Rezension zu »Richtig hohe Absätze« von Federico Jeanmaire

Richtig hohe Absätze

von


Eine fünfzehnjährige Chinesin, in Argentinien aufgewachsen, muss nach China zurückkehren. Fremd ist sie in beiden Welten gleichermaßen. Ihr Großvater leitet sie an, ihre eigene Kultur anzunehmen – und zu sich selbst zu finden.
Belletristik · Unionsverlag · · 160 S. · ISBN 9783293005303
Sprache: de · Herkunft: ar

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Wo gehöre ich hin?

Rezension vom 02.07.2018 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Su Nuam ist fünfzehn und Chinesin. Aber sie lebt mit ihren Eltern auf der anderen Hälfte des Planeten, in Argenti­nien. Durch ihre Erzählung nehmen wir Anteil an einem Prozess individu­eller Selbstfindung. Vor dem Hintergrund eines beispiel­haften Schicksals tristen chinesi­schen Migranten­tums beginnt er in der schmerzli­chen Zerrissen­heit zwischen zwei diametral entfernten Kulturen und endet in der glücklich gewach­senen Akzeptanz der eigenen Wurzeln. Daraus wächst Su Nuams Kraft, sich der Welt erneut zu öffnen – jetzt selbstbe­stimmt.

Eine Art Heimatgefühl hat das Mädchen selbst in der öden Realität von Buenos Aires entwickelt. Die Familie wohnt in einem Beton-Mono­block im hässli­chen, verwahr­losten Vorort Glew, wo ihr Vater einen Super­markt leitet. Plünde­rungen und Raub­über­fälle sind an der Tagesord­nung, aber Lin Jang Xian ist auf alles vorbe­reitet. Sein Geschäft ist mit Gitter und Eisentür gesichert, und nachts schläft er nicht bei Frau und Tochter, sondern hält, so gut das geht, Wache im Laden, eine geladene Pistole griffbe­reit neben seiner Matratze.

Su Nuam heißt hier Sonia Lin, findet Freundin­nen, lernt Spanisch und fühlt sich fast wie eine Argenti­nierin. Doch die Wut der Einheimi­schen auf die Fremden ist zu groß. Eine Jugend­gang überfällt den Super­markt, zündet die Räume an, und in den Flammen kommt Lin Jang Xian ums Leben.

Die Mutter kehrt mit der Tochter nach China zurück und über­lässt Su Nuam den Eltern des Vaters, während sie selbst zu ihren Eltern nach Peking zieht. Das Mädchen ist in ihrem Geburts­land nicht weniger fremd, als sie es in Buenos Aires war: die Lebens­weise, eine Sprache, die sie nicht beherrscht, dazu ihre persön­liche Verun­siche­rung, ob sie bereits eine Frau sei. Wie zum Trotz oder um Halt zu finden, lernt sie weiter­hin Spanisch – mit ihren Sprach­kennt­nissen, so träumt sie, könne sie viel­leicht Arbeit in der Tou­rismus­branche finden – und hält ihre Erinne­rungen an die Zeit in Argen­tinien in einem Büchlein fest. Dass sie dort Tage voller Lange­weile zuge­bracht und sich trotz der Warnun­gen des Vaters falschen Freunden angeschlos­sen hatte, spart sie nicht aus.

Trost weiß ihr der liebevolle Großvater Lin An Bo zu spenden. In vielem kann er seine Enkelin nicht verstehen, und vor allem fürchtet er um ihre Zukunfts­träume, die ihn allzu schmerzlich an die Visionen seines Sohnes und dessen entsetz­liches Ende in einer anderen Welt erin­nern. Aber er hilft Su Nuam, ihre Ängste zu bewäl­tigen, indem er sie zur Konzen­tration auf sich selbst anleitet, wie es chinesi­schen Philoso­phien entspricht. Solche Gedanken sind Su Nuam nicht fremd; bereits in Argenti­nien reflek­tierte sie über das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und den anderen und der Un­möglich­keit, die Welt der anderen zu beein­flussen.

Des Großvaters eigene Träume entsprangen Maos Kulturrevolution und sollten ihm ein fried­ferti­ges Leben an den ruhigen Wassern der Kanäle von Suzhou verschaf­fen. Stattdes­sen schufte­ten er und seine Frau jahrein, jahraus in Fabriken und hausten iro­nischer­weise eben­falls in einem »Monoblock«. Erst im Alter kann Lin An Bo am Kanal rudern und an einem Verkaufs­stand Schüsseln voller Kröten und Schlangen zum Verzehr feilbieten.

Noch vor ihrem sechzehnten Geburtstag wendet sich Su Nuams Schicksal erneut. Eine Firma, die sich um einen Großauf­trag in Argenti­nien bemüht, sucht eine Dol­metsche­rin für die Handels­delega­tion und vergibt den Job an das eigent­lich viel zu junge Mädchen. Geschminkt, mit streng gebun­denen Haaren, in Business-Kleidung und Schuhen »mit richtig hohen Absätzen« gefällt sie sich, denn nun ist sie »eine Frau. Ganz ohne fast«.

Es wird eine Reise der Begleichung offener Rechnungen. Dass Lin Jang Xian in fremder Erde und ohne die Jahrtau­sende alten Rituale seiner Heimat bestattet worden war, raubte seinem Vater den Seelen­frieden. Jetzt darf er seine Enkelin begleiten, seinem Sohn mit Räucher­gaben die letzte Ehre erweisen und sich von ihm ver­abschie­den. Su Nuam sucht an ihrem freien Tag die alten Freun­din­nen in Glew auf, und es gelingt ihr, die Mörder ihres Vaters aufzuspüren.

Bei allem Ernst solcher Szenen liefert die Geschäftsreise auch köstliches Amüse­ment. Die Argenti­nier bringen ihren eigenen Dolmet­scher mit, der ihre hochnäsi­gen, beleidi­gen­den Kommen­tare natürlich nicht überset­zen darf. Dass die kleine Chinesin mit den »richtig hohen Absätzen« auch derlei Zwischen­bemer­kungen perfekt aufschnappt, schriftlich fixiert und eins zu eins weiter­leitet, ahnen sie freilich nicht. So brilliert Su Nuam in ihrer Rolle und verschafft ihren Lands­leuten entschei­dende Ver­handlungs­vor­teile.

Am Ende sind alle mit sich im Reinen: Der Vertrag ist in der Tasche, Su Nuams Vater bei seinen Ahnen, sein Mörder bestraft, der Groß­vater getröstet, Su Nuam stolz und aner­kannt auf der Rückreise in ihre Heimat. Für sie ist »die Ordnung der Welt wieder­herge­stellt«, und sie hat sich selbst gefun­den: »Ich bin, wer ich bin.«

Dem Argentinier Federico Jeanmaire, 1957 geboren, ist mit »Tacos altos« Federico Jeanmaire: »Tacos altos« bei Amazon, übersetzt von Peter Kultzen, ein außer­gewöhn­licher, aussage­starker und berühren­der Roman gelungen. Stilis­tisch eher unter­kühlt und sehr kompakt beschreibt er das Leben in zwei konträ­ren Kulturen, erzählt die Zerrissen­heit und Verloren­heit seiner Prota­gonis­tin und wie ihr Großvater sie behut­sam anleitet, ihre eigene und doch fremde chinesi­sche Kultur kennen­zuler­nen, zu verstehen und anzu­neh­men. Damit zeigt er ihr den Weg zu sich selbst auf.

Am Ende der kleinen, dichten Erzählung könnte Jeanmaires inzwischen zur Souverä­nität gewach­sene Protago­nistin auf den Unterbau ihres Egos durch modische Acces­soires locker verzichten. Dass sie sich in London ein schönes Paar Schuhe mit richtig hohen Absätzen kauft, tut sie denn auch aus purer Lust am Leben und mit einem Schuss Selbstironie.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Sommer 2018 aufgenommen.


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