine Illusionen. Sie fügt ihrem Text ein Post­skriptum an: »Ich habe beschlossen, das Haus zu verkaufen.« Das wird ihnen zu denken geben, das wird sie herbei­locken.

Die Madigans sind eine zentri­fugale Familie. Rosa­leen ist ihr Dreh- und Angel­punkt. Constance, Emmet, Dan und Hanna, alle in den Sech­ziger­jahren geboren, ließen das elterliche Haus in Ardeevin, County Clare (Irland), hinter sich, um irgendwo in der Ferne einen unab­hängigen Lebens­weg für sich zu finden. Nun ist es nichts Unge­wöhn­liches, dass der Nach­wuchs flügge wird; die jungen Madigans jedoch sind Nest­flüch­ter. Ihre Mutter ist ego­zentrisch, berech­nend, theatra­lisch und besitz­ergreifend – »eine Frau, die nichts tat und alles erwartete«. Deshalb trachten die Kinder danach, sich ihrem Einfluss zu ent­ziehen. Doch der hat seine fatale Wirkung längst getan: Alle Madigans sind liebes- und bin­dungs­unfähig, eine Familie ver­sehr­ter Charak­tere.

Aus der psychologischen und räumlichen Grund­konstel­lation ergibt sich die Struktur des Familien­romans »The green road« Anne Enright: »The green road« bei Amazon von Anne Enright, den Hans-Christian Oeser übersetzt hat. In den Kapiteln des ersten Teils (»Abschied«) steht jeweils eines der Kinder im Mittel­punkt der Handlung – ein Reigen, den Rosa­leen mit ihrer Einladung zum Weih­nachts­fest 2005 beschließt. Der zweite Teil (»Heim­kehr«) erzählt, wie sich die Familie schließ­lich nach vielen Jahren wieder zu Hause ver­sam­melt.

Der Roman setzt über zwei Jahrzehnte zuvor ein. Die sech­zehn­jährige Hanna hat Käse­toasts für alle ge­macht. Ihre Mutter ist nicht gut drauf. Sie kommt nur kurz zu Hanna in die Küche, um eine Wärm­flasche mit heißem Wasser zu füllen. Dann zieht sie sich wieder in ihr Zimmer zurück. Solche Tage, an denen Rosa­leen die »hori­zon­tale Lösung« bevor­zugt, gab es in der Ver­gangen­heit schon häufiger, doch dieses Mal hält der schlimme Zustand beson­ders lang an. Auslöser war Hannas älterer Bruder Dan. Nachdem er der Mutter zwei Wochen zuvor eröff­net hatte, dass er Priester werden wolle, musste Hanna ihr in der Apotheke des Onkels Schmerz- und Erkäl­tungs­mittel besorgen, um das Elend solcher fami­liärer Zukunfts­perspek­tiven abzu­federn.

1991 ist diese Phase bereits Vergangenheit. Dan, inzwischen »der ent­laufene Priester«, lebt in New York seine Homo­sexua­lität voll aus. In der hippen Kunst­szene der vibrie­renden Metro­pole gibt man sich ohne Hem­mungen Genuss und Lust hin. Der Preis dafür ist hoch, »damals im East Village, als alle im Sterben lagen«, und auch in Dans Freun­des­kreis gibt es jede Menge HIV-Infi­zierte und Aids-Tote. Der attraktive, von vielen Männern begehrte, aber kalt­herzige Dan – einer, »der alles bot und alles verlangte« – hat zwar eine Affäre, hält sich aber eine Option zum weib­lichen Geschlecht offen. (Die scho­nungs­lose Offen­heit dieses Kapitels mit ent­spre­chend deut­lichem Vokabular wird im Übrigen manchen Leser peinlich berüh­ren.)

Sechs Jahre später begleiten wir Rosa­leens ältestes Kind in County Limerick zu einem Mammo­graphie­ter­min im Krankenhaus. Constance McGarth ist glücklich und reich verhei­ratet. Die McGarth-Sippe profit­iert von Irlands wirt­schaft­lichem Boom jener Jahre. Als Mutter dreier Teen­age-Kinder, die rund um die Uhr den Haus­halt schmeißt, steckt die sieben­und­dreißig­jährige Constance »mitten­drin ... zwischen Brut­pflege und Brust­krebs, zwischen Stillen und Sterben«. Für ihren stark über­gewich­tigen, schwabbe­ligen Körper empfindet sie nur Ableh­nung und Verach­tung. Ihre Ängste kann sie mit nie­man­dem teilen. Ihr Mann Dessie vergisst solche »Dinge« wie Krebs stets, weil sie ihn »zu sehr ... ängstig­ten«, und ihre Mutter hat immer nur spitze Bemer­kungen auf den Lippen (»Tu was!«, um als Frau attrak­tiv zu bleiben: »Lern rei­ten.«).

Weitere fünf Jahre später hat es Emmet, 37, nach Mali ver­schla­gen. Jahre­lang ist er vor seiner uner­trägli­chen Mutter geflohen, von einem Land ins nächste. Als Ent­wick­lungs­helfer war er für eine Organi­sation der Welt­hunger­hilfe ausge­zogen, um eine »Welt zu retten, die noch immer nicht gerettet war«, und hat damit »sein Leben wie Wasser im Sand von Afrika ver­gos­sen«. Sein Berufs­ethos ist von Des­inte­resse aus­ge­höhlt; für das Elend und die Menschen hat er kaum Empathie. Gerade ruiniert er seine Bezie­hung zu einer Frau, die, während rundum Menschen verhun­gern, einen versiff­ten, kranken Straßen­köter auf­peppeln will.

Jetzt steht das Weihnachtsfest 2005 vor der Tür, und Rosa­leen fragt sich, warum es nie­man­den gibt, der sie liebt. Selbst ihr Ehe­mann hatte in seinen letzten Lebens­jahren »kaum noch etwas oder gar nichts mehr ge­sagt«, und sie weiß: »auch das war ihre Schuld«. Als Tochter eines Apo­thekers war es unter ihrem Stand gewesen, Pat Madigan, einen Land­wirt, zu heiraten, und nie konnte sie ihren Dünkel, eine Bessere zu sein, ablegen. Im Gegenteil, sie kulti­vierte das Diven­hafte bis zur Per­fek­tion. Dazu gehörte zur pas­sen­den Ge­le­gen­heit eine theatra­lische Weh­leidig­keit. Rosa­leen »liebte eine gute Tragö­die«, und bei Bedarf traten ihr »Tränen – echte Tränen in die Augen«. Mit der Zeit wurde aus ihr eine falsche, »spitz­züngige«, unnah­bare Schlange, die »sich nur ungern berüh­ren« ließ und ihren Kindern keine Liebe schenken konnte.

Von allen verlassen, lebt Rosa­leen allein, gelang­weilt, ohne Lebens­inhalt in ihrem herun­terge­komme­nen Haus in Ardee­vin und grollt mit ihren »undank­baren« Kindern, die ihr die »Schuld« an allem anlasten. Am Weih­nachts­tag – zu »Rosa­leens Fest« – spielt sie ihren letzten, miesen Trumpf aus. In bewährter Weise setzt sie auf Emo­tionen und die wider­sprüch­lichen Ängste ihrer Kinder ...

Je nach Person und Charakter seziert die Autorin die ein­zel­nen Fami­lien­mit­glie­der des Madigan-Clans in unter­schied­lichen Tönen. Mal sehr gefühl­voll, mal radikal, mal ganz kühl und unsen­timen­tal, oft mit einer Prise spötti­schen Humors rückt sie ihren Figuren auf die Pelle. Alle sind Erwach­sene voller Abgründe, ver­meint­lich fern von den anderen und doch eng mit­ein­ander verbunden. Keiner konnte sich vom Eltern­haus wirklich ab­nabeln, schon gar nicht von Rosa­leen, deren un­sicht­bare Fäden die Kinder immer noch führen, da sie sie nie durch­trennen konnten. Rosa­leen weiß, was es ist, worauf alle lauern: »Alle war­teten nur darauf, dass Rosa­leen starb«.

Anne Enright liefert eine literarisch meister­liche und psycho­logisch tief­gründige Analyse dieser deso­laten Familie. Die Bau­steine ihres Romans sind kleine Szenen, die wie Projek­tionen vergrößert werden, um seelen­ruhig alle Details intensiv aus­zu­leuch­ten, ein­schließ­lich der dunklen Seiten der mensch­lichen Seele. So offen­bart die Autorin die Cha­rakter­züge ihrer Figuren in teils beklem­mender Inten­sität, entblößt sie aber nicht bis zur Pein­lich­keit.

Leider fehlt es oft an Hinter­grund­infor­matio­nen. Was zum Beispiel ist die Ursache für Rosa­leens Entsetzen über den doch eigent­lich ehren­werten Berufs­wunsch ihres Sohnes? Auch Emmets Lebens­weg lässt etliche Fragen offen. Natürlich kann dazu jeder nach Gut­dünken selber speku­lieren, aber bei zu vielen Leer­stellen leidet die Ge­schlos­sen­heit der Geschichte.


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