Richtig hohe Absätze
von Federico Jeanmaire
Eine fünfzehnjährige Chinesin, in Argentinien aufgewachsen, muss nach China zurückkehren. Fremd ist sie in beiden Welten gleichermaßen. Ihr Großvater leitet sie an, ihre eigene Kultur anzunehmen – und zu sich selbst zu finden.
Wo gehöre ich hin?
Su Nuam ist fünfzehn und Chinesin. Aber sie lebt mit ihren Eltern auf der anderen Hälfte des Planeten, in Argentinien. Durch ihre Erzählung nehmen wir Anteil an einem Prozess individueller Selbstfindung. Vor dem Hintergrund eines beispielhaften Schicksals tristen chinesischen Migrantentums beginnt er in der schmerzlichen Zerrissenheit zwischen zwei diametral entfernten Kulturen und endet in der glücklich gewachsenen Akzeptanz der eigenen Wurzeln. Daraus wächst Su Nuams Kraft, sich der Welt erneut zu öffnen – jetzt selbstbestimmt.
Eine Art Heimatgefühl hat das Mädchen selbst in der öden Realität von Buenos Aires entwickelt. Die Familie wohnt in einem Beton-Monoblock im hässlichen, verwahrlosten Vorort Glew, wo ihr Vater einen Supermarkt leitet. Plünderungen und Raubüberfälle sind an der Tagesordnung, aber Lin Jang Xian ist auf alles vorbereitet. Sein Geschäft ist mit Gitter und Eisentür gesichert, und nachts schläft er nicht bei Frau und Tochter, sondern hält, so gut das geht, Wache im Laden, eine geladene Pistole griffbereit neben seiner Matratze.
Su Nuam heißt hier Sonia Lin, findet Freundinnen, lernt Spanisch und fühlt sich fast wie eine Argentinierin. Doch die Wut der Einheimischen auf die Fremden ist zu groß. Eine Jugendgang überfällt den Supermarkt, zündet die Räume an, und in den Flammen kommt Lin Jang Xian ums Leben.
Die Mutter kehrt mit der Tochter nach China zurück und überlässt Su Nuam den Eltern des Vaters, während sie selbst zu ihren Eltern nach Peking zieht. Das Mädchen ist in ihrem Geburtsland nicht weniger fremd, als sie es in Buenos Aires war: die Lebensweise, eine Sprache, die sie nicht beherrscht, dazu ihre persönliche Verunsicherung, ob sie bereits eine Frau sei. Wie zum Trotz oder um Halt zu finden, lernt sie weiterhin Spanisch – mit ihren Sprachkenntnissen, so träumt sie, könne sie vielleicht Arbeit in der Tourismusbranche finden – und hält ihre Erinnerungen an die Zeit in Argentinien in einem Büchlein fest. Dass sie dort Tage voller Langeweile zugebracht und sich trotz der Warnungen des Vaters falschen Freunden angeschlossen hatte, spart sie nicht aus.
Trost weiß ihr der liebevolle Großvater Lin An Bo zu spenden. In vielem kann er seine Enkelin nicht verstehen, und vor allem fürchtet er um ihre Zukunftsträume, die ihn allzu schmerzlich an die Visionen seines Sohnes und dessen entsetzliches Ende in einer anderen Welt erinnern. Aber er hilft Su Nuam, ihre Ängste zu bewältigen, indem er sie zur Konzentration auf sich selbst anleitet, wie es chinesischen Philosophien entspricht. Solche Gedanken sind Su Nuam nicht fremd; bereits in Argentinien reflektierte sie über das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und den anderen und der Unmöglichkeit, die Welt der anderen zu beeinflussen.
Des Großvaters eigene Träume entsprangen Maos Kulturrevolution und sollten ihm ein friedfertiges Leben an den ruhigen Wassern der Kanäle von Suzhou verschaffen. Stattdessen schufteten er und seine Frau jahrein, jahraus in Fabriken und hausten ironischerweise ebenfalls in einem »Monoblock«. Erst im Alter kann Lin An Bo am Kanal rudern und an einem Verkaufsstand Schüsseln voller Kröten und Schlangen zum Verzehr feilbieten.
Noch vor ihrem sechzehnten Geburtstag wendet sich Su Nuams Schicksal erneut. Eine Firma, die sich um einen Großauftrag in Argentinien bemüht, sucht eine Dolmetscherin für die Handelsdelegation und vergibt den Job an das eigentlich viel zu junge Mädchen. Geschminkt, mit streng gebundenen Haaren, in Business-Kleidung und Schuhen »mit richtig hohen Absätzen« gefällt sie sich, denn nun ist sie »eine Frau. Ganz ohne fast«.
Es wird eine Reise der Begleichung offener Rechnungen. Dass Lin Jang Xian in fremder Erde und ohne die Jahrtausende alten Rituale seiner Heimat bestattet worden war, raubte seinem Vater den Seelenfrieden. Jetzt darf er seine Enkelin begleiten, seinem Sohn mit Räuchergaben die letzte Ehre erweisen und sich von ihm verabschieden. Su Nuam sucht an ihrem freien Tag die alten Freundinnen in Glew auf, und es gelingt ihr, die Mörder ihres Vaters aufzuspüren.
Bei allem Ernst solcher Szenen liefert die Geschäftsreise auch köstliches Amüsement. Die Argentinier bringen ihren eigenen Dolmetscher mit, der ihre hochnäsigen, beleidigenden Kommentare natürlich nicht übersetzen darf. Dass die kleine Chinesin mit den »richtig hohen Absätzen« auch derlei Zwischenbemerkungen perfekt aufschnappt, schriftlich fixiert und eins zu eins weiterleitet, ahnen sie freilich nicht. So brilliert Su Nuam in ihrer Rolle und verschafft ihren Landsleuten entscheidende Verhandlungsvorteile.
Am Ende sind alle mit sich im Reinen: Der Vertrag ist in der Tasche, Su Nuams Vater bei seinen Ahnen, sein Mörder bestraft, der Großvater getröstet, Su Nuam stolz und anerkannt auf der Rückreise in ihre Heimat. Für sie ist »die Ordnung der Welt wiederhergestellt«, und sie hat sich selbst gefunden: »Ich bin, wer ich bin.«
Dem Argentinier Federico Jeanmaire, 1957 geboren, ist mit »Tacos altos« , übersetzt von Peter Kultzen, ein außergewöhnlicher, aussagestarker und berührender Roman gelungen. Stilistisch eher unterkühlt und sehr kompakt beschreibt er das Leben in zwei konträren Kulturen, erzählt die Zerrissenheit und Verlorenheit seiner Protagonistin und wie ihr Großvater sie behutsam anleitet, ihre eigene und doch fremde chinesische Kultur kennenzulernen, zu verstehen und anzunehmen. Damit zeigt er ihr den Weg zu sich selbst auf.
Am Ende der kleinen, dichten Erzählung könnte Jeanmaires inzwischen zur Souveränität gewachsene Protagonistin auf den Unterbau ihres Egos durch modische Accessoires locker verzichten. Dass sie sich in London ein schönes Paar Schuhe mit richtig hohen Absätzen kauft, tut sie denn auch aus purer Lust am Leben und mit einem Schuss Selbstironie.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Sommer 2018 aufgenommen.