Zimtschnecken gegen das Böse
Martas Reiterhof in Fjällbacka ist der Traum jeder Pferdenärrin. Aber es ist kein Ponyhof für naive kleine Mädchen. Die erfahrene Expertin erwartet von den Reiterinnen gute Leistungen und viel Engagement: Sie müssen die Tiere regelmäßig bewegen, sorgfältig pflegen, sie und sich selbst gewissenhaft auf Wettkämpfe vorbereiten. Prinzessinnengetue um das Lieblingspferd und Teenager-Animositäten duldet sie nicht. Um die Gesundheit der Pferde kümmert sich Ehemann Jonas, der als Tiermediziner auch auf den benachbarten Höfen nach dem Rechten schaut.
Allerdings liegt ein Schatten über der Idylle, seit vor vier Monaten eine der Reiterinnen auf einmal nicht mehr aufzufinden war. Vor der jungen Victoria Hallberg war bereits eine Handvoll anderer Vierzehn- bis Sechzehnjähriger in der Gegend um Göteborg spurlos verschwunden. Weder die umfänglichen Verhöre der Angehörigen und der Freundeskreise noch die Koordinierung aller Kommissariate, die mit diesen Fällen befasst waren, brachte der Polizei irgendwelche hilfreiche Spuren. Offensichtlich treibt ein Serientäter sein Unwesen.
Eine entscheidende Wendung nimmt der Fall, als Marta bei einem Ausritt mit ihrem Hengst mitten im eisigen Winterwald auf Victoria trifft. Von panischer Angst getrieben, kommt ihr das spärlich bekleidete Mädchen auf nackten Füßen entgegengelaufen. Doch Victoria scheint ihre Umgebung gar nicht wahrzunehmen, auch das Auto nicht, das plötzlich aus dem Nichts auftaucht, sie erfasst und zu Boden reißt. Wenig später stirbt sie an ihren schweren Verletzungen. Der Fall gewinnt noch an schockierender Dramatik, als die Ärzte am Körper der Toten grausame Wundmale entdecken – Spuren der Folter, die ihr während der Zeit ihres Verschwindens zugefügt wurden.
Jetzt kommt Kommissar Zufall ins Spiel. Eine Kollegin des leitenden Ermittlers Patrik Hedström erinnert sich dunkel an einen weit in der Vergangenheit liegenden ungeklärten Fall, ebenfalls ein Gewaltverbrechen an einem Mädchen. Deren Leichnam wies die gleichen Folterspuren auf wie Victorias Körper. Die Erkenntnis schenkt der Polizei zwar keine Siebenmeilenstiefel, aber wenigstens ein winziges Puzzlesteinchen, das sich später in ein Gesamtbild einfügen wird.
In seinem familiären Umfeld findet Kommissar Hedström weitere hilfreiche Unterstützung für seine Ermittlungsarbeit. Seine Frau, Erica Falck, ist Schriftstellerin. Stets um Authentizität ihrer Romane bemüht, ist sie für ihr neuestes Buchprojekt auf der Suche nach einem realen Hintergrund. Dazu hat sie Kontakt mit einer verurteilten Mörderin aufgenommen, die seit den Siebzigerjahren in einer nahegelegenen Haftanstalt untergebracht ist. Ihre blutige Tat – Ehemann Vladek wurde erstochen – löste eine Familientragödie aus. Peter, der geliebte Sohn, verschwand, Tochter Luise, auffällig aggressiv, wurde in eine Pflegefamilie gegeben. Bei einem Sommerausflug mit einer Freundin ertrank das junge Mädchen in einem Badesee, ohne dass ihre Leiche je gefunden wurde.
Erica Falcks Recherchen werfen die Frage auf, ob es womöglich einen Zusammenhang geben könnte zwischen den vermissten Mädchen, um deren Schicksal sich Patrik Hedström bemüht, und den Ereignissen um die Ehegattenmörderin Laila dreißig Jahre zuvor. Doch Laila ist schweigsam, für Therapeuten und Wärter unerreichbar.
»Die Schneelöwin« (»Lejontämjaren«, übersetzt von Katrin Frey) ist bereits der neunte Band, in dem das Paar Falck-Hedström Licht in die Düsternis skandinavischer Kriminalfälle bringt. Camilla Läckberg erzählt davon so routiniert, dass ihre Romane regelmäßig die Bestseller-Listen erstürmen. Was ist ihr Erfolgsgeheimnis?
Die schwedische Autorin nimmt ihre gewaltige Leserschar mit auf eine im Prinzip geruhsame, geradezu biedere Ermittlungsreise. Im Zentrum steht die Familie Falck-Hedström mit drei Kindern, dank gelungener Arbeitsteilung, Kommunikation und Erziehung ein Musterbeispiel glücklichen Zusammenlebens. Das offenkundig tief verankerte Harmoniebedürfnis der Autorin verhindert, dass diese Idealwelt auch nur im Geringsten kontaminiert wird durch die andere Seite – die sehr, sehr böse Welt verderbter Charaktere, verkorkster Lebensverhältnisse, brutaler Verbrechen. Hierin unterscheiden sich Camilla Läckbergs Krimis von denen mancher Kollegen: Wo deren Ermittler in tiefe Lebens- und Sinnkrisen stürzen, während sie sich mit den berüchtigten nordischen Übeltätern herumschlagen müssen, ruhen Läckberg-Figuren in ihrem soliden familiären Hintergrund und wappnen sich im Übrigen, indem sie zum Beispiel in jeder Lebenslage ihrem Faible für Zimtschnecken frönen. Das Maximum an Noir-Krise durchlebt Polizeichef Bertil Mellström, vermeintlich völlig ausgelaugt, de facto aber schlicht ein »Jammerlappen« und Verpisser, der gern andere die heißen Kartoffeln aus dem Feuer holen lässt, um sich später die Lorbeeren dafür anstecken zu können. Die emsigen Kollegen nehmen's so amüsiert wie der Leser.
Zwar gemächlich und brav, aber niemals langweilig schreitet die Handlung voran. Läckbergs Erzählstil ist unaufgeregt, der Krimiplot entwickelt sich logisch und stimmig. Geschickt gesetzte Cliffhanger am Ende jeder Episode halten die Spannung durchweg hoch, und etliche geschickte Täuschungsmanöver für unsere Bauchgefühle und unerwartete Überraschungen aus dem Werkzeugkasten der Autorin verhindern, dass wir dem Serientäter zu früh auf die Spur kommen.
Kurzum: Camilla Läckberg ist ein echter Profi ihres Metiers.